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Iran vor den Präsidentschaftswahlen
Öffnungskurs auf dem Prüfstand

Mit großer Spannung wird der Ausgang der Präsidentenwahl im Iran am Freitag erwartet. Wird sich das Land wieder abschotten? Oder wird der moderate Kurs des Amtsinhabers Hassan Rohani fortgesetzt? Rohani wird sich wieder zur Wahl stellen. Das geistliche Oberhaupt Ajatollah Ali Khamenei favorisiert aber offensichtlich einen anderen Kandidaten.

Von Reinhard Baumgarten | 18.05.2017
    Eine iranische Frau läuft an Wahlplakaten von Irans Präsident Hassan Rohani vorbei
    Eine iranische Frau läuft an Wahlplakaten von Irans Präsident Hassan Rohani vorbei. (AFP / Atta Kenare)
    Räder auf Schienen. Gleiten, reiben, quietschen. Tunnelfahrt der Linie 1 in Teheran. Die Linie 1 führt vom hohen Norden bis in den tiefen Süden der an den Hängen des mächtigen Elburs-Gebirges gelegenen iranischen Hauptstadt. Nächster Halt "Shaheed Hemad" - auf Deutsch: Märtyrer-Hemad. Viele Stationen des Teheraner U-Bahn-Netzes sind nach Märtyrern und Helden der Islamischen Republik benannt. Fromme Oden, inbrünstige Gesänge, religiöse Belehrungen - die Fahrgäste nehmen es hin. Ihre Mienen verraten weder Anteilnahme noch Ablehnung.
    Der religiöse Furor der ersten Jahre der Islamischen Republik ist längst auf der Strecke geblieben. Die als sozialer Aufstand gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Schah-Zeit gestartete Revolution hat viele ihrer Kinder gefressen. Und es hat jene fett gemacht, die das allgemeine Aufbegehren gegen Unterdrückung zu einer islamischen Revolution umzuwidmen und die Macht zu übernehmen vermochten.
    Die Metro-Linie 1 überwindet auf 40 Kilometer Länge knapp 600 Höhenmeter. Es ist eine Fahrt durch Geschichten und gesellschaftliche Schichten der Islamischen Republik Iran. Im Norden Teherans leben auch 38 Jahre nach der Revolution noch viele Reiche. Heute sind es vor allem Neureiche: Profiteure der bestehenden Machtverhältnisse.
    Im Iran herrscht keine soziale Gerechtigkeit
    Sie meiden die qualvolle Enge der stickigen Metro. Sie haben nichts zu tun mit den Bettlerinnen und Bettlern in den U-Bahn-Waggons. Sie kaufen von den vielen fliegenden Händlern in den Metrozügen keine Gürtel, Decken, Zahnbürsten, Kopfhörer, Adapter oder Gummibärchen. Die Reichen durchqueren den 14-Millionen-Moloch Teheran im BMW, im Landcruiser oder im Porsche Cayenne.
    Tajreesh - eine Metrostation knapp 70 Meter tief in den Berg gegraben. Hier steigt Sara zu. Die 24-Jährige ist eine von täglich rund 3,5 Millionen Fahrgästen. Sara studiert Psychologie. Sie ist auf dem Weg zu einer Wahlveranstaltung. Im Iran herrsche keine soziale Gerechtigkeit, stellt die junge Frau fest: "Eine Minderheit besitzt immensen Reichtum, während ein Teil der Bevölkerung in bitterer Armut lebt. Es wäre nicht schwer, diese Minderheit zu identifizieren und stärker zur Kasse zu bitten."
    Die Sporthalle Shaheed Shirudi im Zentrum Teherans: Saras Ziel. Yar-e dabestāni-ye man - auf Deutsch: Mein Schulfreund. Seit Mitte der 90er Jahre ist das Lied die Hymne all jener, die Veränderungen in der Islamischen Republik wollen: "Mein Schulfreund, du bist mit mir, du begleitest mich, du bist mein Schrei und meine Wehmut, wenn die Peitsche auf uns niederfährt." Jeder in der Sporthalle Shaheed Shirudi kennt den Text. Sie singen ihn immer wieder, wenn sie zusammenkommen, um sich gegenseitig Mut zu machen.
    Yā Hossein Mir Hossein ist der Hoffnungsträger vieler junger Menschen. Doch Mir Hossein Mussawi steht seit Jahren unter Hausarrest. 2009 glaubten viele, Mussawi habe die Wahlen gewonnen. Doch ein anderer wurde überraschend zum Sieger erklärt: Mahmoud Ahmadinejād.
    Mohammad Khatami - auch er ein Hoffnungsträger. Er war der fünfte Präsident der Islamischen Republik und ein echter Reformer. Vor 20 Jahren wurde er mit mehr als 70 Prozent der Stimmen gewählt. Mit knapp 80 Prozent wurde er vier Jahre später wiedergewählt. Für die staatlichen Medien ist er heute Persona non grata. Sein Bild darf nicht gezeigt, sein Name darf nicht erwähnt werden.
    "Lang lebe Khatami, Rohani muss bleiben", rufen Tausende junge Menschen in der Shaheed Shirudi Halle. Hassan Rohani ist der amtierende Hoffnungsträger vor allem der jungen Generation. Seit 2013 ist er der siebente Präsident der Islamischen Republik Iran.
    Keiner zieht so viele Menschen an wie Rohani
    "Was Rohani von allen anderen Kandidaten unterscheidet, ist sein realistischer und intelligenter Blick auf die Angelegenheiten im Innern und der Umgang mit dem Ausland. Die anderen Kandidaten sind leider radikal. Sie haben kein Interesse daran, mit der Welt in Verbindung zu stehen. Das ist schlecht für unsere Zukunft. In einer globalisierten Welt müssen wir mit dieser zusammenarbeiten. Auslandsbeziehungen sind sehr wichtig. Ich reise oft. Veränderungen in unserer Politik kann ich im Ausland unmittelbar feststellen - durch die Reaktionen auf mich als iranische Bürgerin."
    Rohani weiß, dass Frauen mehrheitlich für ihn stimmen werden. "Die Revolution kam zustande, weil Frauen auf die Straßen gegangen sind. Auch heute werden wir siegen, wenn die Frauen an die Urnen gehen. Wir wollen keine Geschlechterdiskriminierung. Wir akzeptieren keine Gewalt aufgrund des Geschlechts."
    "Rohani Islahāt, Pirouzeh intekhabāt" - Rohani Reformer, Sieger der Wahl. 20.000 Menschen sind in die Azadi-Sporthalle im Westen Teherans zu einer Wahlveranstaltung von Präsident Rohani gekommen. Keiner der sechs vom Wächterrat zugelassenen Kandidaten zieht so viele Menschen an wie Rohani.
    "Wir brauchen jemanden an der Spitze, der in der Lage ist, mit dem Ausland zu kooperieren." Negin ist 27. Sie hat Wirtschaftsinformatik studiert. "Die Beziehungen Irans zum Ausland sind sehr wichtig. In der heutigen Welt darf sich kein Land mehr isolieren."
    Mächtige Kräfte fürchten eine Öffnung nach außen
    Der Fortschritt Irans liege in Forschung, Technologie und in der Zusammenarbeit mit der Welt, beschwört Rohani. Doch es gibt mächtige Kräfte in der Islamischen Republik, die nichts mehr fürchten als eine Öffnung nach außen. Revolutionsführer Ali Khamenei ist der starke Mann Irans. Er setzt den Kurs in allen wichtigen politischen und gesellschaftlichen Fragen des Landes.
    Wenn der Rahbar-e Enghelāb genannte Revolutionsführer spricht, dann geht es fast immer um den Feind. Der Feind bedroht den Iran. Der Feind hat Spitzel und Agenten im Land. Der Feind wünscht ein Scheitern der Islamischen Republik. Der Feind - das sind das "zionistisches Regime" genannte Israel - und das sind vor allem die USA.
    "Diese ständige Aufforderung zu Gesprächen und Verhandlungen ist nur ein Vorwand für Einflussnahme. Manche leichtsinnige, törichte Politiker verstehen nicht, welche Absicht hinter solchen Gesprächen und Verhandlungen verborgen ist."
    Viele sind überzeugt davon, dass sich die Schelte auf die Rohani-Administration bezieht. Das im Juli 2015 in Wien geschlossene Atom-Abkommen findet noch die Zustimmung Khameneis. Bis in die obersten Spitzen des Landes hat sich damals die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein Kompromiss im Streit um das iranische Atomprogramm gefunden werden muss, wenn ein Krieg mit Israel und den USA sowie der wirtschaftliche Kollaps des Landes verhindert werden sollen. Doch kurz nach Vertragsschluss proklamiert Ayatollah Khamenei:
    "Verhandlungen mit den USA sind verboten. Sie bringen viele Nachteile. Sie haben keinerlei Nutzen. Verhandlungen mit anderen Ländern, die uns nicht schaden können oder wollen, sind hingegen möglich."
    Bei jungen Iranern reicht das Weltbild über ideologische Grenzen Irans hinaus
    Einer strategischen Entscheidung des einstigen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini ist es zu verdanken, dass Antiamerikanismus bis heute eine der wichtigsten ideologischen Säulen der Herrschenden in der Islamischen Republik ist. Die immer wieder beschworene Bedrohung durch äußere Feinde soll dabei als ideologischer Kitt wirken, der die iranische Gesellschaft zusammenhält.
    "Ein wichtiger Teil der Aktivitäten der Feinde besteht darin, die Ansichten unserer Politiker und die öffentliche Meinung zu verändern. Wir sind aber wachsam und wissen sehr wohl, was sie vorhaben. Sie wollen die religiösen und die revolutionären Ideale des Landes verändern. Und ihre eigentliche Zielgruppe ist die Jugend."
    Junge Iranerinnen in Jeans und bunten Tüchern gehen mit Einkaufstüten eine Straße entlang.
    Junge Iranerinnen und Iraner sind durch Internet und Reisen gut informiert (ATTA KENARE / AFP)
    Mehr als 60 Prozent der knapp 80 Millionen Iranerinnen und Iraner sind jünger als die Revolution. Dank Internet, Büchern, Satellitenfernsehen und Reisen reicht ihr Weltbild über die geografischen und ideologischen Grenzen der Islamischen Republik hinaus. Deshalb verfängt gerade bei jungen Menschen Hassan Rohanis Versprechen:
    "Wir wollen Freiheit. Wir wollen soziale und politische Freiheit. Wir wollen freie Gedanken- und Meinungsäußerung. Auch unsere Freizeitaktivitäten wollen wir frei wählen dürfen."
    Iran hat ein Wirtschaftsproblem
    Konzertverbote und Patrouillen von Sittenwächtern?, fragt die Studentin Sara konsterniert, sind das wirklich die drängenden Probleme Irans? "Die Welt lacht über uns, wenn die Farbe unserer Kleidung ein Problem sein kann, welche Musik wir hören dürfen oder wie wir uns verhalten sollen. Wenn wir uns über solche Details streiten, können wir dann große Probleme lösen? Nein, mit Sicherheit nicht."
    Das Land hat ganz konkrete Probleme, die den sozialen Frieden ernsthaft gefährden: Der Iran hat ein massives Drogenproblem - inoffiziellen Schätzungen zufolge sind bis zu acht Millionen Menschen direkt oder indirekt betroffen; offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei 12,5 Prozent, inoffiziell könnte sie fast doppelt so hoch sein; die Jugendarbeitslosigkeit beträgt rund 25 Prozent.
    Die Defizite der iranischen Wirtschaft seien ihm bekannt, verkündet Revolutionsführer Khamenei: Jugendarbeitslosigkeit und Arbeitslosigkeit unter Akademikern stellten große Probleme dar. "Jeder Verantwortungsträger der nächsten Regierung, Regierungschef oder Wirtschaftsminister, muss vom ersten Tag an seine gesamte Aufmerksamkeit der Schaffung von Arbeitsplätzen widmen."
    Problem erkannt, Gefahr gebannt? Mitnichten. Revolutionsführer Khamenei redet einer sogenannten Ökonomie des Widerstands das Wort - will heißen: eigene Produktion im Iran steigern, weniger Importe, weniger Abhängigkeit vom Ausland.
    "Wir müssen Investitionen anlocken"
    Der Iran besitzt die größten Gas- und die viertgrößten Ölverkommen der Welt. Diesen Reichtum könne das Land zum Wohle der Nation nur nutzen, wenn es mit der Welt zusammen arbeite, beharrt Präsident Rohani.
    "Wenn wir für unsere Jugend Arbeit schaffen wollen, dann müssen wir Investitionen anlocken. Egal ob es sich um Industrie, Landwirtschaft oder Dienstleistungen handelt. Wir müssen auch für Rechtssicherheit sorgen. Die Justiz muss besser mit uns zusammenarbeiten, auch die Sicherheitskräfte müssen kooperieren. Wenn wir Investition anlocken wollen, dann müssen alle zusammenarbeiten!"
    Aber: Ohne internationale Bankenbeteiligung werden ausländische Unternehmen keine großen Investitionen im Iran tätigen. Kürzlich hat der französische Mischkonzern Bouygues vom Bau eines neuen Terminals für den Imam Khomeini-Flughafen in Teheran abgesehen, weil sich kein internationales Kreditinstitut fand, die Finanzierung zu übernehmen. Internationale Geldinstitute meiden Geschäfte mit dem Iran.
    Nach wie vor sind US-amerikanische Sanktionen in Kraft, die Bankgeschäfte mit dem Iran unter Strafe stellen. "Liebe Iraner, stimmt für Freiheit", wirbt Hassan Rohani. Und er gelobt: "Ich bin bereit, die noch bestehenden Sanktionen aufzuheben, wenn ich gewählt werde. So wie die Atomsanktionen aufgehoben wurden."
    Der 68-Jährige wird dieses Versprechen nicht einlösen können, denn er ist nur ein einzelner Player in diesem großen Spiel. Der Iran hält sich an die Verabredungen des Atomabkommens. Das hat die Internationale Atomaufsichtsbehörde in Wien mehrfach bestätigt. Dennoch arbeiten in den USA ideologische Hardliner fleißig daran, neue Sanktionen gegen den eingeschworenen Feind Islamische Republik Iran auf den Weg zu bringen.
    "Der Iran steht an einem Scheideweg"
    Der Konflikt zwischen Teheran und Washington droht in den kommenden Wochen und Monaten deutlich an Schärfe zu gewinnen. US-Präsident Trumps erste Auslandsreise führt ihn am iranischen Wahltag nach Saudi-Arabien. Dort wird er mit dem saudischen Königshaus ein Waffengeschäft über rund 100 Milliarden Dollar abschließen. Der saudische Verteidigungsminister, Mohammad bin Salman, hat dem Iran unlängst indirekt mit Krieg gedroht. Teheran und Riad konkurrieren um die Vormachtstellung im Nahen Osten und liefern sich in Syrien, im Jemen und im Irak erbitterte Stellvertreterkriege.
    Der Iran stehe an einem Scheideweg, die Wähler müssten zwischen totalitärer und demokratischer Regierung entscheiden, mahnt Hassan Rohani. Seine erzkonservativen Herausforderer Mohammad Ghalibaf und Ebrahim Ra’isi haben ihm im Wahlkampf schwere Versäumnisse während seiner Amtszeit vorgeworfen. Revolutionsführer Ali Khamenei hat ihn mehrfach scharf kritisiert.
    Will der promovierte Islamgelehrte Rohani seine Reformpolitik fortsetzen, dann muss er sich mit den Hardlinern in den USA sowie in seinem eigenen Land auseinandersetzen. "Wir haben gesehen, was sie taten, um die Atom-Einigung platzen zu lassen. Sie haben unterirdische Raketensilos gezeigt; sie haben Parolen auf Raketen geschrieben, damit wir die Vorteile der Atomeinigung nicht zu 100 Prozent nutzen können."
    Wiederholt haben die Sepah Pasdaran genannten Revolutionswächter ballistische Raketen getestet und damit der Trump-Administration den Vorwand für neue Sanktionen gegen den Iran geliefert. Die Revolutionswächter unterstehen direkt dem Velayāt-e Faghi genannten Obersten Rechtsgelehrten Ali Khamenei. Sie sind im Laufe der Jahre quasi zum Staat im Staate geworden.
    Unter Rohanis Vorgänger Ahmadinejad haben sie ihre politische, militärische und vor allem wirtschaftliche Stellung im Land immer weiter ausgebaut. Heute kontrollieren Unternehmen der Pasdaran bis zu 40 Prozent der iranischen Wirtschaft. Hassan Rohani versucht, den Einfluss der Revolutionswächter einzudämmen. "Wenn wir eine bessere Wirtschaft wollen, dann sollten wir freien Wettbewerb im Land fördern. Wir müssen dem privaten Sektor Chancen eröffnen. Wir sollten keine Gruppen an der Wirtschaft teilhaben lassen, die politische Rückendeckung genießen."
    "Rohani steht für die Öffnung des Landes"
    Gemeint sind damit die mächtigen Revolutionswächter sowie die Bonyad genannten religiösen Stiftungen. Sie alle mischen kräftig in der iranischen Wirtschaft mit, zahlen keine oder nur extrem wenige Steuern, verschaffen sich dadurch erhebliche Wettbewerbsvorteile und dienen ihren privilegierten Nutznießern zur opulenten Selbstversorgung.
    Mir Hossein Mussawi, Mohammad Khatami und Hassan Rohani - alle drei haben eine Vita als Teil des Herrschaftssystems der Islamischen Republik. Und alle drei haben sich im Rahmen der bescheidenen demokratischen Möglichkeiten ihres Landes zu Hoffnungsträgern vor allem für junge Menschen entwickelt. Die Revolutionäre von damals haben sich längst zu reaktionären und restaurativen Akteuren gewandelt, die Veränderungen misstrauen oder ganz ablehnen.
    Das hat ideologische, aber mehr noch rein machtpolitische und materielle Gründe. Hassan Rohani stehe für die Öffnung des Landes, sagt die 27-jährige Negin. Seine erzkonservativen Herausforderer - sie stünden für weitere Isolation. "An der Spitze des Landes steht ein Radikaler. Wenn der zweite Mann auch ein Radikaler werden sollte, dann wird es wirklich schlimm."