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Islam und Emanzipation - Teil 6
"... als würde sich der Staat ein Kopftuch umbinden"

Die SPD-Politikerin Lale Akgün widerspricht Gabriele Boos-Niazy vom Aktionsbündnis muslimischer Frauen. Ein Kopftuch sei keine individuelle, freie Entscheidung, sagt sie. Es stehe für ein Gesellschaftsmodell, in dem Frauen nicht gleichberechtigt seien.

Lale Akgün im Gespräch mit Susanne Fritz | 14.04.2016
    Portrait von Lale Akgün
    Die ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün. Sie arbeitet heute als Psychologin und Autorin. (dpa / XAMAX)
    Susanne Fritz: Das Arbeitsgericht Berlin beschäftigt sich heute Morgen mit dem Kopftuchverbot von Lehrerinnen an Berliner Schulen. Das Land Berlin hatte die Bewerbung einer Muslimin als Grundschullehrerin abgelehnt, weil sie ein Kopftuch trägt. Daraufhin hat die Frau wegen Diskriminierung geklagt. In Nordrhein-Westfalen wurde ein pauschales Kopftuchverbot schon im vergangenen Jahr aufgehoben. Nachdem das Bundesverfassungsgericht es als unzulässig erklärt hatte. Im Studio begrüße ich jetzt die liberale Muslimin und ehemalige SPD Bundestagsabgeordnete Lala Akgün. Die Diskussion um das Kopftuch an öffentlichen Schulen geht also in die nächste Runde. Das Land Berlin begründet das Kopftuch-Verbot muslimischer Lehrerinnen ja damit, dass es als religiöses Symbol die staatliche Neutralität an Schulen verletze. Wie sehen Sie das?
    Lale Akgün: Wir leben in einer Gesellschaft, die immer multi-religiöser wird, immer pluraler wird. Und da ist es besonders wichtig, dass der Staat und vor allem die Schule Neutralität bewahrt. Das Kopftuch einer Lehrerin ist ein sehr starkes Zeichen, sowohl Richtung junger Frauen und Mädchen, die unterrichtet werden, als auch eben das Zeichen einer Beamtin. Wie mal ein Verfassungsrechtler gesagt hat: Wenn eine Lehrerin sich ein Kopftuch umbindet, ist es so, als würde sich der Staat ein Kopftuch umbinden.
    Fritz: Viele Schulen befürchten auch, dass muslimische Mädchen unter Druck geraten, selber ein Kopftuch zu tragen, wenn sie von einer muslimischen Lehrerin mit Kopftuch unterrichtet werden. Ist diese Sorge Ihrer Meinung nach denn berechtigt?
    Akgün: Durchaus. Wenn man sich vorstellt, dass sowieso ein Druck der Straße da ist, des Stadtteils. Wenn man Mädchen danach einteilt, in diejenigen, die eben Kopftuch tragen, und dann Mädchen sind, die gesellschaftlich akzeptiert sind, und in andere, dann ist eine Lehrerin, die – auch aus der Sicht der Community – es geschafft hat, die aufgestiegen ist gesellschaftlich und etwas zu sagen hat, auch für die Eltern ein wichtiges Argument, der Tochter nahe zu bringen, auch ein Kopftuch umzubinden. Und ich fürchte, dass auch an der Schule dadurch Unruhe entsteht. Dass die Frage auf dem Schulhof ist, wer trägt ein Kopftuch und wer nicht. Dann wird sofort mit dem Finger gezeigt, schau mal, die trägt ein Kopftuch, also warum nicht du?
    Fritz: Also Neutralität ist damit vorbei.
    Akgün: Neutralität ist damit nicht nur vorbei, sondern auch der Schulfrieden könnte ja gefährdet werden, weil es einfach dann zu Streit unter den Mädchen kommt. Aber nicht nur unter den Mädchen. Wir wissen, dass an bestimmten Schulen die Jungen noch viel rigider sind und die Mädchen dazu zwingen, sich ein Kopftuch umzubinden. Ich finde, Schule muss sich mit anderen Dingen beschäftigen als mit Kopftuch. Deswegen denke ich, es ist insgesamt für den Schulfrieden viel besser, wenn das Thema außerhalb der Schule bleibt.
    Fritz: Die Klägerin in Berlin spricht davon, dass sie sich in ihrer Religionsfreiheit eingeschränkt fühlt, wenn ihr das Tragen des Kopftuchs als Lehrerin verboten wird. Inwiefern ist eine religiöse Muslimin nach dem Koran verpflichtet ein Kopftuch zu tragen?
    Akgün: Aus meiner Sicht ist eine Frau nach dem Koran überhaupt nicht verpflichtet, ein Kopftuch zu tragen. Nach dem Koran ist das Kopftuch kein religiöses, sondern eher ein gesellschaftliches Symbol. Es war ja zu Zeiten des Propheten Mohammed ein Unterscheidungsmerkmal zwischen freien Frauen und Sklavinnen. Sklavinnen durften kein Kopftuch tragen. Es sind Geschichten überliefert, wonach zum Beispiel der Kalif Omar einer Sklavin beim Gebet das Kopftuch runtergerissen hat – nach dem Motto: du bist eine Sklavin, du darfst kein Kopftuch tragen. Wenn wir jetzt von diesem Beispiel ausgehen, dann müssen wir sagen, Gott unterscheidet nicht zwischen Sklavinnen und freien Frauen, für Gott sind alles Menschen. Also kann auch das Kopftuch kein religiöses Symbol sein, sondern ein gesellschaftliches. Und heute haben wir eben nicht mehr diese Unterscheidung in einer demokratischen Gesellschaft, also braucht man auch kein Kopftuch zu tragen nach meinem Verständnis vom Koran. Wir wissen auch, dass der Prophet Mohammed in der Moschee mit barbusigen Sklavinnen kommuniziert hat. Das heißt, damals sind Frauen barbusig in die Moschee gegangen, um zu beten. All diese Beispiele muss man kennen, um zu wissen, dass nicht unbedingt zu einer frommen Frau ein Kopftuch gehört.
    "Die Vorschriften wurden im islamischen Mittelalter festgezurrt"
    Fritz: Ist es für Sie ein Ausdruck eines bestimmten Geschlechterbildes, die Verschleierung der Frau im Islam?
    Akgün: Ja. Wir wissen, dass die Vorschriften, wie sie heute für die Bekleidung von Männern und Frauen bestehen, im islamischen Mittelalter festgezurrt worden sind. Und da ist die Unterscheidung in den Tabuzonen von Mann und Frau entstanden, die heute noch Gültigkeit haben. Die Tabuzone des Mannes geht vom Bauchnabel bis zu den Knien. Und bei der Frau ist die ganze Frau eine Tabuzone, bis auf Gesicht und Hände. Sogar bei den Füßen wird noch gestritten, ob man beim Beten Socken tragen soll oder nicht. Diese Ungleichheit kann heute eigentlich nicht akzeptiert werden, denn diese Ungleichheit sagt: Die Frau ist nicht mehr Herrin ihres eigenen Körpers. Ihre Tabuzone wird von außen eher aufgedrückt und sie kann nicht mehr über ihren Körper verfügen. Ich glaube, wenn man von dieser feministischen Seite kommt, muss man sagen, es geht nicht nur um das Kopftuch. Es geht überhaupt um das gesamte Konzept der weiblichen Sexualität - wem gehört der Körper der Frau?
    Fritz: Auf den Straßen der deutschen Großstädte sieht man häufig junge muslimische Frauen westlich gekleidet, geschminkt, modern – aber mit Kopftuch. Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?
    Akgün: Ja, das ist der Versuch, den Konflikt natürlich auszugleichen – den Konflikt, schick zu sein, bei den jungen Frauen dabei zu sein, gesellschaftlich mitzumachen und gleichzeitig eben auch den Vorlagen der Familie auch nachzugeben. Ich möchte das nochmal unterstreichen. Es geht den jungen Frauen nicht darum, fromm zu sein, religiös zu sein. Es geht darum, ein Stück mehr Freiheit in der Familie zu haben. Ich habe lange als Therapeutin gearbeitet und weiß, dass ein Kopftuch auch ein Stück mehr Freiheit bedeuten kann, weil man dadurch der Familie klar macht, ich bin ja fromm, ich darf rausgehen. Es ist paradox, aber es ist dann so, dass man mit Kopftuch als junge Frau mehr Freiheiten hat als ohne, weil die Familie dann denkt, okay – wir können sie laufen lassen, sie trägt ja ein Kopftuch, ist dann fromm und unseren Sitten auch verbunden.
    Fritz: Wie lässt sich ein islamisch-konservatives Geschlechterbild, wonach die Frau zwar gleichwertig, aber nicht gleichberechtigt ist, mit demokratischen Grundwerten vereinbaren?
    Akgün: Das ist natürlich schwierig, wenn wir von unserem Grundgesetz ausgehen, dann ist die Gleichheit von Mann und Frau festgeschrieben. Ja, nicht nur das – es ist sogar mehr. Unser Grundgesetz sagt ja, der Staat muss dafür sorgen, dass die Frauen noch mehr in der Gesellschaft als gleichberechtigt ankommen. Gleichwertigkeit bedeutet, wir schätzen und ehren die Frau, aber wir stellen sie auf ein Podest, wo sie nicht viel anrichten kann. Aber gleichberechtigt bedeutet, dass man sich das Leben teilt. Und deswegen glaube ich, dass diese Unterscheidung sehr deutlich aufzeigt, dass es dann unter diesen Umständen von einem Frauenbild, wie wir uns das vorstellen, nicht die Rede sein kann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu Eigen.