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Islam ohne Bart

Predigerinnen, die muslimischen Frauen zur Seite stehen, waren jahrhundertelang so gut wie vergessen - nun beginnen Länder wie die Türkei das Amt wiederzubeleben. Die sogenannten Vaizes sind Beraterinnen in religiösen Fragen, aber auch bei Problemen des alltäglichen Lebens.

Von Luise Sammann | 24.10.2012
    Es riecht nach einer Mischung aus nackten Füßen und Damenparfüm in der gut gefüllten Moschee im Istanbuler Stadtteil Üsküdar. Über hundert Frauen sind gekommen, kein einziger Mann weit und breit. Denn die Predigt hält an diesem Tag nicht etwa ein Imam, sondern eine weibliche Predigerin, eine Vaize.

    Auf dem roten Moscheeteppich hocken junge Gläubige mit schick glänzendem "Seidentürban" neben alten Türkinnen, die die geblümten Dreieckstücher unter dem Kinn verknotet haben. Eine elegante junge Frau ganz in lila liest den Korantext auf ihrem iPad mit, die Alte neben ihr wiegt sich sanft im Rhythmus der Rezitation vor und zurück.
    Die 45-jährige Nuray kommt extra vom anderen Ende der Stadt angefahren, nur um der Vaize zu lauschen. Denn:

    "Früher gab es so etwas für uns Frauen nicht. Mein Vater ging am Freitag in die Moschee – und berichtete uns danach, was er gehört hatte. Aber jetzt bekommen wir Frauen direkte Informationen. Die Vaizes sind gebildet, sie haben studiert und beantworten unsere Fragen. Das ist ein Meilenstein in der Geschichte unseres Landes."

    Nuray verstummt, denn nun beginnt die Vaize mit ihrer Predigt. "In der Moschee sind wir alle gleich", ruft sie den Frauen zu. "Der Professor sitzt in der Moschee neben dem Bauarbeiter – ohne Unterschied!" Nuray nickt zustimmend. Die Frau neben ihr zückt Stift und Papier, beginnt sich eifrig Notizen zu machen.

    "Oft lesen wir Frauen einfach nur den arabischen Koran, ohne ihn zu verstehen. Wieder und wieder, vierzig Mal die gleiche Sure. Aber hier folgt nach dem Lesen eine Erklärung auf Türkisch. Das ist der Grund, warum wir hier sind."

    Gut zwei Stunden dauert das wöchentliche Zusammentreffen. Die Frauen hören Geschichten aus dem Leben des Propheten, lassen sich von der Vaize einzelne Verse des Korans erklären, stellen Fragen.
    Nach der Predigt sitzt die Vaize im Schatten einer großen Pinie, umringt von einer Gruppe Frauen, die ihr auch jetzt noch an den Lippen hängen. Theologin, Freundin, Seelsorgerin – Vaize Fatma Bayram ist alles zusammen.

    "Eine Vaize muss alle erreichen können: Ungebildete Hausfrauen genauso wie Akademikerinnen oder Geschäftsfrauen, Alte und Junge. Wir versuchen alle Lebensbereiche zu behandeln: die persönliche Entwicklung, die Seelenlage, Familie und soziale Verantwortung. Als ich als Vaize angefangen habe, waren wir gerade mal drei in ganz Istanbul. Inzwischen sind wir über 50!"

    Fatma Bayram selbst hat in ihrer Jugend nie eine Vaize zu Gesicht bekommen. Ihre Fragen behielt sie für sich, bis sie schließlich ein Theologiestudium begann und sich ihre Antworten selbst suchte. Doch diese Möglichkeit hat nicht jede Türkin.

    "Die Frauen haben oft auch intime Fragen. Zu ihrer Periode zum Beispiel, während der sie als unrein gelten. Wann genau beginnt diese Zeit, wann hört sie auf? Natürlich ist es schwierig, drüber mit einem männlichen Prediger zu sprechen. Oder sie möchten wissen, was die Religion ihnen zu innerfamiliären Problemen rät."

    Moscheen sind in der Türkei – genau wie Politik und das Geschäftsleben – oft Männersache. Doch das soll sich ändern, wenn es nach dem Amt für religiöse Angelegenheiten in Ankara geht. Erst im letzten Jahr wurde eine Kampagne gestartet, um die Frauenbereiche der Moscheen Stück für Stück auszubauen – bisher gleichen sie oft Besenkammern. Auch Frage-Hotlines für Musliminnen wurden eingerichtet, die Imame sind angehalten, das Thema häusliche Gewalt anzusprechen und in Istanbul gibt es seit einigen Jahren gar die erste weibliche Vize-Mufti der Republik. Auch die Vaize sind Teil dieser Politik.

    "Unser Ziel ist es, die Zahl der weiblichen Predigerinnen Stück für Stück zu erhöhen. Die Hälfte unserer Bevölkerung sind schließlich Frauen! Wir brauchen letztendlich so viele weibliche wie männliche Prediger. Natürlich ist es heutzutage leicht sich in TV, Radio oder Internet zu informieren. Aber wie korrekt sind die Informationen dort?"

    Dursun Aygün ist bei der türkischen Religionsbehörde in Ankara für die Koordination der Vaize zuständig. Über Jahrhunderte war deren Tradition in der islamischen Welt wie ausgestorben. Inzwischen beschäftigt Dursun Aygüns Behörde fast 500 Frauen an türkischen Moscheen. Der tatsächliche Bedarf, gibt er zu, liegt unendlich viel höher. Denn in einer globalisierten Welt, in einem aufstrebenden Land wie der Türkei, wird täglich an alten Rollenbildern gerüttelt.

    Dürfen muslimische Frauen arbeiten gehen? Dürfen sie sich scheiden lassen? Dürfen sie Politikerinnen werden, öffentlich auftreten, Männer unterrichten? Dürfen sie, antwortet Vaize Fatma Bayram, ohne zu zögern.

    "Es gibt viele Geschichten, die davon erzählen, wie aktiv die Frauen zur Zeit unseres Propheten waren. Da waren immer Frauen, die lesen und schreiben konnten, die unterrichteten und Patienten heilten. Da waren Frauen, die Handel trieben und andere, die in den Krieg zogen. Sie waren überall aktiv, wo man es sich nur vorstellen kann."

    Doch auch Fatma Bayram weiß, dass die Realität in ihrem Heimatland heute oft anders aussieht. In keinem anderen europäischen Land ist der Anteil der arbeitenden weiblichen Bevölkerung so gering wie in der Türkei – der Anteil der Analphabetinnen dagegen so hoch. "Informiert euch, bildet euch", ruft die Vaize ihren Zuhörerinnen deswegen allwöchentlich zu.

    Denn auch, wenn knapp 500 Predigerinnen in einem Land mit über 75 Millionen Einwohnern noch keine Revolution darstellen – sie sind ein Anfang.