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Irgendwie alles Sex

Matthias Altenburg ist seit Anfang der 90er Jahre nicht nur als Autor von Romanen und Erzählungen hervorgetreten, sondern auch als Kolumnist, als Begleiter von Zeitdebatten, polemisch, meinungsfreudig, bisweilen umstritten.

Enno Stahl | 10.07.2002
    Eine solche Betätigung ist für einen Schriftsteller ratsam, es hält ihn im Gespräch, schließlich kann er ja nicht ständig mit wohlkomponierten Prosa-Publikationen an die Öffentlichkeit treten. Warum aber aus den verstreuten, oft aktuell gebundenen Artikeln und Feuilletons ein Buch machen, was sind Sinn und Intention einer solchen Sammlung?

    Also, das Buch ist ein Versuch, Bilanz zu ziehen, zu sagen, was ist in den letzten 10, 12 Jahren in dem Land und mit dem Land geschehen, mit den Leuten, was ist in den Köpfen passiert, und das passiert auf sehr verschiedene Weise, zum einen auf diskursive Weise, zum anderen auf erzählerische Weise, poetische, illustrierende Weise, und ich glaub, dass diese beiden Möglichkeiten sich eigentlich ganz gut ergänzen, dass sie auch immer wieder Erfrischungen für den Leser bieten, also dass er nicht dauernd denken muss, sondern auch mal wieder lachen darf, und auch mal zuschauen darf, was beschrieben ist, was in den Kneipen losgewesen ist. Insofern wäre es wie eine Art Episodenfilm, ein Short Cuts über die letzte Dekade des letzten Jahrhunderts, und wenn das so gelungen wäre, als Bilanz, fände ich das schon sehr ausreichend, muss ich sagen.

    Das Formenrepertoire, mit dem Altenburg aufwartet, ist allerdings heterogen. Wütende Angriffe auf missliebige Positionen von Schriftstellerkollegen finden sich ebenso wie minutiös dokumentierte Beschreibungen aus dem subproletarischen Milieu. Eine Einheit, auch als "Patchwork" des Disparaten verstanden, stellt sich nicht her.

    Vielen der Beiträge eignet jedoch eine ethische Perspektive, wie sie heutzutage weitgehend verpönt ist, weiß man doch spätestens seit Friedrich Nietzsche, dass jede Moral willkürliche Setzung ist. Erst recht unter dem Vorzeichen des "anything goes" steht das moralische Urteil unter Verdacht, welche Wirkungsmöglichkeit kann ethisches Argumentieren also heute noch besitzen?

    Ich glaube, dass man sich nicht aus einer Moral abmelden kann. Wenn man sagt, man lehnt die eine Moral ab, hat man sich automatisch für eine andere Moral entschieden, und deswegen ist die Diskussion darüber, ob Moral einen Effekt hat oder keinen Effekt hat, ob sie Wirkung zeitigt oder nicht, eigentlich ein bisschen obsolet, man verhält sich, man verhält sich irgendwie, man lässt etwas oder man tut etwas, und beides hat Folgen, beides hat Folgen, also verhält man sich auf die ein oder andere Weise zu dieser Welt, und dann finde ich es immer sinnvoller, sich von vornherein bewusst zu dieser Welt zu verhalten, also dann kann man auch sagen, dann kann man offenlegen, was man will. Will man nur Spaß, will man, dass [CUT man] ein reiches Land immer reicher wird, will man, dass in diesem Land die gesellschaftlichen und politischen, die ökonomischen Unterschiede immer größer werden? Will man verschweigen, dass unser Reichtum auf Kosten der Dritten Welt erwirtschaftet wird, dann kann man das tun, aber man kann auch sagen, dass es so ist, und das könnte möglicherweise Folgen haben, also es könnte auch politische Folgen haben. Und diese Folgen oder diese Schlüsse daraus kann der Leser ziehen.

    Dieser politische Kontext, in den die ethische Perspektive einzubetten wäre, fehlt in Altenburgs Beiträgen allerdings merklich. Sein Einsatzgebiet ist eher die Kultur, die Medienwelt, die diskursive Öffentlichkeit. Würden seine Äußerungen nicht weit wirkungsmächtiger, wenn sie den staatlichen und systemtheoretischen Zusammenhang namhaft machten?

    Ich glaube, die Zeiten sind im Moment nicht danach, dass man die großen politischen Gegenentwürfe liefern könnte. Ich glaube, dass eine Gegenbewegung gegen das, was man den globalen Kapitalismus nennt, überhaupt erst in den Anfängen begriffen ist, und ich denke, dass man auf verschiedene Weise versuchen sollte, mal wieder die Fühler nacheinander auszustrecken und sehen muss, in welchem Zustand befindet sich eigentlich diese Welt, also wie entwickelt sich das eigentlich alles, bevor man sich schon wieder das Hemd aufreißt und sozusagen dem Gegner seine Brust darbietet. Das wäre, denke ich, ein Fehler, und das sollte man nicht machen. Dieses Einbinden in den politischen Kontext, das machen die Leser schon meist selbst, also die spüren schon sehr genau.

    Ein zentrale Rolle in diesem Band spielen einige Essays, mit denen Altenburg sich in die literarische Debatte der 90er Jahre einschaltete. Er plädierte darin zunächst vehement für einen neuen Realismus, gegen epigonale Auswüchse experimentellen Schreibens. Er wetterte gegen eine Literatur, der die Leser davon gelaufen waren, forderte weniger Formspiele, mehr Inhalt, eine Wiedergeburt des Erzählens. Mitte der 90er Jahre kam es tatsächlich zu einer solchen Umwälzung der literarischen Werte, und zwar auf ganzer Linie, wie sieht er die Lage der Literatur im Moment?

    Das hat sich leider sehr, sehr schnell dahingehend trivialisiert, möchte ich sagen, dass erzählt wurde auf Teufel komm raus. Es hat ja jede Studentin, jeder Kneipen-Jobber hat plötzlich seine Geschichte aufgeschrieben und die wurde ja als neueste Pop-Erzählung auf den Markt gebracht. Aber das Ganze ist natürlich auf einem Niveau passiert, das mit Literatur einfach gar nichts mehr zu tun hatte. Das waren Bücher, die sich gut verkauften, weil man sich, wie es früher hieß, wiedergefunden hat in der Szene. Und das war natürlich eine grässliche Verflachung, was da stattgefunden hat, die bis heute anhält und die auch den Markt inzwischen bestimmt. Das Ganze nannte sich dann "gehobene Unterhaltung" und das ist eben das, was die Verlage und die Buchhändler am liebsten mögen, weil es sich verkauft wie geschnitten Brot. Nur hat das einfach nichts mit Literatur zu tun, das muss man auch sehen. Und dann kann man nur sagen: so war's leider nicht gemeint, als wir unsere Forderungen aufstellten.

    Ein nüchternes Resümee. Doch irgendwann wird wohl auch dieser Trend vorüber gehen. Wie könnte eine zeitgemäße Literatur in Zukunft aussehen?

    Sie kann nur immer weitermachen. Sie muss sich ihrer Vorgänger bewusst sein. Also sie muss immer auf dem letzten Stand der literarischen Technik sein. Das heißt nicht, dass sie immer avanciert sein muss, aber sie muss immer sozusagen alles kennen, muss alle Möglichkeiten, eine Geschichte zu erzählen, nutzen können. Also eine gute Geschichte muss auch gut in Form sein, und wenn sie nicht gut in Form ist, wird sie keine Wirkung haben oder sie wird so flach sein, dass sie zwar viele erreicht, aber bei denen nichts erreicht.