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Irvin D. Yalom: "Wie man wird, was man ist"
Ein Novize des Alterns

Der Psychotherapeut und Romanautor Irvin D. Yalom gilt in den USA als wichtiger Analytiker der menschlichen Seele. Mit 85 Jahren zieht er in seinem neuen Buch nun eine persönliche Lebensbilanz. Sein Motto: Das war das Leben? Noch einmal!

Von Cornelius Wüllenkemper | 12.02.2018
    "Wie man wird, was man ist. Memoiren eines Psychotherapeuten"
    Buchcover "Wie man wird, was man ist. Memoiren eines Psychotherapeuten" (Verlag btb München/mago/imagebroker)
    Es sind Träume, die das Grundrauschen des Lebens und Wirkens von Irvin D. Yalom zum Klingen bringen. Träume seiner zahlreichen Therapie-Patienten, die ihn zugleich immer wieder mit der eigenen Herkunft und dem Weg zu sich selbst konfrontierten. 1931 kam der Sohn zweier jüdisch-russischer Einwanderer in einem rauen Viertel in Washington D.C zur Welt. Seine Lebensgeschichte ist die eines Aufsteigers, der sich von einem bildungsfernen Milieu lossagte und zum Stanford-Professor und einem der renommiertesten Psychotherapeuten der USA emporarbeitete.
    "Der einzige Jude in einer christlichen Welt"
    "Meine Erinnerungen an die frühe Kindheit waren immer bruchstückhaft, wahrscheinlich, so dachte ich immer, weil ich so unglücklich war und wir in solcher Armut lebten. Jetzt, da ich Mitte achtzig bin, drängen sich immer mehr Bilder aus meinen frühen Lebensjahren in meine Gedanken. Die Betrunkenen, die in ihrem Erbrochenen in unserem Windfang schliefen. Meine Einsamkeit und Isolation. Die Kakerlaken und die Ratten. Der rotbackige Friseur, der mich "Judenbengel" nannte. Meine geheimnisvollen, mich quälenden und unerfüllten sexuellen Begierden als Teenager. Fehl am Platze. Immer fehl am Platze - das einzige weiße Kind in einem schwarzen Stadtteil, der einzige Jude in einer christlichen Welt."
    Die analytische Introspektion, das Nachspüren der eigenen Träume und Ängste sind - verdeckt oder offen - überall präsent in Yaloms Text. Sein Vater, ein Lebensmittelhändler, der ebenso zurückhaltend wie liebevoll für ein familiäres Gefühl der Geborgenheit sorgte, repräsentiert in Yaloms Erinnerung den Gegenpol zur strengen, gefühlskalten Mutter. Als Irvins Schwester und er selbst das elterliche Haus verlassen, um als erste der Familie einen höheren Bildungsweg einzuschlagen, kommentiert seine Mutter:
    "Ich will sie los sein.[...] Ja, meine Mutter hatte allem Grund, erleichtert zu sein, als ich mit einundzwanzig für immer aus dem Haus ging. Ich war ein Störenfried. Sie hatte nie ein positives Wort für mich, und ich stand ihr da in nichts nach."
    Rückblick auf das Leben eines Einzelnen
    Seine Flucht vor der eigenen Herkunft führt Irvin D. Yalom zum Medizinstudium, wenngleich die George Washington University eine strenge Quote für jüdische Studenten einhält - ein offener Antisemitismus, auch den damaligen Zeitumständen geschuldet, die der ehrgeizige Aufsteiger schlichtweg ignoriert.
    Yalom verbindet in seinen Memoiren die persönliche Erfahrung nur höchst selten mit der Sozial- und Kulturgeschichte der Zeit, obwohl sie unweigerlich die Persönlichkeit des Einzelnen mitprägt. Schnell steigt Yalom zum Leiter der psychiatrischen Abteilung an der Standford-University auf. Als man seiner Jugendliebe und Ehefrau Marylin, einer Romanistik-Professorin mit glänzenden Noten, eine Dozentur verweigert, weil man "keine Ehefrauen von Professoren einstellt", ist das Yalom gerade einmal einen kurzen Kommentar wert.
    "Wie man wird, was man ist" ist ein höchst intimer, geradezu hermetischer Rückblick auf das Leben eines Einzelnen. Was für Yaloms Memoiren gilt, ist ein Grundstein seines gesamten Werks: Sowohl in seinen Sachbüchern als auch in seinen Romanen über Einzelfälle seiner therapeutischen Praxis und über fiktive Therapie-Sitzungen mit Geistesgrößen der Weltgeschichte hat Yalom immer wieder mit seiner kolossale Offenheit und stringenten Konzentration auf das Individuum überzeugt. Die Einfühlung in die Individualität einer jeden Seele führt Yalom zur geisteswissenschaftlich begründeten Therapie und schließlich zu den großen Weltliteraten.
    "In meinen Lektüren widmete ich mich inzwischen immer mehr den existentialistischen Denkern in Literatur und Philosophie: so ging es beispielsweise Dostojewski, Tolstoi, Beckett, Kundera, Hesse [...] nicht primär um Belange von sozialer Klasse, Partnersuche, sexuellem Begehren, Geheimnis oder Rache; ihre Themen waren wesentlich tiefer und betrafen existentielle Fragen. Diese Autoren rangen um Sinn in einer sinnlosen Welt und setzten sich mit der Unausweichlichkeit von Tod und Isolation auseinander. Ich fühlte mich von diesen letzten Fragen des Menschseins unmittelbar angesprochen. Ich hatte das Gefühl, dass sie meine Geschichte erzählten: und nicht nur meine Geschichte, sondern auch die Geschichte eines jeden Patienten, der mich je aufgesucht hatte. Mir wurde immer klarer, dass viele der Probleme, mit denen meine Patienten kämpften – Altern, Verlust, Tod, Lebensentscheidungen wie Wahl des Berufs oder des Ehepartners – von Romanautoren und Philosophen angemessener angesprochen wurden als von den Kollegen meines eigenen Gebiets."
    Echtes Vergnügen für Yalom-Fans
    Und so sind diese Memoiren eines Psychotherapeuten zugleich ein Blick in seine Entwicklung als Leser und Schriftsteller. Mit zunehmenden Erfolg als Autor und Vortragsreisender verbringt der Stanford-Professor Yalom immer mehr Zeit auf Reisen. Er schreibt seine Romane und Essays auf Bali, Hawaii oder den Seychellen, sitzt in italienischen Kaffees oder französischen Bistrots, nimmt Ehrenpreise in Moskau, Wien, Athen oder Berlin entgegen. Seine langjährige therapeutische Auseinandersetzung mit den Ängsten und Depressionen seiner Patienten, seine Arbeit mit todkranken Krebspatienten und der Gedanke an die eigene Endlichkeit haben Yalom mitnichten zu einem Grübler gemacht.
    Manchmal denke ich, dass der Akt des Schreibens mein Versuch ist, den Lauf der Zeit und den unvermeidlichen Tod zu bannen. [...] Ich glaube, dieser Gedanke erklärt die Intensität meiner Leidenschaft zu schreiben – und damit nicht aufzuhören. [...] Alle meine Lektüren und Lebenserfahrungen haben mich gelehrt, wie wichtig es ist, so zu leben, dass man mit wenig Reue stirbt. In den darauffolgenden Jahren habe ich mich bewusst bemüht, großzügig und liebevoll zu jedem zu sein, der mir begegnete, und ich nähere mich mit angemessener Zufriedenheit dem Ende meiner achtzig Jahre.
    Yaloms Hinweise auf seine glückliche Ehe und seine reizenden vier Kinder, auf seine geschickten Gehaltsverhandlungen und Immobiliengeschäfte mögen zum Teil etwas geschwätzig und nicht immer stilsicher formuliert wirken. Dabei spiegeln sie seine Lebensrealität in leichtfüßiger Ungezwungenheit. Sie macht die Lektüre gerade für ausgewiesene Yalom-Fans, die es auch in Deutschland zu Tausenden gibt, zu einem echten Vergnügen.
    Irvin D. Yalom: "Wie man wird, was man ist. Memoiren einen Psychotherapeuten"
    Aus dem Amerikanischen von Barbara v. Bechtolsheim
    btb-Verlag, München 2017. 444 Seiten, 25 Euro.