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Iran
Süchtig in Teheran - unterwegs mit der Drogenhilfe

Jeden Dienstag Abend verteilt die NGO "Toloo bi-neshanha" 2.000 Portionen Reis in Teheran - an Obdachlose und Süchtige. Denn die Drogen sind eines der größten Probleme Irans und betreffen alle Schichten der Gesellschaft. Die Regierung tut viel, steht aber wegen der Todesstrafe für Drogendelikte in der Kritik. Doch daran könnte sich bald etwas ändern.

Von Jörg-Christian Schillmöller | 16.06.2016
    Sie sehen eine Stadtautobahn in Teheran im Regen, drei Menschen stehen dort, und ein Auto.
    Nachts auf der Stadtautobahn von Teheran - die Drogenhilfe verteilt gleich warmen Reis an Süchtige. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Ein rechteckiger Innenhof im Südwesten von Teheran. Es ist neun Uhr abends, und es riecht nach gekochtem Reis. 20 Frauen und Männer stehen an zwei langen Tischen und verpacken warmes Essen. Es ist Fließbandarbeit, humanitäre Hilfe im Akkord und bestens organisiert.
    Ganz vorne in der Kette stellt ein Mann Styroporschachteln auf den Tisch. Der nächste gibt eine Kelle Reis in die Schachtel - aus einem Metallkessel von mehr als einem Meter Durchmesser. Danach eine Kelle Gheyme, das ist heißer Eintopf mit Tomate und Fleisch. Am nächsten Tisch stehen sechs, sieben Frauen: Sie schieben die Schachteln in Plastiktüten und dann acht Schachteln in eine große Tüte. Der Stapel am Eingang wächst. Es werden bald 2.000 Portionen sein.
    Zwei bis vier Prozent der Bevölkerung im Iran sind süchtig
    Toloo bi-neshanha bedeutet "Der Aufstieg der Namenlosen". Toloo ist eine Nicht-Regierungsorganisation, die von Spenden lebt. Ehrenamtliche Helfer und ehemalige Drogensüchtige kümmern sich um Menschen in Teheran - vor allem um Obdachlose, von denen die meisten auch süchtig sind. Mindestens 1,5 Millionen Iraner sollen abhängig sein, vielleicht sogar drei Millionen - die Zahlen sind nicht eindeutig, aber betroffen sind alle Schichten. Bei etwa 77 Millionen Iranern macht das zwei bis vier Prozent der Bevölkerung.
    Sie sehen einen Innenhof und mehrere Reiskessel.
    Ein Blick in den Innenhof: Es ist warm hier, und es riecht nach gekochtem Reis. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Es wird ein langer Abend in Teheran, wir werden bis zwei Uhr früh unterwegs sein. Toloo bi-neshanha verteilt nicht nur Essen. Die NGO versteht sich als Gemeinschaft, als Familie, und das ist nicht rührselig gemeint. Drogenabhängige verlieren oft den Kontakt zu ihrer leiblichen Familie, sie werden ausgegrenzt und geächtet. Im Iran trifft das besonders die Frauen. Toloo kümmert sich um alle Abhängigen - auch um Kinder und Jugendliche.
    Ich setze mich zu Daniel an einen Tisch. Er ist um die 30, trägt ein pinkfarbenes T-Shirt, und lacht viel. Daniel ist seit 3 Jahren und 18 Tagen clean. Alle hier wissen auf den Tag genau, wann sie aufgehört haben.
    "Mein Problem ist nicht das Essen."
    Ich war elf Jahre lang süchtig und ein Jahr lang obdachlos, sagt Daniel. Ich frage ihn, was der Grund war, und er antwortet: Es gab in meinem Leben einen Mangel. Es fehlte an allem, und ich fing mit den Drogen an. Irgendwann verlor ich meine Wohnung und schlief auf Kartons. Was hast Du genommen?, frage ich. Alles, was Du Dir vorstellen kannst, sagt er. Und dann kam Toloo.
    "Sie haben mir zu essen gebracht, genau wie heute Abend, und ich hab gesagt: Mein Problem ist nicht das Essen. Ich brauche einen Platz und die Voraussetzungen dafür, dass ich mich ändern kann. Und sie meinten: Wir können dir helfen."
    Sie sehen große Reiskessel und davor einen Mann mit Kopfhörern und Mikrofon in der Hand.
    Im Innenhof der NGO klappern die Schüssel und Kessel. Der Reis wird über Stunden warmgehalten. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Wenn es um Drogen geht, unterscheidet sich die Situation im Iran erheblich von der in Europa - gesetzlich, gesellschaftlich, geographisch. Der Iran hat eine mehr als 900 Kilometer lange Grenze zu Afghanistan und ist eines der wichtigsten Transitländer für Opium und Heroin. Afghanistan, Iran, Türkei, Europa: Die Route heißt "Balkanroute", wie bei den Flüchtlingen.
    Die iranische Regierung ist sich der Lage bewusst, die Behörden und die Justiz greifen nicht nur an der Grenze kompromisslos gegen Schmuggler durch und beschreiben ihren Kampf gegen den Drogenhandel als wirkungsvoll. 3.700 Polizisten sollen seit der Islamischen Revolution 1979 im Kampf gegen die organisierte Kriminalität getötet worden sein. Das kann jeder auf der Internetseite der obersten iranischen Drogenkontrollbehörde nachlesen.
    Die Hilfe hat auch eine religiöse Ebene
    Der Abend bei Toloo, der iranischen NGO für Drogensüchtige und Obdachlose, beginnt mit einem Ritual. Die Helfer stehen neben den Reiskesseln im Kreis und halten sich an den Händen. Ich zähle 40, 50 Personen. Einer von ihnen ist Akbar Rajabi, dichtes schwarzes Haar, gekleidet in Brauntönen, emotionaler Mensch. Er hat Toloo vor zehn Jahren gegründet und hält die Gemeinschaft zusammen. Für Akbar Rajabi hat die Hilfe für Bedürftige auch eine religiöse Ebene. Er spricht von Gott und vom Imam Hussein, der den Schiiten heilig ist. Mehrfach an diesem Abend beten die Helfer zusammen, und das wirkt nicht gezwungen. Es ist Teil des Rituals.
    Ich setze mich draußen mit Akbar auf eine Mauer. Ein Mann kommt auf ihn zu. Salaam, wie geht es, die beiden umarmen sich und streichen sich ein paar Mal über den Rücken. Wir reden kurz, dann läuft ein Mädchen auf uns zu: Hallo, Onkel Akbar. Akbar Rajabi schaut mich an und sagt: Darum mache ich das.
    "Heute laufen sie wieder 90 Minuten."
    "In unseren Häusern sind zur Zeit 300 Leute in unserer Obhut, im Jahr kümmern wir uns um 1.000 Menschen, die ihre Sucht loswerden, und wir haben auch ein Fußballteam von Obdachlosen, das ist die erste Mannschaft überhaupt von Süchtigen, die früher auch obdachlos waren." Und, sind die gut? "Heute laufen sie wieder 90 Minuten."
    Toloo bi-neshanha bekommt kein Geld vom Staat. Die Stadtverwaltung von Teheran stellt nur die Häuser, in denen Toloo all jene betreut, die neu anfangen wollen. Den Rest zahlt Toloo selbst, zum Beispiel die 2.000 Portionen Reis jeden Dienstagabend.
    "Wenn wir Geld brauchen, dann fragen wir die Menschen, und sie bringen uns Geld. Darum ist es gut, dass ich mich auch in einer Welt des Reichtums bewege, in der die Leute viel zu geben haben."
    Sie sehen Männer und Frauen, die warmes Essen einpacken.
    Männer und Frauen verpacken gemeinsam das Essen für die Obdachlosen und Süchtigen im Süden Teherans. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Dem Iran ist in der Drogenbekämpfung die Zusammenarbeit mit dem Ausland und den Vereinten Nationen wichtig. Immer wieder appelliert die Regierung, man möge das Land stärker unterstützen. Seit Jahren arbeitet der Iran mit der UNO-Drogenbehörde UNODC zusammen, und die lobt auf ihrer Homepage ausdrücklich das Engagement des Landes.
    "Der Iran hat über die Jahre eine der wirksamsten Anti-Drogen-Kampagnen in der Region aufgebaut. Das Land investiert jedes Jahr Millionen Dollar in die Kontrolle der Grenzen zu Afghanistan und Pakistan und den Bau von Sperranlagen. Das Landesbüro der UNO-Drogenbehörde hat die nationale Drogenbekämpfung und die Grenzsicherung mit vielen - auch internationalen - Initiativen unterstützt."
    Rund zwei Drittel der Hinrichtungen gehen auf Drogendelikte zurück
    Doch die UNO steht wegen genau dieser Unterstützung in der Kritik, besonders bei Menschenrechtlern. Auch viele Staaten zögern, dem Iran zu helfen. Der Grund ist die Todesstrafe. Es gibt 17 Drogendelikte im iranischen Betäubungsmittelgesetz, die mit dem Tod bestraft werden können, schon der Besitz fällt darunter. Unter bestimmten Bedingungen reichen fünf Kilogramm Opium oder 30 Gramm Heroin. Gemessen an der Einwohnerzahl richtet kein Land auf der Welt so viele Menschen hin wie der Iran.
    Menschenrechtler berichten von knapp 1.000 Exekutionen im vergangenen Jahr, laut Amnesty International waren es sogar deutlich mehr. Amnesty bezeichnet auch die Gerichtsverfahren als unfair und intransparent und wirft der iranischen Regierung eine lückenhafte Informationspolitik vor. Sicher ist nur: Rund zwei Drittel der Hinrichtungen im Iran gehen auf Drogendelikte zurück.
    Sie sehen einen großen Stapel Essenspakete in Plastiktüten.
    Rund 2.000 Pakete mit Reis und "Gheyme", einem Eintopf, verteilen die Helfer in Teheran. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Es ist 22 Uhr in Teheran. 2.000 Reisportionen sind verpackt, der Stapel wird mit Wolldecken gewärmt. Mit den Helfern der NGO gehe ich hinüber in einen gefliesten Saal mit einer riesigen Iran-Fahne als Fototapete in grün-weiß-rot, darauf die Internetadresse: www.toloo.org. In der Halle feiert die Organisation jeden Dienstag Geburtstag, und jedes Geburtstagskind bekommt eine kleine Torte mit einer Zahl als Kerze darauf. Die Zahl ist nicht das Lebensalter, sondern die Zahl der Jahre seit dem Entzug: So lange bin ich jetzt clean, heißt das. Ibrahim tritt ans Mikrofon. Offen erzählt er von seinem Leben.
    "Sie werden eine Weile trauern."
    "Vor 22 Monaten wollte ich mich umbringen. Ich sah keinen Ausweg mehr. Ich dachte, wenn ich mich umbringe, dann wird meine Familie wieder Ruhe finden, vor allem meine drei Töchter. Sie werden eine Weile trauern und dann ihr normales Leben weiterleben. Gott sei Dank habe ich dann Toloo getroffen."
    Sie sehen einige Menschen, im Vordergrund tanzt ein Mann in einem pinkfarbenen Shirt.
    Auf der Zeremonie von Toloo bi-neshanha feiern die Menschen an diesem Abend auch ein Hochzeitspaar. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Die Zeremonie dauert mehr als eine Stunde. Zwischendrin gibt es Musik auf traditionellen Instrumenten - auch die Musiker waren früher süchtig. Dann kommen eine Frau und ein Mann gemeinsam nach vorn. Razieh und Alireza haben gerade geheiratet - Alireza hat den Absprung geschafft: Er arbeitet wieder, im Basar von Teheran.
    Schüchtern steht das Paar vorne im Saal - daneben Akbar Rajabi, der Gründer der Hilfsorganisation. Und plötzlich springt auch Daniel auf, der Mann, mit dem ich vorhin als erstes gesprochen hatte. Er tanzt um das Hochzeitspaar herum, die Menschen im Saal klatschen.
    Crystal Meth wird in illegalen Drogenküchen fabriziert
    Nach Angaben der UNO stellen die Drogenfahnder im Iran jährlich bis zu drei Viertel der weltweit beschlagnahmten Menge an Opium sicher, beim Heroin ist es ein Viertel. Doch das Konsumverhalten ändert sich. Seit einigen Jahren ist Crystal Meth besonders angesagt. Die synthetische Droge ist auch bei uns gut bekannt, viele nehmen sie wegen ihrer euphorisierenden Wirkung. Crystal Meth wird auch im Iran fabriziert, in Teheran gibt es viele illegale Drogen-Küchen, die das "shisheh" herstellen, wie es auf Farsi heißt. Die Lage hat sich so verschlechtert, dass sogar Politiker laut darüber nachdenken, Opium und Cannabis zu legalisieren - weil sie nicht ganz so fatale Folgen haben wie Crystal Meth.
    Im Saal von Toloo kommt eine Jugendliche nach vorn ans Mikrofon. Sie ist modisch angezogen und trägt Sneakers und Kopftuch in pink. Ich hatte sie schon im Publikum gesehen und spontan gedacht: Die Teheraner Oberschicht engagiert sich ehrenamtlich. Ich liege falsch. Ich bin Sahra, sagt sie, ich bin süchtig und seit 37 Tagen clean. Sahra war drei Jahre lang abhängig. Sie ist 15.
    Die Zahl der süchtigen Frauen nimmt zu
    Sahra erzählt, dass sie ab und an bei ihrer Familie war, dort aber auf Ablehnung stieß und immer seltener hinging. Bei einem Ausflug ans Kaspische Meer lernte sie jemanden von Toloo bi-neshanha kennen. Sahra beginnt zu weinen. Zwei Frauen stehen auf, nehmen sie in den Arm. Und Akbar Rajabi, der Gründer von Toloo, sagt ins Mikrofon: Ich schwöre Dir, wenn Du durchhältst, dann feiern wir in ein paar Jahren Deinen Eintritt in die Uni.
    Die Zahl der süchtigen Frauen im Iran nimmt zu. Das räumt auch Shahindokht Molaverdi ein. Sie ist Stellvertreterin von Präsident Hassan Rohani, und zuständig für Frauen und Familie. Sie berichtet, dass zehn Prozent aller Süchtigen im Iran Frauen sind. Die Frauen nehmen vor allem Crystal Meth - als vermeintlichen Schlankmacher, weil die Droge das Hungergefühl unterdrückt. Crystal Meth wird in Schönheitssalons und Fitnessstudios angeboten und nach Hause geliefert.
    Sie sehen eine große Gruppe von Menschen, die in einem Saal im Kreis stehen, die Frauen tragen Kopftücher.
    In einer Zeremonie feiern die Helfer von Toloo bi-neshanha gemeinsam den erfolgreichen Entzug von Süchtigen in Teheran. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Viele Frauen nehmen auch Drogen, weil sie unter Depressionen leiden: Das Land bildet sie an den Hochschulen bestens aus, hat dann aber keine angemessenen Stellen für sie. Frauen aus ärmeren Schichten erzählen, dass ihre Männer sie absichtlich unter Drogen setzen und dann als Prostituierte arbeiten lassen, um Geld zu verdienen.
    Um Mitternacht brechen die Helfer auf - in den Süden von Teheran
    Es ist fast Mitternacht in Teheran. Die Helfer von Toloo singen zusammen, dann ist die Feier zuende, und alle gehen hinaus. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit, und es regnet in Strömen. Das ist selten in der Hauptstadt.
    Die Helfer beladen ihre Autos mit Reispaketen, und immer sechs, sieben Autos bilden eine Gruppe. Ich fahre bei Akbar Rajabi mit, dem Gründer von Toloo. Viele der drogensüchtigen Obdachlosen leben im Süden von Teheran. Der Norden der Stadt liegt am Hang des Elburs-Gebirges und ist wohlhabend, der Süden gilt als ärmer, hier ist auch der Smog schlimmer.
    Die Regierung ist sich der gesellschaftlichen Folgen der Drogensucht bewusst und tut viel - das ist bei aller Kritik an der Todesstrafe und den Gerichtsprozessen unbestritten. Neben der Drogenkontrollbehörde ist vor allem die staatliche Wohlfahrtsorganisation zuständig. Es gibt hunderte Suchtzentren im Land, es gibt Methadon-Programme und HIV-Prävention, auch in den Gefängnissen. Aber einen Großteil der Arbeit leisten neben dem Staat die NGOs wie Toloo bi-neshanha.
    Die Untergrundpartys sind fast schon ein Klischee
    Es regnet immer stärker. Wir fahren auf einer der vielen Stadtautobahnen im Süden. Auf dem Standstreifen neben uns laufen zwei Männer. Akbar Rajabi hält an. Wir reichen zwei Portionen Essen hinaus in den Regen.
    Es gibt im Iran keine Unterhaltungsindustrie, keine Infrastruktur zum Ausgehen für junge Leute, schon gar nicht für beide Geschlechter. Es gibt wenige Kinos, keine Discos, keine Clubs, keine Rockkonzerte. Viele Jugendliche treffen sich in Parks und Cafés, fühlen sich aber nicht sicher, weil sie vielleicht doch beobachtet werden. Die Folge ist ein massiver Rückzug - aus einem kontrollierten öffentlichen Raum ins Private. Die Teheraner Untergrundpartys sind schon fast ein Klischee, und Drogen gibt es dort jede Menge. Es gibt sogar fliegende Barkeeper, die man problemlos buchen kann - alle Sorten Alkohol inklusive. Viele junge Leute fahren zum Feiern raus aus den Städten, in die Wüste. Dort sind sie frei. Und unbeobachtet.
    Sie sehen eine Frau und ein Auto im Dunkeln auf einer Autobahn in Teheran.
    Nachts auf der Stadtautobah - der Reis wird ausgeladen. (Deutschlandradio / Jörg-Christian Schillmöller)
    Akbar und die Helfer von Toloo fahren langsam über die Autobahn, es ist stockdunkel, die Autos haben die Warnblinkanlage eingeschaltet. Wieder halten wir auf dem Standstreifen und laden Essenspakete aus, es schüttet wie aus Kübeln. Wir steigen eine Böschung hinauf, unsere Schuhe werden sofort schwer vom nassen Lehm. Die Helfer tragen Stirnlampen.
    An Fotos und Aufnahmen mit dem Mikrofon ist nicht zu denken
    Oben auf der Böschung schauen wir hinunter auf eine langgezogene Struktur in der Dunkelheit, mehr lassen die Stirnlampen nicht erkennen. Ich spreche meine Eindrücke ins Smartphone, an Mikrofon und Kamera ist nicht zu denken. Sind das Felsen vor uns? Wir bücken uns und gehen durch einen Eingang ins Innere. Es ist keine Höhle, es ist ein gemauertes Gewölbe, ein alter Tunnel, langgezogen, drei Meter breit und nicht ganz so hoch. Der Tunnel ist mehr als 100 Meter lang, und drinnen ist es warm und trocken. Die Luft ist rauchig, denn es brennen mehrere Lagerfeuer.
    Es sind Menschen hier, viele Menschen, es müssen an die hundert sein. Sie sind alle obdachlos, die meisten sind süchtig. Ein paar Männer sitzen und liegen auf Kartons und Decken, einer von ihnen schläft. Ich sehe ein Motorrad, alte Sessel, einige Nischen sind mit Plane verhängt, dahinter flackern Kerzen.
    Es ist ein Uhr früh in Teheran
    Wieder taucht vor uns ein Lagerfeuer auf. Die Helfer von Toloo verteilen den warmen Reis, die Tüten rascheln, die Stirnlampen werfen Lichtkegel auf den Sandboden. Ein Junge läuft auf uns zu. Er ist keine acht Jahre alt, in der Hand hält er ein Smartphone. Auch er sucht Schutz vor dem Regen. Es ist ein Uhr früh in Teheran.
    Es gibt erste Anzeichen für ein Umdenken im Iran. Die Justiz hat gerade erst sieben Todesurteile umgewandelt - in lebenslängliche Haft. Das Regime scheint zu begreifen, wie sehr die Todesstrafe dem Ansehen des Landes schadet. Inzwischen sprechen auch prominente Politiker offen aus: Die Todesstrafe führt nicht dazu, dass Drogenhandel und -konsum abnehmen. Mehrfach hat das schon Mohammed Javad Larijani gesagt, Chef des iranischen Menschenrechtsrates. Aber auch sein Bruder Sadegh, immerhin Chef der Justiz, hat sich schon in diese Richtung geäußert. Und im vergangenen Herbst haben zudem 70 Parlamentarier einen Vorstoß gestartet: Sie wollen die Todesstrafe beschränken und für "nicht-gewalttätige Drogendelikte" abschaffen. Inzwischen ist das Parlament neu gewählt, stärker reformorientiert - aber wird das reichen, um sich gegen die konservativen Kräfte im Land durchzusetzen?
    "Das sind die Anfänger"
    Es ist jetzt zwei Uhr früh. Akbar Rajabi fährt mit uns zum "Haus der Hoffnung". Das ist eines der Zentren von Toloo bi-neshanha. Hier leben rund 120 Männer, die neu anfangen wollen. Für die Frauen und Kinder gibt es das "Haus der Liebe". Ich ziehe die Schuhe aus und bekomme blaue Duschlatschen. Amir, ein freundlicher Mann, den ich vorhin schon im Saal bei der Zeremonie gesehen hatte, führt mich herum.
    Amir zeigt mir den Lagerraum mit gestapelten Säcken voller Kichererbsen und Reis und einer Tiefkühltruhe. Daneben liegen die Duschräume und dann der Gemeinschaftsraum mit Werkstatt - dort stehen ein Webstuhl, Werkbänke und Nähmaschinen. Dann sagt Amir: Ich will Dir noch etwas zeigen. Wir gehen eine Treppe hinauf, und er deutet nach rechts in ein Zimmer. Da sitzen fünf, sechs Männer auf Teppichen, es läuft ein Fernseher. "Das sind die Anfänger", sagt Amir. Er meint: Das sind unsere Neuankömmlinge. Die, die einen Neuanfang versuchen wollen. Die Augäpfel der Männer sind hervorgetreten, sie werden mindestens eine Woche lang in diesem Raum bleiben, um zu entgiften.
    "Ich würde sterben, damit ein anderer Mensch am Leben bleibt."
    Kurz darauf sitze ich im Taxi und fahre zurück in die Innenstadt von Teheran. Die Fußballmannschaft von Toloo bi-neshanha hat in zwei Tagen wieder ein Spiel, am Tag darauf gibt es ein Sommerfest für Kinder. Aber zwischendurch fährt Akbar Rajabi, der Gründer von Toloo, immer wieder mal rauf in die Berge. Er geht dort mit Freunden schwimmen und kommt etwas zur Ruhe, bevor er und seine Helfer wieder 2.000 Portionen Reis kochen und an die Obdachlosen und Süchtigen verteilen, an einem Dienstagabend, im Süden von Teheran.
    "Ich würde sterben, damit ein anderer Mensch am Leben bleibt. Schau mir in die Augen. Du wirst sehen: Ich bluffe nicht."