Zum 250. Geburtstag

War Humboldt ein Humanist?

38:57 Minuten
Ein Gemälde von Alexander von Humboldt in Venezuela, er hält eine Pflanze in der Hand über einem Buch.
Alexander von Humboldt kennen wir vor allem als Naturforscher - dabei hat er Natur und Kultur immer zusammen gedacht, meint Ottmar Ette. © imago / United Archives
Ottmar Ette im Gespräch mit René Aguigah · 08.09.2019
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Naturforscher, Weltreisender, Kulturwissenschaftler – Alexander von Humboldt war ein "Vordenker für das 21. Jahrhundert", meint der Humboldt-Forscher Ottmar Ette: Für unseren Blick auf Mensch und Natur tauge er noch heute als Vorbild.
Alexander von Humboldt, der am 14. September seinen 250. Geburtstag hat, leistete in zahlreichen Wissensgebieten Pionierarbeit: unter anderem als Botaniker, Bergbauingenieur, Geograph, Sprachforscher, Amerikanist. Wenn dieser Tage an ihn erinnert wird, stehen oft einseitig seine Leistungen als Naturforscher im Vordergrund. Zu Unrecht, meint der Potsdamer Humboldt-Experte Ottmar Ette, weil es Humboldts Denken grundlegend widerspreche, "die Natur vom Menschen abzutrennen".

Jenseits von Natur und Kultur

Im Gegenteil habe Humboldt gerade "das Verwobensein von Natur und Kultur" herausgestellt, die Natur und ihre Betrachtung ihrerseits als "immer schon kulturell definiert" aufgefasst.
Schon Anfang des 19. Jahrhunderts erklärte Humboldt etwa ein Entwässerungsvorhaben der spanischen Kolonialisten in Mexiko durch deren kulturelle Verwurzelung in den trockenen Landschaften Spaniens, denn so Ette: "Sie wollten ihre Vorstellung einer beherrschbaren Landschaft in die mexikanische Hochfläche projizieren."

"Humboldt ist unser Zeitgenosse"

Diese Sensibilität für die "kulturellen Hintergründe, die Menschen dazu bringen, anti-ökologisch vorzugehen", müssten wir uns auch heute mit Blick auf die Klimakrise zu eigen machen. Andernfalls erfasse man "immer nur eine Hälfte des Problems".
Nicht zuletzt der Versuch, Natur und Kultur nicht als getrennte Sphären zu denken, macht Humboldt heute so aktuell. "Er ist unser Zeitgenosse", sagt Ette, ein "Vordenker für das 21. Jahrhundert". Das zeigt sich unter anderem daran, dass auch aktuelle Forschungen zum Natur-Kultur-Verhältnis an Humboldts Denken anschließen.

"Viellogisch" denken, "archipelisch" schreiben

Insbesondere die "Vielgestaltigkeit" seines Werks fasziniere bis heute: Darunter versteht Ette nicht nur die mannigfaltigen Interessen und Forschungen Humboldts, von Botanik über Geographie bis zu den Zeitvorstellungen indigener Völker. Auch seine Vielsprachigkeit habe es ihm erlaubt, "viellogisch" zu denken. "Humboldt war überzeugt, dass wir die Welt nicht von einer einzigen Sprache aus begreifen können, sondern dass wir verschiedene Perspektiven brauchen."
Ein Gemälde zeigt Alexander von Humboldt mit Aimé Bonpland im Tal von Tapia am Fuß des Vulkans Chimborazo.
Seine Reisen brachten Alexander von Humboldt auch an den Fuß des Chimborazo im heutigen Ecuador, hier auf einem Gemälde von Friedrich Georg Weitsch.© imago / akg-images
Als Sohn einer französischen Mutter und eines preußischen Kammerherrn zweisprachig aufgewachsen, habe er im Laufe seines Lebens noch ein Dutzend weitere Sprachen erlernt und systematisiert. Auch in seinem Schreiben wechselte er zwischen Deutsch, Französisch und Spanisch, wie er überhaupt ein "archipelisches Schreiben" praktiziert habe, so Ette:
"Humboldt schreibt in Inseln, in relativ kurzen Texten", die zwar in sich abgeschlossen, aber untereinander verbunden seien. Diese Schreibweise habe es ihm ermöglicht, "von einer Insel auf die nächste springen" und dabei immer wieder einen "wechselnden Blickpunkt" einzunehmen.

Zwischen Humanist und Sklavenhalterfreund

Zu den widersprüchlichen Facetten Humboldts gehört, dass er selbst zwar im Laufe seiner Reisen rassistische Vorurteile gegenüber indigenen Völkern abgelegt und, wie Ette betont, sich ausdrücklich gegen Sklaverei und Kolonialismus ausgesprochen habe. Zugleich aber hätte er anhaltende Freundschaften mit Sklavenhaltern geknüpft und deren Gastfreundschaft genossen, um – wie Ette es sieht – überhaupt an Informationen über den Sklavenhandel zu gelangen.
Ähnlich verhalte es sich mit Humboldts Verhältnis zur Monarchie: Einerseits überzeugter Republikaner und Anti-Monarchist, andererseits enger Freund der preußischen Könige. Humboldt sei eben Realist gewesen, meint Ette: "Er hat die preußische Monarchie als etwas gesehen, was zu diesem Zeitpunkt nicht abschaffbar war."
Ein Portrait von Ottmar Ette bei einem Vortrag auf der Bühne.
Der Humboldt-Forscher Ottmar Ette bei einem Vortrag.© Universität Potsdam / Judith Affolter
Die Erklärung für diesen "Spagat" sieht Ette in der besonders ausgeprägten Fähigkeit Humboldts, "gleichzeitig in verschiedenen Logiken denken und diese gelten lassen" zu können, "um nicht einer einzigen ausgeliefert zu sein". Seinen demokratischen und anti-kolonialen Überzeugungen sei er aber treu geblieben. Auch als Wissenschaftler habe er sich in einer "gesellschaftlichen Verantwortung" gesehen und immer wieder versucht, die Öffentlichkeit durch die richtigen Worte für komplexe Probleme zu begeistern.

Eine "höchst menschliche Figur"

Trotz der spürbaren Begeisterung für Humboldts Schaffen, verwahrt sich Ette gegen eine Heroisierung des weitgereisten Preußen, nicht zuletzt weil dieser selbst sich zu Lebzeiten gegen jede Überhöhung seiner Person gewehrt habe. Humboldt, das bleibt für Ette eine zwar außergewöhnliche, aber doch "höchst menschliche Figur".

Ottmar Ette ist seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam. Über Alexander von Humboldt hat er zahlreiche Bücher und Aufsätze verfasst, sowie dessen Schriften neu herausgegeben. Für seine Veröffentlichungen wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Ottmar Ette: "Alexander von Humboldt und die Globalisierung – Das Mobile des Wissens"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2009, 476 Seiten, 14 Euro.

Ottmar Ette (Hrsg.): "Alexander von Humboldt-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung"
Metzler Verlag, Stuttgart 2018, 331 Seiten, 99 Euro.

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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