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Irak
Gewalt steht auf der Tagesordnung

Die US-amerikanischen Truppen sind 2011 aus dem Irak abgezogen, beruhigt hat sich das Land seitdem trotzdem nicht. Noch immer ist die Gewalt allgegenwärtig. Hassan Blasim fasst in seinen Kurzgeschichtenband zusammen, wie die irakische Gesellschaft mit der Brutalität umgeht.

Von Jan Kuhlmann | 10.08.2015
    Ein von der IS bombardiertes Viertel in der Nähe von Bagdad.
    Ein von der IS bombardiertes Viertel in der Nähe von Bagdad. (dpa/picture-alliance/Mohammed Jalil)
    Der Irak ist ein geschundenes Land. Ganze Generationen kennen nichts anderes als Kriege, Diktatur, Sanktionen und Gewalt. Die Gesellschaft ist traumatisiert von dem alltäglichen Schrecken. Das spiegelt sich auch in der Literatur des Landes wider. Najem Wali, in Berlin lebender Iraker, ist einer der bekanntesten Chronisten des Niedergangs. Er beschreibt in seinen Romanen schonungslos den Zerfall einer einst kulturell reichen Gesellschaft. Tod, Zerstörung und Schrecken – das ist auch das Sujet des Irakers Hassan Blasim. Der Verrückte vom Freiheitsplatz heißt seine Sammlung von 24 Kurzgeschichten über den Irak und seine Menschen – Erzählungen, die drastischer kaum sein könnten. Exemplarisch für das Trauma des Landes steht die Geschichte eines Mannes, der als Dreijähriger seinen kleinen Bruder tötete, weil er diesen aus Versehen in eine Jauchegrube stieß – Tragik als Beginn eines langen Leidens.
    Kampfplatz Irak
    "Die Katastrophen trafen uns alle zwei Jahre. Aber Vater weigerte sich zu glauben, dass es so etwas wie einen mysteriösen Fluch gibt, den die Zeit einfach so mitbringt. Vielleicht führte er ihn auf das vorherbestimmte Schicksal zurück. Wir wurden von überall her bombardiert – vom Unbekannten, von der Wirklichkeit, von Gott, von den Menschen, ja selbst die Toten bombardierten uns mit Qualen. Mein Vater versuchte auf verschiedene Weisen, mein Verbrechen zu begraben. Doch ohne Erfolg."
    Schon in dieser ersten Geschichte wird klar, dass man in diesem Buch mit keinem Happy End rechnen darf. Blasim stammt aus Bagdad, wo er einst an der Filmhochschule studierte. Mit Mitte 20 flüchtete er vor dem Saddam-Regime in die kurdischen Gebiete im Nordirak. Dort drehte er unter Pseudonym Filme. 2004, im Jahr nach dem Sturz Saddams, emigrierte er nach Finnland, wo er bis heute lebt. Seine Geschichten lassen erahnen, welchen Schrecken er selbst erlebt hat. Mit den Erzählungen, so scheint es, verarbeitet er auch seine eigenen Traumata. Die Gewalt im Irak beschreibt Blasim völlig unverblümt, als wolle er sich und seine Leser einer Schocktherapie unterziehen. So wie in der Geschichte, in der ein Sohn vom Mord an seinem Vater erzählt, einem ehemals regimetreuen Komponisten:
    "Am Ende fanden wir meinen Vater ohne Kopf. Man hatte ihn mit einem soliden Strick an einen Bauerntraktor gebunden. Einen ganzen Tag lang war er durch die Stadt geschleift und danach sein Körper auf eine nicht zu beschreibende Weise zur Schau gestellt worden. Als man uns umbringen wollte, befand sich mein Vater gerade in der Nähe der örtlichen Parteizentrale, in deren Hof sich die Leichen der Parteimitglieder häuften."
    Und das ist noch ein vergleichsweise harmloses Beispiel. Gewalt ist in Blasims Irak so sehr zum alltäglichen Bestandteil des Lebens, zum Selbstverständlichen geworden, dass Mörder ihre Profession nicht nur als Geschäft, sondern als Form der Kunst verstehen. In der Geschichte „Die Leichenschau" gibt ein Auftragskiller einem Mann Anweisungen, wie er seinen – so wörtlich – „ersten Kunden" töten soll – ein schauderhafter dramatischer Höhepunkt des Buches:
    "Jede Leiche, die du richtest, ist ein Kunstwerk, an das du letzte Hand anlegst, damit es in den Trümmern dieses Landes strahle wie ein wertvolles Juwel. Die Präsentation zur Betrachtung durch andere, das ist der schöpferische Höhepunkt, nach dem wir streben, den wir zu studieren und vervollkommnen trachten."
    Gewalt ist Alltag
    Hassan Blasims Vorbild ist Franz Kafka. Und auch bei dem Iraker vermischen sich Realität, Fantasie und Wahn zu Geschichten, die so unwirklich sind wie ein surreales Gemälde. Der ganze Irak, das Leben der Iraker verwandeln sich bei Blasim in einen einzigen Albtraum, der nicht enden will. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion lösen sich auf. So wie in der Geschichte „Ein Lkw nach Berlin". Da sterben Flüchtlinge in einem Lastwagen qualvoll irgendwo in Serbien, weil die Menschenschmuggler fliehen, ohne die Tür zum Frachtraum zu öffnen. Die Leichen sehen aus, als wären sie von wilden Tieren zerfetzt worden. Nur einer überlebt, blutverschmiert – auf seiner Flucht wird er von dem Polizisten Jankowic gesehen.
    "Niemand glaubte Jankowic, dem alten serbischen Polizisten. Man lachte ihn aus. Selbst diejenigen, die bei ihm waren, bestätigten seinen Bericht nicht. Zu Hause im Bett starrt Jankowic an die Decke und sagt zu seiner Frau: 'Ich bin doch nicht verrückt, meine Liebe. Ich sage Dir zum tausendsten Mal: Kaum im Wald, begann der junge Mann, auf allen vieren weiter zu rennen. Und noch bevor er verschwand, war er zum Wolf geworden.' "
    Blasims Geschichten sind auch deshalb so düster, weil es keine Hoffnung auf bessere Zeiten mehr gibt. Selbst wer es ins Ausland schafft, wer sich mit aller Macht gegen den Fluch stemmt, wird ihn nicht los. So wie der Iraker Salim, der in Holland Asyl bekommt. Er nimmt dort den Namen des mexikanischen Schriftstellers Carlos Fuentes an und tut auch ansonsten alles, um aus dem Iraker einen Holländer zu machen. Fast scheint er damit Erfolg zu haben – er fühlt sich, als hätten sich seine Haut und sein Blut endgültig verwandelt, als würden seine Lungen erst jetzt das wahre Leben atmen. Bis ihn eines Tages brutale Träume einholen und ihm klar machen: Er kann sich seiner Identität als Iraker nicht entledigen. Am Ende stürzt er sich eines nachts, von Alpträumen gemartert, aus dem Fenster.
    Bleibende Trauma
    "Als Carlos Fuentes' Frau, vom Lärm geweckt, zum Fenster hinausschaute, sah sie ihren Mann tot auf dem Gehsteig liegen. Die Blutlache um seinen Kopf wurde langsam größer. Vielleicht hätte Carlos Fuentes der holländischen Presse verziehen, die schrieb: 'Ein Iraker', nicht ein holländischer Staatsbürger‚ beging Selbstmord, indem er sich in der Nacht aus dem sechsten Stock stürzte.' Niemals wird Carlos Fuentes jedoch seinen Brüdern verzeihen, die ihn in den Irak überführten, um ihn auf dem Friedhof von Nadschaf zu bestatten."
    So manchen Seitenhieb verteilt Hassan Blasim auch gegen die Länder Europas, die sich mit der Aufnahme von Fremden schwertun, wie er meint. Vor allem aber interessiert er sich dafür, was die Gewalt im Irak aus den Menschen und ihrer Psyche macht. Erklärungen für die Gräuel in dem Land findet man bei ihm dagegen kaum – die Erforschung der Ursachen überlässt er lieber anderen. So bleibt beim Leser am Ende der Eindruck, dass dem Irak nicht mehr zu helfen ist – ein Land, geschunden und jeder Hoffnung auf bessere Zeiten beraubt.
    Hassan Blasim: "Der Verrückte vom Freiheitsplatz und andere Geschichten über den Irak"
    Verlag Antje Kunstmann. München 2015. Übersetzt von Hartmut Fähndrich. 265 Seiten für 19.95 Euro. ISBN 978-3-95614-058-7