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Irenas Liste

Anna Mieszkowskas Portrait: "Die Mutter der Holocaust-Kinder. Irena Sendler und die geretteten Kinder aus dem Warschauer Ghetto" liegt jetzt in deutscher Übersetzung vor. Die Lebensgeschichte der inzwischen hoch betagten Irena Sendler hat unseren Rezensenten Andreas Beckmann sofort an eine andere Person der damaligen Zeitgeschichte erinnert, deren Leben und Wirken sogar mit großem Erfolg von Steven Spielberg verfilmt worden ist.

31.07.2006
    Schindlers Liste kennt die ganze Welt. Von Sendlers Liste weiß dagegen kaum jemand etwas. Dabei ist die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, mindestens ebenso unfassbar und heldenhaft. Irena Sendler hat 2500 jüdischen Kindern aus dem Warschauer Ghetto das Leben gerettet.

    "Als die Deutschen beschlossen, das jüdische Volk zu vernichten, konnte ich das nicht gleichgültig hinnehmen."

    Anna Mieszkowska lässt über weite Strecken ihres Buches Irena Sendler selbst in ihrer einfachen Sprache vom täglichen Kampf ums Überleben der Kinder erzählen. Als Mitglied einer Sanitätskolonne hatte sie Zutritt zum Ghetto. Gleichzeitig arbeitete sie für die illegale Hilfsorganisation "Zegota"

    "Wir passierten das Ghettotor häufig mehrere Male am Tag. Wir hatten Geld dabei, Lebensmittel, Medikamente und Verbandszeug. Wir brachten auch Kleider ins Ghetto."

    Seit 1941 stand im von den Deutschen besetzten Polen auf jede Hilfeleistung für Juden die Todesstrafe. Irena Sendler intensivierte dennoch ihre Arbeit. Besonders rührte sie die Not der Kinder im Ghetto, die auch dem damaligen Wehrmachtsfotografen Joe Heydecker aufgefallen war:

    "Viele dieser Kinder saßen eben den ganzen Tag auf der Straße und haben Lieder gesungen und gebettelt. Sie waren wirklich verlassen und verwahrlost und sind gestorben wie die Fliegen. Denn sie waren ja die Anfälligsten, die am wenigsten Widerstandsfähigen."

    "Wir konnten sie jedoch nicht alle auf einmal herausholen. Man musste ihnen Dokumente ausstellen, also etwa eine falsche Geburtsurkunde besorgen, wobei katholische Pfarrämter halfen."

    Während Irena Sendlers Erzählungen sich stets um die praktischen Probleme der Rettungsaktionen drehen, stellt Anna Mieszkowska ihre Protagonistin als politisch wache Frau vor, die der illegalen Polnischen Sozialistischen Partei PPS angehörte. Geprägt war sie vor allem von ihrem katholischen Vater, den sie früh verlor. Der war Arzt gewesen und hatte die Ärmsten seiner Patienten, darunter viele Juden, stets unentgeltlich behandelt. Bescheiden wie ihr Vater spielt Irena Sendler ihre eigenen Leistungen meist herunter. Andere hätten doch viel mehr Leid auf sich nehmen müssen:

    "Die jüdischen Mütter bereiteten ihre Kinder manchmal monatelang auf das Leben auf der (so genannten)‚arischen’ Seite vor. Sie gaben ihnen eine andere Identität. Sie sagten: ‚Du heißt nicht Icek sondern Jacek .Und ich bin nicht deine Mutter, sondern ich war euer Dienstmädchen. Du gehst jetzt mit dieser Dame, denn dort wartet vielleicht deine Mama auf dich.’"

    Eine Überlebensgarantie konnte Irena Sendler für keines der Kinder geben. Immerhin aber kannte sie sichere Fluchtwege. Einige führten durch die Abwasserkanäle der polnischen Hauptstadt, andere durch die Keller von Häusern am Rande des Ghettos. Ganz kleine Kinder wurden, mit Schlafmitteln betäubt, in Kisten und Säcken nach draußen geschmuggelt. Dort sorgte die "Zegota" für ein erstes Quartier. Manche Kinder kamen in staatlichen Waisenhäusern unter, viele in Klöstern, die meisten bei Pflegefamilien. Dort waren sie besonders gefährdet, weil sie leicht entdeckt werden konnten, etwa von Nachbarn. Dann mussten sie schleunigst in ein neues Versteck gebracht werden:

    "Einmal fuhr ich mit einem kleinen Jungen zu anderen Betreuern. Mit Tränen in den Augen fragte er mich: ‚Sagen Sie mir bitte, wie viele Mamas kann man denn haben, denn das ist bereits die dritte’."

    Für viele Kinder fand Irena Sendler allerdings nie ein Quartier. Ihnen konnte sie allenfalls helfen, den Überlebenswillen im Ghetto nicht zu verlieren. Dabei arbeitete sie eng mit den illegalen Jugendkreisen zusammen, denen Mieszkowska ein eigenes Kapitel widmet. In diesen Passagen geht sie über die Biographie von Irena Sendler hinaus und schildert dicht und detailliert den immer noch wenig bekannten alltäglichen jüdischen Widerstand. Die Jugendkreise achteten darauf, dass auch die Kleinsten und Schwächsten etwas abbekamen von den eingeschmuggelten Lebensmitteln und Medikamenten. Sie organisierten einen provisorischen Schulunterricht.

    Aus ihren Reihen gingen schließlich viele Kämpfer des Aufstands im Ghetto hervor, der im April 1943 losbrach. Dies war der letzte verzweifelte Versuch, wieder Anschluss an das Leben der anderen, ihrerseits von der deutschen Besatzung terrorisierten Polen zu gewinnen. Ein Leben, das für die Ghettokinder stets nah und dennoch unerreichbar war, wie der Kommandant des Aufstands, Marek Edelman, nach dem Krieg erzählte:

    "Das Karussell stand schon seit längerer Zeit auf der anderen Seite der Ghetto-Mauer, und wir haben gehört, wie die Drehorgel spielt. Zum ersten Mal haben wir dieses Karussell am dritten Tag des Aufstands gesehen. Aus dem aus einer blinden Wand geschlagenen Fensterloch haben wir gesehen, wie sich dieses Karussell dreht, wie in den Sonnenstrahlen Jungs lachen und die bunten Röcke der Mädchen hochfliegen und hundert Meter weiter, auf unserer Seite der Mauer, die Menschen umkommen und die Häuser brennen."

    Am 16. Mai 1943 meldete die SS offiziell die Niederschlagung des Ghetto-Aufstandes. Wo einmal eine halbe Million Menschen gelebt hatte, rauchten jetzt nur noch Trümmer. Heinrich Himmler, der so genannte "Reichsführer SS" begründete später vor Wehrmachtsgenerälen im bayrischen Sonthofen mit brutaler Offenheit, warum auch die Kleinsten ermordet worden waren:

    "Die Kinder werden eines Tages groß werden. Dass dann dieser jüdische Hass heute kleiner, später groß gewordener Rächer sich an unseren Kindern und Enkeln vergreift, das können wir nicht verantworten. Deswegen haben wir eine klare Lösung vorgezogen, so schwer wie sie war."

    Dass es diese Himmler’sche Lösung nicht gegeben hat, daran hatte auch Irena Sendler maßgeblichen Anteil. Und zwar nicht nur, weil sie es geschafft hatte, an die 2500 Kinder zu retten – sie dachte auch an die Zeit danach:

    "Für die Organisatoren (der ‚Zegota’) war es wichtig, dass sie der jüdischen Gemeinschaft nicht verloren gingen. Damit die Familien ihre Kinder wiederfinden konnten, sah man die Einrichtung einer Kartei vor."

    Diese Kartei war Irena Sendlers Liste. Sie bestand aus einem Papierstreifen pro Kind, auf dem sie den wahren Namen, den Decknamen und das Quartier notierte. Die Papierstreifen hatte sie in einem Glas verschlossen und unter einem Apfelbaum vergraben. Dieses Versteck verriet sie nie, auch nicht, als die Gestapo sie fasste und folterte, nicht einmal, als sie zum Tode verurteilt wurde.

    Mit Hilfe eines bestochenen SS-Mannes befreite die "Zegota" Irena Sendler in letzter Minute. Nach Kriegsende übergab sie die Liste dem Zentralkomitee der Juden in Polen. Im Schlussteil des Buches sind Briefe von geretteten Kindern abgedruckt. Viele halten bis heute engen Kontakt zu ihrer mittlerweile 96-jährigen Retterin. In Israel wird Irena Sendler seit 1965 als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.

    In Polen dagegen würdigte man ihren Mut erst nach der politischen Wende von 1989. Und in Deutschland? Hierzulande ist sie bis heute fast unbekannt. Das sollte sich durch das fesselnde, in manchen Passagen ergreifende, dabei aber niemals rührselige oder pathetische Buch von Anna Mieszkowska jetzt ändern.

    Anna Mieszkowska: "Die Mutter der Holocaust-Kinder. Irena Sendler und die geretteten Kinder aus dem Warschauer Ghetto", Deutsche Verlags-Anstalt, München. - 319 Seiten zum Preis von 22,90 Euro.