Aus den Feuilletons

Wer wird wann geimpft?

04:23 Minuten
Eine Spritze wird ins Bild gehalten.
Die "Zeit" beschäftigt sich mit der gerechten Verteilung eines Corona-Vakzins. © picture alliance/Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB
Von Arno Orzessek · 28.10.2020
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Alle warten auf den Corona-Impfstoff. Aber wenn er da ist, wer profitiert zuerst davon? Die "Zeit" sieht eine mögliche Lösung nahen: Vielleicht wollen sich die meisten gar nicht impfen lassen.
Die Wochenzeitung DIE ZEIT wirft zwei schlichte, aber wichtige Fragen auf: "Wer wird geimpft? Und wer nicht?" Denn anfangs, wann immer das sein mag, wird es nicht genug Corona-Impfstoff für alle geben. Nur, wer soll in der Warteschlange an welcher Stelle stehen – und warum?
Die ZEIT-Autorin Elisabeth von Tadden erwähnt das "Fair Priority Model", das Medizin-Ethiker im Fachblatt "Science" vorgestellt haben. "Das Modell benennt ein schlichtes ethisches Kriterium, das allen anderen übergeordnet ist: Das vorzeitige Sterben eines jeden Menschen, weltweit, gilt es zu verhindern. Angesichts der zunächst extremen Knappheit des Impfstoffs müsse man drei fundamentale und gleichrangige Werte abwägen: 'erstens den Schaden zu begrenzen, indem Menschenleben geschützt werden, zweitens den Benachteiligten, die kaum Schutz haben, dabei Vorrang zu geben. Und drittens alle Menschen unabhängig von Faktoren wie zum Beispiel Geschlecht oder Religion als gleich zu betrachten.'"
Da tut sich offenbar eine ethische Zwickmühle auf. Zumindest in Deutschland jedoch könnte es entspannt zugehen – lässt von Tadden durchblicken. "Die Zahl derer, die sich impfen lassen wollen, ist von April bis September klar gesunken. Im Namen der Selbstbestimmung sagt knapp die Hälfte der Deutschen zurzeit lieber Nein. Reicht der Stoff demnächst vielleicht doch für die, die ihn wollen? Wie knapp das kostbare Gut, das es noch gar nicht gibt, wirklich ist, kann niemand wissen.

Sieben Tage die Woche übersetzen

Soweit unser Tribut an die blöde Pandemie. In den schönsten Artikeln des Tages geht‘s um Literatur. Alex Rühle berichtet in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG von seinem Besuch bei Elisabeth Elb, deren Neuübersetzung von Flauberts Jahrhundertroman "L‘Éducation sentimentale" überall bejubelt wurde.
"Acht Jahre. Für eine Übersetzung. Moment, nein, wiegelt sie sofort ab, ‚ich hab ja zwischendurch auch Flauberts ‚Drei Erzählungen‘ gemacht‘. Und einen kleinen Modiano. Aber am Ende, die letzten drei, vier Jahre, das stimmt schon, da gab es nichts anderes, sieben Tage die Woche, jeden Tag bis acht Uhr abends. Elisabeth Edl wirkt nicht asketisch, wenn sie das sagt. Sie hat auch nichts Berserkerhaftes an sich. Eher wundert sie sich, dass man sich wundert. ‚So lange braucht das eben, wenn es gut werden soll.‘"

Kondome in aller Munde

Was guter Stil ist, darüber hat der Schriftsteller und Kritiker Michael Maar ein 650-seitiges Buch geschrieben: "Die Schlange im Wolfspelz". Dem ZEIT-Autor Adam Soboczynski gefällt es:
"Maar lässt natürlich nichts stehen, wie es kommt, er sagt deutlich genug, wenn es nicht gut um den Satz steht, dann nämlich, wenn ‚unbequem‘ als Attribut des Denkers fällt oder aber ‚völlig‘ und ‚vollkommen‘ synonym gebraucht werden. Echte Stilblüten sind dagegen eher amüsant, nicht ärgerlich: ‚Kondome sind in aller Munde‘ hieß es einmal unfreiwillig komisch in der FAZ, wie sich Maar erinnert. Viel schlimmer sind da doch erwartbare und unnütze Adjektive, die Maar selbst in den besten Passagen von Alfred Döblin entdeckt, die ‚fröhlichen Weiden, der warme Stall, das duftende Futter‘."

Affront von Istanbul bis Kairo

Apropos Stil! Der türkische Präsident Erdogan findet eine Karikatur des französischen Satire-Magazins "Charlie Hebdo" absolut unmöglich. Sie zeigt ihn, tüchtig angeschickert, bei der Enthüllung eines nackten weiblichen Hinterns. "Oh, der Prophet", heißt es in der Sprechblase.
Ein krasser Affront für viele Muslime von Istanbul bis Kairo, berichtet die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. "Das jüngste Titelbild von ‚Charlie Hebdo‘ führt zu einer Solidarisierung mit Erdogan weit über diese Kreise hinaus. Murat Yetkin, einer der bekanntesten türkischen Kritiker Erdogans, schrieb auf seiner Website, diese Karikatur habe keinen anderen Zweck, als zu provozieren. ‚Charlie Hebdo‘ habe das Feld der Meinungsfreiheit verlassen, jetzt betreibe das Magazin Provokation. Karikaturen, wie sie zum Markenzeichen von ‚Charlie Hebdo‘ geworden seien, träfen auch gewöhnliche fromme Muslime, säkulare Muslime und jeden, der menschliche Werte respektiere."
Es herrscht also wie immer Zwist unter den Menschen. Falls Sie aber trotzdem jemanden zum Küssen finden, tun Sie es auf jeden Fall – mit einer Überschrift der TAGESZEITUNG – "Ohne Maske."
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