Freitag, 19. April 2024

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IS am Ende?
Islamexperte: Die Bedrohung des Westens bleibt groß

Der Islamwissenschaftler Guido Steinberg hält die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) für geschwächt. Der IS sei heute darauf angewiesen, dass Unterstützer und Sympathisanten Anschläge in seinem Sinne verübten, sagte Steinberg im Dlf. Er rechne aber damit, dass irgendwann ein Anschlag im Sinne des IS passiere.

Guido Steinberg im Gespräch mit Birgid Becker | 03.03.2019
Guido Steinberg, Terrorismusexperte, Autor, aufgenommen am 05.03.2015 während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner"
Der Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte, Guido Steinberg (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
Wie hoch ist tatsächlich die Zahl der Personen, die sich weiterhin zugehörig fühlt zur Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS)? Die Zahlen, die in den letzten Monaten kolportiert worden sein, beispielsweise von der UNO, von der US-geführten Koalition, von den Irakern, würden stark voneinander ab weichen, sagte der Islamwissenschaftler Guido Steinberg im Dlf. Man müsse unterscheiden.
Es gebe zunächst einmal diejenigen Kämpfer, die noch aktiv, bewaffnet für die Gruppe im Irak, in Syrien und auch in anderen Ländern unterwegs seien. "Für den Irak und Syrien würde ich eine niedrige vierstellige Zahl ansetzen, also vielleicht zwischen 1.000 und 2.500 Mann, die immer noch, teilweise in Syrien aber vor allem im Irak aktiv sind." Darüber hinaus gebe es allerdings mehrere tausend Mann, vielleicht sogar im fünfstelligen Bereich, die sich immer noch der Gruppierung zugehörig fühlten im Irak und Syrien und bei denen vollkommen unklar sei, ob sie in den nächsten Monaten und Jahren wieder für die Organisation aktiv werden.
"Eine sehr stark irakisch geprägte Organisation"
Dazu kämen noch wenige tausend Mann, die in Ländern wie Libyen oder in Ägypten, im Jemen, in Afghanistan und mittlerweile sogar auf den Philippinen für die Organisation kämpfen. "Überall dort hat der IS Ablegerorganisationen gegründet, die alle recht klein sind, in der Regel nur wenige hundert Mann. Zusammengenommen ergibt das natürlich immer noch eine Organisation von mehreren tausend Mann plus ein großes Sympathisantenumfeld, das ja auch in Europa sehr stark ist."
Der IS sei immer noch eine sehr stark irakisch geprägte Organisation. "Iraker stellen sicherlich heute auch die meisten Mitglieder. Im Irak ist die Organisation etwa vor anderthalb Jahren in den Untergrund gegangen. Sie ist dort sehr stak, sie operiert wieder, sie ermordet Vorsteher, Militärs, Verwaltungsbeamte und zeigt damit, wie stark sie ist. In Syrien ist die Organisation immer noch präsent, ich würde sagen, dass Syrer wahrscheinlich das zweitgrößte Kontingent stellen. Und dann sind vor allem die Nationalitäten stark vertreten, die auch so etwa ab 2013 nach Syrien gereist sind. Das sind die Saudis, wie so oft, an erster Stelle, dann kommen die Tunesier, die Marokkaner, Türken, Jordanier sind stark vertreten, aber auch russischsprachige Rekruten aus Aserbaidschan, aus dem Kaukasus und anderen Gebieten."
Der Zustrom ausländischer Rekruten für den IS sei im physischen Sinne schon fast gestoppt. "Es ist kaum noch möglich, für einen Rekruten, der sich dem IS im Irak oder in Syrien anschließen will, in die Türkei zu reisen, so wie das bis 2018 noch möglich war, dort die Grenze zu überqueren und sich irgendwo einer IS-Gruppe anzuschließen." Das sei vielleicht theoretisch noch möglich und passiere vielleicht in dem einen oder anderen Einzelfall noch. Aber das sei sicherlich keine Massenbewegung mehr. "Es ist eher anzunehmen und auch zu befürchten, dass sich Rekruten jetzt sehr genau überlegen, wo sie denn hingehen. Je nachdem was für eine Sprache sie sprechen, was für eine Nationalität sie haben, dann entscheiden, gehe ich vielleicht nach Libyen, auf den Sinai, auf die Philippinen. Es gibt durchaus einige Hinweise, dass die Reisebewegungen in den letzten Jahren eher in die weitere Welt gehen und nicht mehr in den Irak und nach Syrien."
Geschwächte Gruppierungen mit gut ausgebildetem Personal
Nach Ansicht Steinbergs ist die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) inzwischen geschwächt. "Der IS war ganz besonders stark in den Jahren, als er einen Quasi-Staat kontrolliert hat und in Syrien und im Irak Leute ausbilden konnte aus aller Welt und die zurückschicken konnte. Das Ergebnis waren so fürchterliche und folgenreiche Anschläge wie beispielsweise die vom November 2015 in Paris auf das Bataclan. Zu solchen Anschlägen ist der IS heute wahrscheinlich nicht mehr in der Lage. Er ist darauf angewiesen, dass Unterstützer, Sympathisanten, vielleicht auch Mitglieder, die sich gerettet haben, in seinem Sinne Anschläge verüben. Ich glaube nicht, dass der IS noch in der Lage ist, Anschläge zentral anzuleiten und zu führen, wie er das zwischen 2014 und 2017 immer wieder getan hat."
Die Bedrohung des Westens bleibe aber weiterhin groß. Die Bedrohung gehe ja nicht nur vom sogenannten Islamischen Staat aus, sondern auch von Organisationen wie Al-Kaida. "Al-Kaida hat immer noch ein großes Netzwerk, die Organisation ist in Afghanistan vertreten, wenn auch schwach, sie ist im Jemen weiterhin sehr sehr stark. Sie ist in Syrien immer noch präsent, sie ist aber auch in der Sahel-Zone und in der Sahara stark und zusammengenommen bildet diese fragmentierte, geschwächte Szene dann eben doch eine Gefahr."
Das hätte man in den letzten Jahren immer mal wieder erleben können, wenn es diesen Unterstützern gelungen sei, Anschläge wie beispielsweise in Barcelona oder Großbritannien zu verüben. Dazu kämen einige besorgniserregende Anschlagspläne, die beinahe zum Erfolg geführt haben. "Da war einer dabei, da hat der IS über die Türkei Sprengstoff nach Australien geschickt, übrigens über Deutschland mit DHL, und dieser Sprengstoff sollte dort an Bord eines A380 in die Vereinigten Arabischen Emirate gebracht werden. Das ist letzten Endes gescheitert, aber wohl nur an Banalitäten. Und das ist ein Warnzeichen, dass jetzt diese sehr stark geschwächten Gruppierungen immer noch gut ausgebildetes Personal haben, die wissen wie man Bomben herstellt, wie man Gesellschaften erschüttert und wir müssen damit rechnen, dass irgendwann einmal in den nächsten Jahren einer dieser zahlreichen Anschlagsversuche zum Erfolg im Sinne der Terroristen führt."
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