Donnerstag, 25. April 2024

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Keine russische Flagge auf dem Brandenburger Tor
"Es gibt nicht den Duden für ein staatliches Trauersymbol"

Die Entscheidung, nach dem Anschlag in St. Petersburg keine russische Flagge auf das Brandenburger Tor zu projizieren, sorgte vielerorts für Empörung. Der Philosoph Lambert Wiesing nennt das "Interpretationsschwierigkeiten" - schließlich sei die Projektion der Flagge ein neues Symbol, sagte er im DLF. Es gebe keine Regeln dafür.

Lambert Wiesing im Gespräch mit Maja Ellmenreich | 05.04.2017
    Im Licht der aufgehenden Sonne ist am 02.04.2017 in Berlin das Brandenburger Tor nur als Silhouette zu erkennen.
    Keine Projektion der russischen Flagge auf dem Brandenburger Tor - das brachte den Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums Matthias Platzeck bei einem Besuch in St. Petersburg in Erklärungsnot. (dpa / Paul Zinken)
    Maja Ellmenreich: Der Union Jack in Gedenken für die Toten und Verletzten des Anschlags im Londoner Regierungsviertel – und "bleu, blanc, rouge" nach den Terroranschlägen in Paris vor anderthalb Jahren. Aber: Keine russische Flagge auf dem Brandenburger Tor nach dem jüngsten Anschlag in der U-Bahn von St. Petersburg? Matthias Platzeck, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, der gerade in St. Petersburg war, er berichtete heute Früh im Deutschlandfunk, dass ihn das bei seinem Besuch in Erklärungsnot gebracht habe:
    "Es war dort in Russland, vorsichtig formuliert, sehr, sehr schwer zu erklären, weil da kam wieder dieses Gefühl auf: Sind denn Opfer, sind denn Tote, wenn es unsere sind, bei Euch nicht so viel wert. Das ist eine schwierige Debatte gewesen in den Stunden und den Tagen nach dem Anschlag."
    Eine schwierige Debatte, so Matthias Platzeck, doch der Berliner Senat bleibt bei seiner Entscheidung: Die Beleuchtung des Brandenburger Tores sei nicht der einzige Weg, Kondolenz und Trauer auszudrücken, sagte eine Senatssprecherin.
    Ich habe heute Nachmittag mit dem Philosophen Lambert Wiesing gesprochen. Er hat an der Universität Jena den Lehrstuhl für Bildtheorie und Phänomenologie inne. Versuchen wir vielleicht zu Beginn erst einmal eine Definition: Womit haben wir es Ihrer Meinung nach eigentlich zu tun, wenn Landesflaggen als Zeichen der Solidarität auf das Brandenburger Tor projiziert werden? Ist das eine kollektive Geste? Ein Symbol? Oder bloß ein Bild?
    Ein konventionelles Symbol, aber kein Bild
    Lambert Wiesing: Ich glaube, das ist erst mal ganz eindeutig ein Symbol und ein Symbol in dem Sinne, dass es eine konventionelle Bedeutung hat. Das versteht man nicht von selbst. Das ist jetzt nicht ein Bild, auf dem man etwas erkennen kann, sondern man muss die Regel dafür wissen. Man muss zum Beispiel wissen, dass das jetzt nicht einfach nur ein designerischer Gag ist, sondern man muss erst mal wissen, dass die Farben für eine Fahne, für eine Flagge stehen, dass diese Flagge wiederum für eine Nation steht, und man muss auch den Grund wissen, wer wann warum dieses dorthin projiziert.
    Ellmenreich: Aber viele wissen das ja offensichtlich und laden dann sofort dieses Bild mit Bedeutung auf. Insbesondere verknüpfen viele es gleich mit einer politischen Aussage.
    Wiesing: Ja. Das ist auch teilweise jedenfalls richtig. Das Problem ist hierin, dass wir es ja nicht mit einem sehr tradierten Symbol zu tun haben, wo man zum Beispiel im Duden nachschauen könnte, was bedeutet das. Es ist ein Symbol, was eingeführt worden ist und wo vielleicht auch noch nicht ganz genau die Regel feststeht, wann es wie verwendet werden soll, und deshalb gibt es da einen Interpretationsspielraum und der führt zu Schwierigkeiten. Und man kann gut, ich kann jedenfalls die Meinung von Herrn Platzeck sehr gut verstehen, dass das dann auch in so einer Situation zu Interpretationsschwierigkeiten führt.
    Ellmenreich: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte, sagt der Volksmund. Birgt so ein Bild viel mehr Gefahr des Missverständnisses als vielleicht tausend Worte, bei denen man doch vielleicht schnell auch mal so ein Missverständnis aus dem Weg schaffen kann?
    Wiesing: Erst mal würde ich sagen, es ist ja kein Bild, was wir da haben. Es ist ein ganz konventionelles Symbol. Ein Bild wäre etwas, wo man etwa einen Gegenstand drauf sehen kann, von dem wir dann behaupten als Betrachter, der ist dort nicht anwesend. Ein Bild des Brandenburger Tores kann man sich vorstellen auf jeder Postkarte und man sieht es, und es ist aber nicht da, wo ich hinschaue. Mit einem Bild hat das eigentlich nichts zu tun und wir sollten dann, wenn wir es beschreiben, auch, meine ich, nicht von Bildern sprechen. Es ist ein konventionelles Symbol. Das heißt, wir müssen dafür die Regel wissen, und das Problem bei diesem Symbol ist sicher, dass die Regel erst relativ kurz besteht und wir auch nicht so etwas wie eine kodifizierte Regel haben. Es gibt nicht den Duden für wie muss ein Trauersymbol, wie muss ein Symbol der Anteilnahme staatlich verwendet werden, und deshalb ist das ein Symbol, was in der Entscheidungsmacht in diesem Fall des Senats besteht. Und mit dieser Entscheidung kann man zufrieden und nicht zufrieden sein.
    "Wer die Macht besitzt, dort eine Projektion zu installieren"
    Ellmenreich: Das Symbol ist noch relativ jung, sagen Sie. Aber nun ist leider davon auszugehen, dass noch weitere Terroranschläge auf dieser Welt folgen werden. Erschöpft sich vielleicht solch ein Symbol auch eines Tages, wenn immer wieder Flaggen auf solchen nationalen Denkmälern abgebildet werden? Denn es ist ja nicht nur das Brandenburger Tor; es ist ja auch der Eiffelturm in Paris oder die Spitze des One World Trade Center in New York.
    Wiesing: Ja. Ich glaube, das ist definitiv so. Das hat allerdings, glaube ich, wenig mit diesem einen Symbol zu tun. Natürlich erschöpfen sich Symbole. Allerdings sollte man dann auch sehen, dass wir sehr viele Betrachter haben, dass das Symbol von sehr vielen Leuten wahrgenommen wird, und da wird die Erschöpfung unterschiedlich sein, sicherlich auch je nach Situation. Ich kann mir vorstellen, dass jemand, der irgendwie betroffen ist von dem Ereignis, was dort symbolisiert wird, es nicht als Erschöpfung empfindet. Hingegen andere, die es nur aus Distanz wahrnehmen, schon eher. Aber da gibt es unterschiedliche Formen der Erschöpfung. Aber bei unterschiedlichen Personen wird die Erschöpfung unterschiedlich sein.
    Ellmenreich: Welche Rolle spielt denn eigentlich diese Projektionsfläche, nenne ich sie mal? Wie ich gerade schon aufgezählt habe: Brandenburger Tor, Eiffelturm, One World Trade Center. Da werden ja Wahrzeichen zu nationalen Aussagen auf einmal "aufgerüstet". Da werden ja vielleicht sogar Aussagen der jeweiligen Regierung zugeschrieben.
    Wiesing: Ja. Das liegt aber, glaube ich, weniger daran, um welche Gebäude es sich handelt, sondern wer die Möglichkeit, sprich ganz konkret die Macht besitzt, dort eine Projektion zu installieren und dafür zu sorgen, dass sie dort vorhanden ist. Wäre die Projektion auf irgendeinem x-beliebigen Gebäude, zum Beispiel auf einem Privatgebäude, könnte das ja jeder in seinem Garten auf seiner Hauswand machen. Die Bedeutung erhält dieses Symbol, dass wir wissen, dass wenn dort etwas projiziert ist, in diesem Fall der Senat von Berlin dahinter steht.
    Ellmenreich: Lambert Wiesing, Professor für Bildtheorie und Phänomenologie an der Universität Jena – haben Sie vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.