Gunnar Decker: "Zwischen den Zeiten"

Ein neuer Blick auf die Literatur der späten DDR-Jahre

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Cover des Buches "Zwischen den Zeiten" von Gunnar Decker
"Zwischen den Zeiten" ist eine Art Biografie wichtiger DDR-Bücher aus der Zeit von 1976 bis 1989. © Aufbau Verlag / Deutschlandradio
Von Hans von Trotha · 05.11.2020
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Das Buch von Gunnar Decker erzählt die Spätphase der DDR als Geschichte ihrer damaligen Literatur. Dadurch möchte der Autor den "westlichen Siegerblick" korrigieren und zeigen, dass der Emanzipationsprozess in der DDR lange vor 1989 begann.
30 Jahre nach der deutschen Einheit sind diejenigen, die die Vorwende- und Wendezeit als junge Menschen erlebt haben, in einem Alter, in dem man sich erinnert, sich seiner vielleicht noch einmal selbst vergewissert, einiges vor dem Vergessen bewahren, anderes geraderücken will.
Eine Art Flashback in die Vorwendezeit im eingemauerten Westen Berlins bietet gerade "Aufprall" von Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland, ein notdürftig als Roman camoufliertes Erinnerungsbuch voller Details aus einer sonderbaren Zeit.

Literatur als Überlebensmittel

Stoff für einen Roman böte auch die Geschichte, die Gunnar Decker erzählt. Es wäre ein Roman über das Entstehen, Verhindern, Verstehen, Vergessen und Wiederentdecken von Büchern, und zwar von solchen, die auf der anderen Seite der Mauer geschrieben wurden.
Anders als es der Untertitel insinuiert, ist "Zwischen den Zeiten" keine Geschichte der späten DDR, sondern vielmehr so etwas wie die Biografie wichtiger Bücher aus der Zeit von 1976, dem Jahr der Biermann-Ausbürgerung, bis 1990, dem Ende einer DDR-Literatur und dem Anfang von deren Aufarbeitung als literarischem aber auch gesellschaftlichem und politischem Phänomen.
Literatur ist immer Teil der Gesellschaft, oft Teil der Politik, in der DDR war sie beides in besonderem Maß. "Kunst", schreibt Gunnar Decker, "war in der DDR nicht allein Lebens- sondern Überlebensmittel." Autorinnen und Autoren hatten großes Selbstbewusstsein – "kein Wunder, ihre Stellung in der DDR-Gesellschaft ist königgleich".

Schriftsteller der DDR neu bewertet

Entsprechend ergiebig ist die erneute Lektüre 30, 40 oder auch 50 Jahre alter Bücher im Spiegel ihrer Entstehungs- und Rezeptionsgeschichten, in die immer wieder die Einflüsse des mächtigen Bruderstaats UdSSR hineinspielen. Vieles erschließt sich, so erzählt, auch Leserinnen und Lesern, die auf der anderen Mauerseite literarisch und politisch sozialisiert wurden: warum die Ausbürgerung Wolf Biermanns den Anfang vom Ende der DDR einläutete zum Beispiel – oder die Bedeutung der Romantik als vermeintlich apolitischer Bewegung und somit hochpolitischem Thema für Literatur in einem sozialistischen Staat.
Das alles ist in seiner Erzählung subjektiv, wie Lektüren immer subjektiv sind. Vor allem aber will Gunnar Decker etwas klarstellen, das macht er immer wieder deutlich. "Dem westlichen Siegerblick nach 1990", schreibt er etwa, "der die Geschichte der Ostdeutschen bis heute dominiert, entgeht zumeist (ein) Emanzipationsprozess, der lange vor 1989 einsetzte. Umso mehr scheint hier eine Korrektur nötig: die Aneignung der eigenen – höchst widersprüchlichen – Geschichte durch die Akteure dieser Geschichte." Und denen – namentlich Stefan Heym, Christa Wolf, Stephan Hermlin – soll Gerechtigkeit widerfahren.
Das wiederum ist gar nicht so einfach, wenn die Erzählstimme selbst Partei ist. Dass sie es ist, macht das Buch spannend und lesenswert, unterscheidet es aber von einer (Literatur-)Geschichte, die sich ihrem Sujet objektiv und von außen nähern müsste. Womit wir wieder beim Roman wären, dem schillernden Roman von der DDR-Literatur, von dem wir einige der wichtigsten Kapitel hier lesen können.

Gunnar Decker: "Zwischen den Zeiten. Die späten Jahre der DDR"
Aufbau Verlag, Berlin 2020
432 Seiten, 28 Euro

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