Medizin und Ethik des Alleinseins

Einsamkeit ist keine Krankheit

38:41 Minuten
Eine ältere Frau steht am Fenster und blickt in die Ferne, in der Fenterscheibe spiegelnsich Himmel und Bäume.
Ganz bei sich oder von allen verlassen? Einsamkeit ist ambivalent. © Getty Images / Digital Vision / Justin Paget
Raphael Rauh und Jakob Simmank im Gespräch mit Simone Miller · 04.10.2020
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Einsamkeit kann uns von wichtigen Lebensquellen abschneiden. Es gibt aber auch eine schöpferische Seite des Alleinseins. Wie können wir aus Einsamkeit Kraft schöpfen und zugleich verhindern, dass Mitmenschen ungewollt einsam werden?
Als "soziale Epidemie" wird Einsamkeit inzwischen oft bezeichnet – gesundheitsschädlicher als starkes Übergewicht oder Rauchen. Großbritannien hat deshalb sogar das Amt eines "Einsamkeitsbeauftragten" geschaffen. Der Berliner Wissenschaftsjournalist und Mediziner Jakob Simmank beobachtet diese Tendenz allerdings mit großer Skepsis. Er hält es für den falschen Ansatz, Einsamkeit zu einer Krankheit zu erklären und am liebsten ganz beseitigen zu wollen.

Ein vielschichtiges Gefühl

Einsamkeit sei zunächst ein Gefühl, betont Simmank, und zwar eines von großer Vielschichtigkeit. So könne das subjektive Erleben von Einsamkeit schmerzhaft und belastend sein, aber gleichzeitig einen positiven Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung nehmen. In seinem Essay "Einsamkeit. Warum wir aus einem Gefühl keine Krankheit machen sollten" plädiert Simmank deshalb für eine klare Unterscheidung zwischen dieser subjektiven Ebene und einer sozialen Dimension von Einsamkeit, für die konkrete Rahmenbedingen ausfindig gemacht und durch Politik und Gesellschaft auch verändert werden könnten.
Auch der Philosoph Raphael Rauh versteht Einsamkeit zunächst als anthropologische Konstante: ein Gefühl, das von Menschen zu allen Zeiten erlebt wurde und eine wichtige Rolle spielte bei dem Versuch, "sich selbst zu definieren in Religion, in Kunst und Philosophie". Am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Freiburg hat Rauh sich intensiv mit dem Phänomen Einsamkeit befasst. Die häufig vorgebrachte Behauptung, der Mensch sei "ein Gesellschaftstier" und Einsamkeit daher grundsätzlich schlecht, greife zu kurz.

Befreit vom Blick der anderen

Philosophie und Kunst kennen seit Langem auch positive Potenziale der Einsamkeit, so Rauh. Besonders prägnant habe Friedrich Nietzsche die Momente einer bewusst gewählten Einsamkeit "als einen Raum der Selbstvertiefung, Selbstbesinnung und Selbstvergrößerung" beschrieben. Heute suchten viele Menschen dieses Erlebnis in Begegnungen mit der Natur, wie sie der amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau mit großer Intensität geschildert habe, sagt Rauh:
"Da gibt es diesen wunderbaren Satz: ‚Dies ist ein köstlicher Abend, an dem der ganze Körper Sinn ist und durch jede Pore Wonne einsaugt‘ – der Inbegriff einer heiteren Einsamkeit, die sich über ein Naturerlebnis einstellt: Man löst sich aus den gesellschaftlichen Banden, aus den Feststellungen, die durch andere in einen hineinwirken, und kann sich auf sich einlassen."
Porträt des Autors Jakob Simmank, im grau gestreiften Pullover vor einem dunklen Hintergrund
Soziale Brücken stärken: der Mediziner und Wissenschaftsjournalist Jakob Simmank© Zeit Online / Michael Heck
Psychologisch betrachtet, befreie uns eine solche Selbsterfahrung von einem Phänomen namens "Intrusive Consciousness", sagt Jakob Simmank: Der Zustand, "dass ich mich, wenn ich mit anderen bin, immer auch von außen betrachte", werde vorübergehend aufgehoben. "Wenn ich ins Alleinsein gehe, dann fehlt quasi der Blick eines anderen", erklärt Simmank. "Ich kann Seiten an mir ausprobieren, die ich vielleicht vorher nicht kannte. Ich kann, wenn ich in einer Galerie bin und ein Bild betrachte, dieses Bild vielleicht noch unmittelbarer wahrnehmen, und aus all dem schöpfe ich letztlich. Wenn ich die ganze Zeit in Gesellschaft bin, dann habe ich das nicht."

Entfremdung und Emanzipation im Kapitalismus

Und wie steht es um die Zeitdiagnose, dass Menschen gerade in modernen Gesellschaften besonders gefährdet seien, in Einsamkeit und soziale Isolation abzurutschen? Ein kapitalismuskritischer Argumentationsstrang der Philosophiegeschichte, der von Marx über Durkheim, Adorno und Horkheimer bis zu heutigen Stimmen der Kritischen Theorie reicht, legt nahe, dass wir unter dem Leistungs- und Verwertungsimperativ der Ökonomie in ein entfremdetes und letztlich einsames Verhältnis zu den Dingen und Menschen geraten, die uns umgeben und mit denen wir arbeiten.
Mit verlässlichen Zahlen sei die Annahme kaum zu belegen, dass die Einsamkeit in der Gesellschaft unter kapitalistischen Vorzeichen zugenommen hätte, sagt Jakob Simmank. Aus seiner Sicht spreche manches dafür, dass die Liberalisierung, die mit dem Kapitalismus einhergegangen sei, auch neue Chancen eröffnet habe, "sich aus der Einsamkeit zu befreien": Menschen, die zuvor in sehr strikte soziale Normen eingebunden gewesen seien, hätten im Zuge dieser Entwicklung neue persönliche Freiheiten erlangt. "Ich glaube, das ist dialektisch", folgert Simmank.
Porträt des Philosophen Raphael Rauh, im dunklen Sakko, in einem begrünten Innenhof
Zu wenige Inseln der Muße: der Philosoph und Medizinethiker Raphael Rauh© privat
Für Raphael Rauh liegt jedoch auf der Hand, dass moderne Gesellschaften spezifische neue Formen der Einsamkeit mit sich bringen. Beschleunigung und Effizienzsteigerung führten dazu, "dass Inseln der Muße, der Begegnung, der Zwischenmenschlichkeit zu kurz kommen", so Rauh. Es sei ein typisches Phänomen unserer Gegenwart, "dass wir keine Zeit füreinander haben und eingespannt sind in Leistungsimperative, die uns von einer vulnerablen, weicheren Seite in uns selbst entfremden, die wir nicht zulassen oder zumindest nicht adäquat würdigen."

Fürsorgearbeit besser honorieren

Dass die Lebensumstände von Menschen einen Einfluss darauf haben, mit welchem Risiko sie sozial vereinsamen, davon ist auch Simmank überzeugt. Für Deutschland wiesen entsprechende Statistiken für zwei Gruppen auf ein besonderes Risiko hin. Einerseits litten jüngere Menschen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren überdurchschnittlich häufig unter einem Mangel an sozialen Bindungen. Die zweite Gruppe bildeten Menschen im hohen Alter, und das umso mehr, wenn sie zugleich von Armut betroffen seien.
"Da haben wir eine handfeste soziale Frage", sagt Simmank. Er sieht Politik und Gesellschaft in der Pflicht und fordert zwei zentrale Maßnahmen, um insbesondere die Lage alter und pflegebedürftiger Menschen zu verbessern. Erstens sollte die Arbeit von Pflegekräften aufgewertet und besser honoriert werden, so Simmank:
"Diese Menschen sind oftmals sehr prekär in unserer Gesellschaft. Aber sie sind eigentlich die Brücke, die sozial Isolierte in den Rest der Gesellschaft haben. Und wenn wir diese Pflegenden überfordern, wenn wir sie in die Armut abrutschen lassen, was momentan passiert, dann geht diese Brücke kaputt."

Weniger Arbeit, mehr Zeit für Gemeinschaft

Zum Zweiten plädiert Simmank für eine generelle Reduzierung der Lohnarbeitszeit. Von dieser Maßnahme erhofft er sich, dass viele Menschen einen Teil der so gewonnenen Freizeit nutzen würden, um soziale Netze zu pflegen, eine Tätigkeit, für die heute kaum noch Zeit bleibe:
"Der Politikwissenschaftler Robert Putnam hat in seinem bekannten Buch ‚Bowling Alone‘ gezeigt, wie beispielsweise Frauen, als sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Erwerbsarbeit gegangen sind, plötzlich weniger Zeit hatten, sich in Vereinen zu engagieren, in Kirchengemeinden und so weiter, und wie bei all dem natürlich das soziale Netz schwächer wird. Das ist jetzt keine Gegenrede gegen die Emanzipation, aber es ist erst mal der Befund, dass Menschen, wenn sie mehr arbeiten, auch weniger Zeit haben, soziale Netze zu pflegen. Und dann passiert weniger Teilhabe."
In ihrer sozialen Dimension verlange Einsamkeit nach wohl überlegten Antworten auf aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen, sagt Simmank. Mit Blick auf die zweite Welle der Coronapandemie fügt er hinzu: "Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir Fehler, wie sie im März stattgefunden haben, nicht wiederholen."

Infektionsschutz darf nicht der alleinige Maßstab sein

Gerade im Umgang mit alten und pflegebedürftigen Menschen sei über die Sorge um den Infektionsschutz zu Beginn der Pandemie aus dem Blick geraten, "dass diese Menschen auch autonom sind und auch selbst entscheiden müssen, was sie an sozialem Kontakt wollen bei welchem Risiko."
In den nächsten Monaten werde es darum gehen, möglichst viel Schutz zu gewährleisten, ohne die Betroffenen zu bevormunden: "Wir müssen diese Menschen auch in ihrer Selbstentfaltung wahrnehmen. Wichtig ist, dass wir sie nicht, ohne mit ihnen zu sprechen, wegsperren."
(fka)

Jakob Simmank: "Einsamkeit. Warum wir aus einem Gefühl keine Krankheit machen sollten."
Atrium Verlag, Zürich 2020
ca. 80 Seiten, 9 Euro

Raphael Benjamin Rauh: "Modulationen der Einsamkeit. Theorien der Ausnahme als Moralkritik bei Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche"
Karl Alber Verlag, Freiburg 2016
440 Seiten, ca. 65 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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