Donnerstag, 18. April 2024

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Islam und Emanzipation - Teil 5
"Mein Kopftuch, meine freie Entscheidung"

Gabriele Boos-Niazy ist vor rund 30 Jahren zum Islam konvertiert. Lange hat sie damit gerungen, das Kopftuch zu tragen. Jetzt trägt sie es selbstbewusst. Sie engagiert sich im Aktionsbündnis muslimischer Frauen und sagt: Wir sind emanzipiert, wir müssen nicht dauernd darüber reden - und wir wollen uns nicht von Alice Schwarzer belehren lassen.

Gabriele Boos-Niazy im Gespräch mit Christiane Florin | 13.04.2016
    Gabriele Boos-Niazy - aktiv im Aktionsbündnis muslimischer Frauen
    Gabriele Boos-Niazy trägt aus freier Entscheidung ein Kopftuch (Deutschlandfunk/ Gabriele Boos-Niazy - privat)
    Christiane Florin: Sie sind katholisch aufgewachsen und jetzt sitzen Sie vor mir als Muslimin mit Kopftuch.
    Gabriele Boos-Niazy: Ja, wenn mir das einer gesagt hätte, hätte ich wahrscheinlich auch gesagt: 'in echt jetzt, wie kommt das?' Die Auseinandersetzung mit Religion, die hat früher angefangen, so mit 15, 16. Bestimmte Dinge in der katholischen Kirche – ich bin auf dem Land aufgewachsen, in der Stadt wäre das vielleicht auch nochmal anders gewesen – bestimmte Dogmen, die habe ich nicht verstanden. Erbsünde, Sakramente, die Taufe, warum ist das notwendig? Im Umfeld habe ich nicht die entsprechenden Antworten gefunden. Ich habe dann, das weiß ich noch, einmal ein Gespräch mit dem Pastor ausgemacht, um mit ihm über die Dreifaltigkeit, über die Trinität zu sprechen, und zu ihm gesagt: 'Jetzt erklären Sie mir das doch bitte so, dass ich das verstehen kann.' Aber ich konnte es nicht verstehen. Am Ende ist es dann immer ein Geheimnis des Glaubens, und das war für mich irgendwie unbefriedigend. Dann hatte ich eigentlich damit abgeschlossen.
    Florin: Und was verstehen Sie im Islam?
    Boos-Niazy: Am Islam hat mich diese Betonung des Verstandes fasziniert, diese Aufforderung, nachzudenken. Ich habe das im Katholizismus anders empfunden. Da war es eher diese Weitergabe – man soll nicht so viel fragen. Wer viel fragt, hat mir meine Oma mal gesagt, wer viel fragt, kommt in die Hölle. Und ich habe gesagt: 'Nee, Oma, so kann das eigentlich nicht sein. Wenn Gott einem einen Verstand gegeben hat, dann kann es dafür eigentlich keine Strafe geben.' Aber das war nun mal das klassisch Traditionelle, mit dem ich aufgewachsen bin. Das habe ich halt im Islam ganz anders kennengelernt. Nicht 'du sollst glauben und dann verstehen', sondern 'du sollst erst verstehen und dann kommst du zum Glauben'.
    Florin: Wenn Ihnen die katholische Kirche die Vorgabe gemacht hätte, zieh ein Kopftuch an, hätten Sie es dann tatsächlich gemacht?
    Boos-Niazy: Also wenn ich, durch eigenes Nachdenken dahin gekommen wäre zu verstehen, was für einen Sinn das hat, sicher. Im Islam, das ich wusste sehr früh, gehört das Kopftuch irgendwie dazu. Ich habe es aber sehr lange nicht getragen, weil ich mich mit dem Thema nicht auseinandergesetzt hatte. Ich wusste, das gibt es, aber es ist jetzt nicht meine Baustelle. Meine Baustelle sind erstmal viel grundlegendere Dinge als ein Kopftuch. Das ist nach und nach erst gekommen, dass ich für mich den Sinn darin gefunden habe und dann gesagt habe, ok, was mach ich denn jetzt? Das war sehr, sehr schwierig. Ich hab über ein Jahr erstmal einen Hut getragen, weil ich nicht wusste, wie reagieren andere darauf. Das hat mich schon erstmal ein bisschen geärgert, weil ich das Gefühl hatte: Warum bin ich so schwach und so abhängig davon, was andere von mir denken? Irgendwann war der Punkt, wo ich gedacht habe, jetzt möchte ich das einfach machen. Und dann habe ich das auch gemacht.
    Florin: Was ist der Sinn des Kopftuchs?
    Boos-Niazy: Das kann man wirklich nicht in zwei Sätzen erklären...
    Florin: Sie haben auch Zeit für zehn Sätze.
    Boos-Niazy: Auch in zehn Sätzen nicht. Ich hab oft überlegt, wie kann man das erklären. Das, was für mich das Bild ist, mit dem man am besten vielleicht verstehen kann, was ich meine: Wenn Sie sich vorstellen, Sie hätten vor sich ein riesiges Wandmosaik und Sie stehen jetzt im Abstand vor einem Meter davor, sehen einen roten Mosaikstein und sagen: 'Was ist denn die Funktion von diesem roten Stein da?' Da wird jeder ihnen sagen: 'Ja, du musst zuerst mal zehn oder 15 Meter zurückgehen und das Ganze betrachten und dann siehst du, warum dieser Stein dort ist und du siehst auch, dieser Stein ist nicht das ganze Mosaik.' So ist das auch mit dem Kopftuch. Es ist ein Blatt an einem Baum.
    Florin: Sie haben das jetzt so erzählt, dass die Entscheidung für das Kopftuch Ihre eigene Entscheidung war. Das heißt, es hat Ihnen kein Mann gesagt: Ich würde dich lieber mit Kopftuch sehen statt ohne.
    Boos-Niazy: Ich hab nie mit meinem Mann über das Kopftuch gesprochen. Wir haben das mit keinem Wort erwähnt. Und erst Jahre, nachdem ich das Kopftuch trug, habe ich ihn gefragt: Warum hast du eigentlich nie darüber geredet ?
    Florin: Man muss dazu sagen, Ihr Mann ist Muslim.
    Boos-Niazy: Ja. Und dann hat er zu mir gesagt: 'Warum hätte ich das machen sollen? Es ist deine Entscheidung, es ist dein Weg, und ich hätte auch gewusst, wenn ich gesagt hätte, es wäre schön, wenn du das machen würdest, dann hättest du das Gegenteil davon gemacht.'
    Florin: Was hat das Kopftuch bei Ihren Freunden ausgelöst?
    Boos-Niazy: Die Freunde, die mich schon lange kannten, da hat es mal so ein bisschen Zusammenzucken vielleicht ausgelöst, aber eigentlich keine Konsequenzen gehabt. Die haben nach einer Zeit gesehen, ich hab mich eigentlich nicht verändert, ich bin genau wie vorher. In dem persönlichen Umfeld, für meine Mutter, war das natürlich schwierig. Das hat auch längere Zeit gedauert, weil sie sich Gedanken gemacht hat, wie die Reaktionen von anderen sind. In der näheren Verwandtschaft ist es lustiger weise so, dass es nie thematisiert wird, keiner spricht darüber.
    Florin: Warum ist das so?
    Boos-Niazy: Das ist irgendwie so, als hätte man – ich weiß nicht was – einen roten Fleck auf der Stirn und keiner thematisiert es. Es hat mich nie irgendjemand gefragt.
    Florin: Und wenn Sie durch die Straßen gehen, haben sich da die Reaktionen verändert, innerhalb der Jahre, der Jahrzehnte?
    Boos-Niazy: Das ist eine gute Frage. Ich bin ja ziemlich kurzsichtig und habe mir angewöhnt, immer nur so ungefähr zu gucken und sehe selten, wie Menschen mich ansehen. Und bin auch sehr selten mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Wenn ich das bin, also das ist mir zuletzt das erste Mal, als ich hier in Köln war, passiert: Als ich auf der Treppe zum Ausgang der U-Bahn ein älterer Mann entgegen kam und dann 'Scheiß Ausländer' gesagt hat.
    Ich weiß nicht, ich merke das manchmal an der Reaktion meines Mannes. Als wir mal irgendwo im Urlaub waren, in einem kleineren Ort, wo es eben keine Frauen mit Kopftüchern gibt, und wir sind da an einem Café vorübergegangen und er drehte sich auf einmal um und sagte zu den Leuten, die da saßen: 'Sieht gut aus, oder? Soll ich sie Ihnen einpacken?' Und dann habe ich erst gemerkt, ach – die haben uns alle nachgeguckt. Ich selbst sehe das in der Regel nicht.
    Florin: Trägt Ihre Tochter auch Kopftuch?
    Boos-Niazy: Ja. Das ist halt so.
    Florin: Warum ist gerade das Kopftuch zu einem solchen Streitobjekt geworden. Warum dieses 'Stück Stoff', wie es in manchen Zeitungsartikeln heißt?
    Boos-Niazy: Wir machen eigentlich die Erfahrung, dass Menschen, die selber eine sehr feste eigene Position und ein ausgewogenes Selbstbild haben und auch eins, das nicht so leicht zu erschüttern ist, dass die in der Regel anders über das Kopftuch diskutieren, nicht so emotional, dass sie eher neugierig sind. Die Gruppe, die am meisten Probleme damit hat, sind Frauen in meinem Alter, die mit diesen typischen Emanzipationsvorstellungen der Alice-Schwarzer-Zeit groß geworden sind. Da habe ich manchmal schon das Gefühl, es ist deshalb so mit Emotionen behaftet, weil man darin ein Gegenbild sieht, also einen Gegenentwurf, gerade, wenn man eine Konvertitin vor sich hat. Das heißt ja nichts anderes als: Man kann sein Leben auch anders leben. Und diese Vorstellung, dass man sein Leben auch anders leben kann und damit auch glücklich und zufrieden sein kann, ist schwierig zu akzeptieren für Menschen, die ihr eigenes Bild so absolut gesetzt haben und die damit auch ihr Selbstwertgefühl verbinden. Also für mich ist es eine Schwäche des anderen, der sich so über das Kopftuch aufregen muss.
    Florin: Das heißt, Alice Schwarzer ist schwach?
    Boos-Niazy: Sie muss an ihrer Weltsicht festhalten, und zwar genau an ihrer engen Weltsicht, die sie hat, weil sonst ihr ganzes Lebenswerk ins Wanken kommt.
    Florin: Nun heißt ja unsere Reihe "Islam und Emanzipation – Wie passt das zusammen". Das frage ich auch Sie: Wie passt das zusammen?
    Boos-Niazy: Also ich finde die Frage an sich so, wie wenn ich frage, grün und blau, wie passt das zusammen? Das sind zwei Dinge, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Ein Kopftuch zu tragen, hat für mich nichts mit dem Bereich der Emanzipation zu tun. Die Frauen, die ich kenne – und das sind mittlerweile viele, wir haben fast 450 Mitglieder im Aktionsbündnis muslimischer Frauen, die leben ihr Leben genau wie alle anderen Frauen auch und die sagen, die Probleme, die wir haben, sind eher Diskriminierungsprobleme. Wir können unser Leben deshalb nicht so leben, wie wir wollen, weil die Umgebung uns das schwer macht, nicht, weil mein Mann mir das schwer macht, sondern weil ich eine bestimmte Zielvorstellung habe. Ich möchte gerne diesen oder jenen Beruf haben, und da kriege ich eigentlich Hürden in den Weg gelegt.
    Florin: Welche Hürden?
    Boos-Niazy: Zugänge zu bestimmten Bereichen. Aber das betrifft ja nicht nur die kopftuchtragenden Frauen, die sind ja noch mehrfach diskriminiert. Wir wissen Frauen haben einen schlechteren Zugang zu bestimmten Positionen als Männer, ausländische Männer schlechter als deutsche Männer, ausländische Frauen schlechter als deutsche Frauen und ausländische Frauen mit Kopftuch nochmal einen schlechteren. Das ist nach wie vor nicht behoben. Da ist sehr, sehr viel Porzellan zerschlagen worden. Und ich gehe davon aus, dass das nochmal genau so lange dauert – nämlich 10, 15 Jahre, bis sich da auch Dinge wieder ändern.
    Florin: Sie sagen also, die Mehrheitsgesellschaft muss sich verändern.
    Boos-Niazy: Was heißt verändern? Sie sollen sich einfach nur ihre eigenen Prinzipien halten, nämlich die, dass die Religion keine Rolle spielen darf beim Zugang zum Arbeitsmarkt –nichts weiter.
    Florin: Gibt es innerhalb der muslimischen Gemeinschaft hier in Deutschland eine Diskussion über das Frauenbild – oder über Frauenbilder?
    Boos-Niazy: Wir haben im Verein viele Frauen, die in den Moscheen auch tätig sind. Auch die Frauen, die im KRM (Koordinationsrat der Muslime) bei den Organisationen Sprecherinnen sind für Frauenangelegenheiten, haben das Thema längst hinter sich, also zumindest auf dieser Ebene. Das sind Frauen, die haben alle ein Studium hinter sich, die haben Kollegen, die studiert haben. Ich glaube nicht, dass die noch über das Frauenbild im Islam überhaupt reden müssen.
    Florin: Was ist mit den anderen Frauen, die nicht studiert haben? Kommt nicht da der Eindruck her, dass das Kopftuch nicht immer eine freiwillige Entscheidung war – und wahrscheinlich war's ja auch nicht immer eine freiwillige Entscheidung, sondern eine Beachtung der Tradition.
    Boos-Niazy: Wenn ich sage, es ist nicht religiös motiviert, sondern einfach: Das macht man halt so. Wie ich das auch vom katholischen Land kenne: 'Mama, warum soll man dies und das nicht machen?' – 'Ja das macht man halt nicht.' Da gibt es sicher eine Gruppe. Es wäre die Aufgabe der muslimischen Community – oder es wird jetzt sicher über den Religionsunterricht laufen- aufzuklären. 'Das macht man nicht' ist keine zufriedenstellende Antwort. Aber darauf sind die Frauen selbst auch gekommen.
    Florin: Wenn jetzt Ihre Töchter sagen würden – oder eine Ihrer Töchter sagen würde – gut, ich habe mir das jetzt überlegt, ich habe das Kopftuch lange getragen, aber jetzt war's das. Was würden Sie dann sagen?
    Boos-Niazy: Ja, da würde ich das sagen, was die Religion sagt. Nämlich, dass man in dem Alter ein eigenständiger, vor Gott verantwortlicher Mensch ist, und dass nicht die Eltern oder andere für das, was ein Erwachsener, religionsmündiger Mensch entscheidet, zur Verantwortung gezogen werden.
    Florin: Wir reden meistens über das Frauenbild beim Thema Emanzipation. Aber interessant ist ja auch das Männerbild. Also, dass eine Frau sich verhüllen soll, damit der Mann seine Begierde unter Kontrolle hat – was ist das für ein Männerbild?
    Boos-Niazy: Das ist kein islamisches Männerbild. Es ist das, was manche Frauen tatsächlich sagen, was aus meiner Sicht aber sich von der Religion her nicht ableiten lässt. Es wäre ja echt ein übles Männerbild. Den Mann als Opfer seiner eigenen Triebe, die er nicht in der Gewalt hat, hinzustellen, das ist ein übles Männerbild. Und das ist nicht das islamische Männerbild. Die ganze Emanzipationsbewegung, die wir kennen, mit der wir groß geworden sind, hat die Vorstellung von Partnerschaft als Konkurrenz. Also, der Mann darf das und das und das, und die Frau darf das und das und das nicht. Also geht es darum, wer hat mehr Freiheiten und dass beide die gleichen Freiheiten bekommen und die gleichen Rechte bekommen.
    Die islamische Vorstellung von einer Partnerschaft ist eine andere, es ist keine Konkurrenzsituation. Es hat in der islamischen Religion nie eine Wertung des Geschlechts als besser oder schlechter gegeben. Das wäre genauso absurd, wie zu sagen, was ist jetzt eigentlich besser, grün oder rot? Selbst wenn beschrieben wird, dass die Geschlechter unterschiedlich sind und wenn man der Auffassung ist, sie sind nicht gleichartig, sie sind gleichwertig, ist damit genau eine Gleichwertigkeit gemeint und nicht, dass die Unterschiede gleichzeitig mit einer Wertung verbunden sind. Das ist sehr, sehr schwierig zu vermitteln.
    Florin: Und warum sehen dann viele islamische Länder so anders aus, chauvinistisch?
    Boos-Niazy: Ja, weil sie sich nicht an die Religion halten, würde ich sagen. Im Prinzip sind das Diktaturen, die denen nützen, die die Macht haben.
    Florin: Wenn ich Sie richtig verstanden habe, sagen Sie, Emanzipation, Gleichstellung der Frau ist noch eine Aufgabe, aber ganz unabhängig davon, ob die Frauen jetzt muslimisch, christlich, konfessionslos oder sonst was sind. Es ist eine Aufgabe für alle Frauen in Deutschland, keine speziell für die muslimischen.
    Boos-Niazy: Nein, es ist keine speziell für die muslimischen. Die Schwierigkeiten oder die Probleme, denen sich muslimische Frauen gegenüber sehen, sind zum ganz großen Teil deckungsgleich mit denen, die andere Frauen haben. Wie vereinbare ich Beruf und Familie? Wie kann ich eine Kindererziehung glücklich gestalten? Wie bekomme ich Unterstützung, wenn ich Probleme bei was auch immer habe? Es gibt da wirklich nur Randbereiche, wo man sagen würde, das ist jetzt ein spezifischer Bereich, wo muslimische Frauen mehr Probleme haben als andere Frauen. Aber im Grunde genommen – ich glaube die neue Generation der emanzipierten Frauen sieht das auch so – da sind wir in ganz, ganz vielen Dingen einer Meinung und alles andre sind Dinge, die nicht wirklich ins Gewicht fallen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu Eigen.