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Islam bedeutet Hingabe

In seinem Roman "Allahs Töchter" lässt Nedim Gürsel den Propheten Mohammed zum Fantasiehelden eines Jungen in der Türkei werden. Mit dem Verlust seiner Naivität kommt dem Romanhelden jedoch auch sein Glauben abhanden.

Von Oya Erdogan | 31.05.2012
    Die Zeiten ändern sich. Nichts bleibt, wie es ist. Nur das Wort Gottes soll ewig währen. Doch dieser Gott, arabisch Allah, scheint weit weg zu sein. Wundert es dann, wenn ein leidenschaftlicher Erzähler und Schriftsteller sich auf das Wort schwingt, um in Wüsten und Paradiesgärten dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen? Und wundert es, da dieser Gott in so unerreichbaren Fernen weilt, dass die Menschen Götzenbilder einsetzen, die sich handfest um ihre Belange kümmern? In der Zeit der Unwissenheit – der vorislamischen Periode – sind das die sogenannten Töchter Allahs: Lat, Uzza und Manat, Götzen aus Stein und Holz, die in der Kaaba in Mekka stehen.

    Nedim Gürsel ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Er lässt in diesem kunstvoll aufgebauten, ungemein vielschichtigen Roman, der zum Teil auch autobiografische Züge enthält, viele Stimmen erklingen. Ein in die Jahre gekommener Erzähler erinnert sich an seine Kindheit und auf wunderbare Weise verweben sich die fantastisch überbordende Gefühls-und Gedankenwelt eines kleinen Jungen in der Türkei mit den Legenden und Prophetengeschichten des Islam, wie auch dem Leben seines Großvaters. Dieser hat den Niedergang des Osmanischen Reichs erlebt und musste im ersten Weltkrieg Medina, die Stadt des Propheten, gegen seine arabischen Glaubensbrüder verteidigen, die mit den Engländern unter der Führung von Lawrence von Arabien gemeinsame Sache machten.

    Nedim Gürsel changiert meisterhaft mit den unterschiedlichen Zeitebenen, Schicksalen, Schauplätzen und Erzählperspektiven, und immer wieder taucht – auf verschiedenen Ebenen – die ungelöste Frage auf: Wie lässt sich der Glaube verstehen, wie die Gewalt, die ihn begleitet? Bedeutet Islam doch Frieden wie auch Hingabe. Das Leben des kleinen Jungen bei seinen Großeltern ist erfüllt von Seligkeit, doch plagen ihn auch seine schrecklichen Ausmalungen der Hölle. Zugleich ist er völlig bezaubert vom geheimnisvollen Klang des Arabischen, den Koranrezitationen, und er steht ganz im Bann der religiösen Wunder und Geschichten. Während seine gleichaltrigen Freunde über Tarzan schwärmen, wird für ihn Mohammed, der Prophet, zum Held seiner kühnsten Träume und Fantasien.

    Mit leichter Melancholie trauert der Erzähler diesem verlorenen Paradies der Kindheit nach, der Zeit, als eine naive Hingabe noch möglich war. Denn mit dem eigenen Verstehen des Textes der Offenbarung verlieren die Worte etwas von ihrem magischen Zauber, und nicht nur das, sie führen für ihn auch etwas unverständlich Profanes herauf, so dass die Kenntnis der Bedeutung der koranischen Worte ihn letztlich seines Glaubens beraubt.

    Seine lebhafte Fantasie und Lust am Erzählen hat er jedoch nicht verloren. So ist der Roman sehr sinnenfreudig, auch erotische und phallische Passagen, gebettet in feine Ironie, säumen die Karawane der Heiligensagen. Starke Persönlichkeiten treten auf, Wegstreiter und Feinde Mohammeds, Frauenfurien, Verrückte, Dichter und Derwische, und natürlich die Töchter Allahs: Göttinnen, die reden, wie Frauenzimmer reden, sehr menschlich, durchwegs ausgestattet mit Gefühlen wie Neid, Schadensfreude oder Begehren. Ebenso ist auch der Prophet als Romanfigur sehr menschlich gezeichnet, in einer respektvollen Mischung aus Bewunderung und Fragezeichen.

    Es verwundert allerdings nicht allzu sehr, dass Nedim Gürsel nach Erscheinen seines Romans in der Türkei vor Gericht zitiert wurde: Anklage wegen Blasphemie. Für seine Romane studiert Nedim Gürsel jedoch immer sehr gewissenhaft die historischen Quellen, um diese dann mit seiner Interpretation und Fabulierkunst auszuschmücken und lebendig zu machen. Zu den fundierten Belegen der islamischen Überlieferung gehören die "Satanischen Verse" ebenso wie der Titel seines Romans, "Allahs Töchter", der auf die 53. Sure des Korans zurückzuführen ist. Die Anklage wurde inzwischen fallen gelassen.

    Nedim Gürsel lebt in Paris und lehrt türkische Literatur an der Sorbonne. Der 1951 Geborene kann auf eine 40-jährige literarische Tätigkeit zurückblicken mit zahlreichen Essays und seinen letzten beiden Romanen "Der Eroberer" und "Turbane in Venedig". Er zählt zu den wichtigsten Schriftstellern der Türkei und seine Werke liegen in über zwölf Sprachen vor. Für die deutsche Leserschaft gelingt es Barbara Yurtdaş mit ihrer ausgezeichneten Übersetzung von "Allahs Töchter", den Zauber der Erzählkunst Nedim Gürsels vollends zu bewahren.

    Literaturhinweis:

    Nedim Gürsel: Allahs Töchter, Suhrkamp Verlag, 350 Seiten, 24,95 Euro