Samstag, 20. April 2024

Archiv


Iran nach der Wahl

Rund 48 Millionen Iraner waren am Freitag zu Parlamentswahlen aufgerufen - eine echte Wahl hatten sie nicht: Die Geistlichen hatten nur ihnen genehme Kandidaten zugelassen. Also war die Wahlenthaltung die einzige Möglichkeit des Protestes gegen das klerikale Establishment.

Von Reinhard Baumgarten | 03.03.2012
    Männer in vorwiegend dunkler Kleidung, die meisten jenseits der 50. Vor der Al-Nabi Moschee im Teheraner Stadtteil Narmak stehen sie Schlange, um ihre Stimme abzugeben. Dann sehen sie das blaue Mikrophon des offensichtlich ausländischen Reporters.

    "Marg bar amrika" – Tod für Amerika, Tod für Israel, Tod für die Feinde der Islamischen Republik. Es klingt müde, es klingt wie ein alter Reflex. Ein Mann Mitte 60 löst sich aus der Schlange und erklärt, alle Menschen seien Brüder, alle Völker sollten befreundet sein. Die Parolen richteten sich nicht gegen die Menschen, sondern gegen Politiker und deren ruchlose Haltung.

    Wahltag im Iran. Rund 48 Millionen Menschen waren aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Einer der ersten um kurz nach acht war der erste Mann im Staate: Ayatollah Ali Khamenei.

    "Mein Rat ist der übliche Rat: Ich glaube, es ist unsere Pflicht zu wählen und es ist ein Recht, das uns zusteht. Wir sollten dieses Recht und diese Pflicht wahrnehmen."

    Rund 3400 Kandidaten bewerben sich um 290 Sitze. Welche Qualitäten sollte ein Volksvertreter in der Islamischen Republik haben. Stimmen aus einem Wahllokal im Zentrum Teherans, einem von zwölf, in dem ausländische Journalisten nach Belieben fragen durften.

    "Treue zur Islamischen Republik ist das wichtigste Merkmal aus meiner Sicht. Dem Volk muss er dienen und er muss auf einer Linie mit dem Führer - dem Velayate Faqih Ali Khamenei sein."

    "Die wichtigsten Merkmale für mich sind Treue zu den Grundwerten des Islams und zu den Idealen der Islamischen Revolution, die von Imam Khomeini bestimmt worden sind. Ich hoffe, die Kandidaten, die ich gewählt habe, werden entsprechend arbeiten."

    Piruzi – ein Stadtteil im Süden Teherans. Arbeiter leben hier, einfache Leute, Men¬schen, die auf Hilfe durch den Staat angewiesen sind.

    Sein Beruf ist Bäcker, seinen Namen und sein Alter möchte er nicht nennen. Es sei letztlich egal, wer gewählt werde, sagt er. Wichtig sei doch nur, dass man wählen gehe. Aber, fügt er vielsagend hinzu, es wird mir auch nichts passieren, wenn ich nicht wähle. Einer seiner Kunden wird deutlicher. Er heiße Mohsen, er sei 46 und habe 32 Monate im Krieg gegen den Irak an der Front gedient. Es gehe ihm schlecht. Das Leben werde jeden Tag schwieriger, klagt er. Für ihn gebe es keinen Grund, wählen zu gehen.

    "Ich habe gestern zwei Wassermelonen gekauft für umgerechnet 9 Euro. Sie geben uns 25 Euro im Monat, aber die Preise steigen dauernd. Das sind die Gründe, warum ich nicht wählen gehe. Und ich glaube, wenn diese Inflation weiter steigt, wird es richtig kritisch, viel schlimmer noch als jetzt."

    Offiziell beträgt die Inflation 21 Prozent. Auf die Regierung und das Parlament wartet viel Arbeit. Oder doch nicht? Es gebe keine Krise in der Islamischen Republik, sagt deren Oberster Führer Ayatollah Ali Khamenei.

    "Kleine Probleme dürfen nicht künstlich aufgeblasen werden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, es gäbe eine Krise. Sie versuchen doch mit allen Mitteln den Eindruck zu erwecken, hier im Land herrsche eine Krise. Wovon reden die? Wo ist denn diese Krise? Das ist ein ruhiges Land mit starken und fröhlichen Menschen. Die Regierung und die Menschen sind sehr rege hier. Hier herrscht eine beispielhafte Sicherheit und alles wird noch besser werden. Der Feind möchte das einfach nicht wahrhaben."

    Der Feind, das sind Amerika, Israel, Großbritannien und viele andere. Gegen diesen Feind hilft - eine hohe Wahlbeteiligung. Die Parlamentswahl, so Ayatollah Ali Khamenei, sei nicht nur eine religiöse und nationale Pflicht. Sie sei nicht nur Ausdruck der demokratischen Reife des iranischen Volkes.

    "Die Wahlen, meine lieben Brüder und Schwestern, meine liebe Bürger, sie gewähren dem Land Schutz. Die Wahlen verleihen diesem Land Glaubwürdigkeit und schaffen Respekt. Die Feinde werden durch den Auftritt der Massen abgeschreckt. Die Wahlen bieten dazu eine gute Gelegenheit."

    Wie hoch die Glaubwürdigkeit der Wahlen ist und wie sehr sich mutmaßliche Feinde in ihren Entscheidungen davon beeindrucken lassen, ist völlig offen. Reformer und Oppositionelle standen nicht zur Wahl. Sie hatten zum Boykott aufgerufen. Die Öffnungszeit für die Wahllokale war mehrfach um einige Stunden verlängert worden. Offiziell wurde das mit dem großen Andrang begründet. Nachrichtenagenturen zitieren hingegen Augenzeugen in Teheran, die keine langen Schlangen vor Wahllokalen gesehen haben wollen.

    Die halbamtliche Nachrichtenagentur Fars spricht von mehr als 60 Prozent Wahlbeteiligung. Im Vorfeld der Wahlen war klar, dass die Führung des Landes alles tun werde, um eine möglichst hohe Zahl für die Wahlbeteiligung zu bekommen. Über die Aussagekraft der Wahlergebnisse gehen die Meinungen weit auseinander. Für die Führung sind sie Bestätigung ihrer Atom-, Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik. Für die Opposition sind sie Muster ohne Wert. Der Politikwissenschaftler Sadegh Zibakalam von der Uni Teheran könnte sich einen anderen Ausgang von Wahlen unter Beteiligung aller politischen Kräfte des Landes vorstellen.

    "Sollten heute im Iran freie Wahlen stattfinden, dann würde ein großer Teil der Bevölkerung mit höherer Bildung säkulare Parteien wählen. Genau das Gegenteil dessen, wir in den arabischen und islamischen Ländern heute beobachten."

    Jährlich verlassen rund 250.000 Iraner ihr Land. Das ist ein schmerzhafter brain drain, denn die meisten haben eine höhere Bildung.