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Isabel Fargo Cole: "Die grüne Grenze"
Poetische Landnahme im Sperrgebiet

Mit "Die grüne Grenze" legt die US-amerikanische Wahlberlinerin Isabel Fargo Cole einen atmosphärisch dichten Zeit- und Künstlerroman vor. Sie erzählt von einem jungen Ost-Berliner Künstlerpaar, das 1973 in den Harz zieht und sich ausgerechnet im DDR-Sperrgebiet in politischer Sicherheit wähnt.

Von Katrin Hillgruber | 19.01.2018
    Buchcover Isabel Fargo Cole: Die grüne Grenze und ein Foto der Autorin auf der Frankfurter Buchmesse 2017
    Buchcover Isabel Fargo Cole: "Die grüne Grenze" und ein Foto der Autorin auf der Frankfurter Buchmesse 2017 (Edition Nautilus / Deutschlandradio Jelina Berzkalns)
    Julius Cäsar, Tacitus und Plinius der Ältere waren die ersten Ausländer, die in ihren Schriften von den Wundern des Harzes kündeten. Auf den Kämmen des deutschen Mittelgebirges wollten die Römer knielose Elche gesichtet haben, die sich zum Schlafen an die Bäume lehnten, oder Vögel, deren Gefieder nachts leuchte wie Feuer. Eine ähnlich starke Faszination muss der Herzynische Wald, wie der Harz nach der germanischen Überlieferung genannt wird, auch auf die Amerikanerin Isabel Fargo Cole ausgeübt haben. Die sprechenden Namen der Dörfer Sorge und Elend gingen der Germanistikstudentin aus Illinois nicht mehr aus dem Kopf:
    "Das fing damit an, dass ich 1991 das erste Mal durch Ostdeutschland gereist bin mit meiner ehemaligen Austauschpartnerin, da sind wir auch durch den Harz gefahren mit der Schmalspurbahn durch Sorge und Elend. Und da bleiben diese Namen natürlich hängen. Und dass auf dem Brocken dann eben diese russische Abhöranlage war und dieses sich Überschneiden von mythischer und Zeitgeschichte und diese Grenze: Da dachte ich mir schon, das ist wirklich eine spannende Gegend. In den 90ern, als ich in Berlin gelebt habe, war ich mal wieder dort auf Wanderurlaub und habe mich da auch ein bisschen mit diesen Grenzgeschichten beschäftigt und mit der Geschichte. Das wucherte irgendwann alles und es kam immer mehr zusammen und ich habe gemerkt, wie viele Schichten es da gibt in dieser Gegend."
    Wie ein am Überhang stehen gebliebener Zug
    "Die grüne Grenze" heißt Isabel Fargo Coles Debütroman, den sie in traumsicherem Deutsch geschrieben hat. Sie pflegt einen elegischen, versonnenen Stil, der Seltenheitswert hat.
    "Das Dorf Sorge liegt im Tal wie ein am Überhang stehen gebliebener Zug. Westlich der Eisenbahnbrücke ziehen sich die Waldhänge leicht zusammen, schon die Auen sind von einem undurchdringlichen Grün, wie auf einem gemalten Bild; nur ein Kind will wissen, was hinter einem Bild steckt."
    Der atmosphärisch dichte Zeitroman setzt 1973, dem Geburtsjahr der Autorin, im einstigen DDR-Teil des Harzes ein und endet 1987. Um die Geschichte des jungen Künstlerpaares Thomas und Editha möglichst exakt verorten zu können, las sich Isabel Fargo Cole in die jahrhundertealte Sagenwelt der Region ein. Außerdem unternahm sie aufwendige Recherchen, unter anderem im Landesarchiv Sachsen-Anhalt, im Bundesarchiv und in der Harzbücherei Wernigerode. Vor allem aber sprach sie mit Bewohnern des damaligen Sperrgebietes, in dem auch der Ort Sorge lag. Pilzesammeln durfte man nur mit einer Sondergenehmigung.
    Suche nach dem russischen Ersatzvater
    Ausgerechnet dort, wo man nachts die ausgehungerten Hunde der DDR-Grenzsoldaten heulen hört, wähnt sich der Schriftsteller Thomas Grünwald in Sicherheit vor den Nachstellungen der Stasi – weit weg von Ost-Berlin, dessen Geisteszustand er als erregt und wirr erlebt, wie es heißt. Als jüdisches Waisenkind hatte er den Zweiten Weltkrieg in einem Versteck überlebt. Anschließend adoptierte ihn ein Rotarmist, der ihn aber wieder abgeben musste. Die Suche nach dem russischen Ersatzvater Lew durchzieht den Roman, dessen vielfältige Geheimnisse sich nach und nach märchengleich auflösen.
    Mit seiner schwangeren Frau Editha, einer Bildhauerin mit staatlichen Aufträgen, zieht Thomas im Frühjahr 1973 in das ehemalige Ausflugslokal der vermeintlich systemtreuen Schwiegermutter. Mit einiger Naivität will er ausgerechnet einen – wenn auch im Mittelalter spielenden - Roman über die Grenze schreiben. Schließlich hatte der Staatsratsvorsitzende Honecker in einer kurzen kulturpolitischen Entspannungsphase verkündet, in der Literatur gebe es keine Tabus mehr. Doch an dem Unterfangen, einen Roman über die innerdeutsche Grenze zu verfassen, sind schon manch andere gescheitert – etwa 1960 der Hamburger Journalist Karsch in Uwe Johnsons Leipziger Roman "Das dritte Buch über Achim". Auch für Isabel Fargo Cole hat die innerdeutsche Grenze eine autobiografische Bewandtnis. Als Vierzehnjährige sah die Amerikanerin zum ersten Mal die Berliner Mauer, seit 1995 lebt sie in der Stadt.
    "Ich war das erste Mal 1987 in Berlin. Wir haben in der achten Klasse einen Austausch bekommen mit Bielefeld mit kurzem Ausflug nach Berlin, da stand die Mauer noch. Wir hatten so eine ganz kurze Rundfahrt durch Ostberlin, und da war sofort das Bedürfnis da, irgendwie hinüber zu können und den Menschen zu begegnen, die auf der anderen Seite leben. Und als die Mauer dann weg war, da hatte ich eben mein College-Studium hinter mir in Chicago, dann bin ich einfach gleich nach Berlin."
    Viel gelesen und gesprochen, weniger gehandelt
    Nicht umsonst hat Isabel Fargo Cole einen Schriftsteller als Hauptfigur ihres vielschichtigen, dafür im Gegenzug kontemplativen und recht statischen Harzpanoramas gewählt. Thomas recherchiert über den Mönchsweg, er korrespondiert mit seinem Lektor und freundet sich mit dem örtlichen Antiquar an. Es wird in diesem Buch daher viel gelesen und gesprochen, dafür weniger gehandelt.
    "Des schlafenden Kaisers Bart breitete sich über den Einband, überwucherte die Vorsatzblätter, die Überschriften trieben aus, selbst die Farbdrucke schienen in geilem Wachstum begriffen. Das konnten die Menschen damals: sich der grauen Vernunft widersetzen, die grauen Gestalten von sich weisen. Man konnte das Buch kaum aus den Augen lassen, so wie es seine Triebe ausschickte."
    Thomas muss erkennen, dass selbst im abgelegensten Winkel der DDR kein apolitisches Leben möglich ist. Er wird zu unfreiwillig komischen Lesungen vor schreibenden Arbeitern aufgefordert und soll der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft Tribut zollen. Von ferne dringen Erschütterungen wie die Biermann-Ausbürgerung im November 1976 heran und drohen die Kleinfamilie zu destabilisieren. Thomas fühlt sich beobachtet, so dass er eine Geheimbibliothek anlegt. Das gibt Isabel Fargo Cole Gelegenheit, Plinius zu zitieren, aber auch tief in die deutsche Geschichte und deren Harzmythen abzutauchen, bis hin zu Görings Lebensborn-Heim in Wernigerode.
    "Dieser Waldmythos ist natürlich erst einmal ein identitätsstiftender deutscher Mythos und wurde von den Nazis missbraucht. Und das war so eine Spannung, die mich sehr interessiert hat, diese Idylle der Nazis, die sie heraufbeschworen haben, diese Naturidylle, dieses Einssein mit der Natur, dass sie sozusagen die Natur für sich reklamieren, dieses Utopische. Diese Harzkreise waren eben sehr wichtig in der Nazi-Ideologie, das waren eben die Kaiser, die oft eine Ostexpansion betrieben haben und Pate standen für diese Operation Barbarossa.
    Allmählich entwickelt sich die Tochter Eli zur zentralen Figur. Früh schon bekommt das aufweckte Mädchen mehr von seiner Umgebung mit, als es den Eltern recht sein kann. Eines Tages verschwindet Eli im dichten Wald – handelt es sich etwa um eine angeborene Neigung zur Republikflucht, wie es heißt? Das ist nur eine von vielen Fragen, die Isabel Fargo Cole bei ihrer geglückten poetischen Landnahme aufwirft, aber nicht unbedingt beantwortet – denn entscheidend an diesem Buch ist seine grüngesättigte Atmosphäre.
    Isabel Fargo Cole: Die grüne Grenze. Roman. Edition Nautilus, Hamburg. 496 Seiten, 26 Euro.