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Islamismus-Debatte
"Wir sind in der Minderheit"

Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi sieht seine Idee vom "Euro-Islam" weit von einer Umsetzung entfernt. "Das ist eine Vision, leider ist sie das immer noch", sagte Tibi im Deutschlandfunk. Terror und Fundamentalismus könnten nur mit Bildung und Aufklärung bekämpft werden, die Pegida-Bewegung unterstütze Islamisten dagegen indirekt.

Bassam Tibi im Gespräch mit Christine Heuer | 12.01.2015
    Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi
    Der Islamwissenschaftler Bassam Tibi (picture-alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Der Islamismus sei eine Richtung im Islam, die zwar nicht viele Anhänger habe, aber auch bei ihm Angst auslöse, sagte Tibi. "Islamisten sind Muslime. Ich habe viele Fundamentalisten interviewt, das sind gläubige Muslime. Sie verstehen ihre Taten nicht als Verbrechen, sondern als Vollzug eines religiösen Aktes." Islamismus sei jedoch nicht mit Bomben oder der Polizei zu bekämpfen, sondern mit Aufklärung.
    Europäisierte Muslime - "Wir sind in der Minderheit"
    Den Islam nannte Tibi eine "tolerante Religion". Verse aus dem Koran, die zum Kampf gegen und zur Tötung von Andersgläubigen aufrufen, könnte heute nicht mehr gelten. "Es gibt eine Reihe von Koranversen, die man heute nicht vertreten kann. Das sind Texte aus dem siebten Jahrhundert, die muss man im historischen Zusammenhang sehen."
    Sein Konzept vom europäischen Islam sei immer noch keine Realität, bedauert Tibi. Es gebe in Europa drei Arten von Muslimen: Solche, die Parallelgesellschaften leben, aber auch integrierte Muslime, die sich jedoch fremd und ausgegrenzt fühlen. Und es gebe europäisierte Muslime, die das Wertesystem Europas in Einklang mit dem Islam bringen wollen. "Wie ich - aber wir sind in der Minderheit. Da bin ich Realist."
    Die Pegida-Bewegung schade der Integrierung von Muslimen "auf allen Ebenen", sagte Tibi. Der größte Schaden sei die Ausgrenzung. "Dadurch unterstützt Pegida Islamisten, weil Muslime so eher anfällig für Islamismus werden."

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: Paris ist heute die Hauptstadt der Welt. Das hat Präsident Francois Hollande gestern beim republikanischen Marsch in der französischen Hauptstadt gesagt. Und in der Tat hat es solche Bilder wie die, die auch die allermeisten von Ihnen gesehen haben werden, noch nie gegeben: Untergehakte Regierungschefs, allein in Paris bis zu anderthalb Millionen Demonstranten für Freiheit und Demokratie, "Je suis Charlie Hebdo" wohin das Auge blickt.
    Der Islamforscher Bassam Tibi ist gläubiger Muslim. Er wurde 1944 in Damaskus geboren, kam 1962 nach Deutschland und ist seit 1976 deutscher Staatsbürger. Seine wissenschaftliche Karriere ist gewaltig. Unter anderem ist er es, der die Begriffe "europäische Leitkultur" und "Euro-Islam" erfunden und geprägt hat. Bassam Tibi setzt sich seit Jahrzehnten für einen Islam ein, der Demokratie, Pluralismus und andere westliche Werte integriert. Er ist jetzt am Telefon. Guten Morgen, Herr Tibi.
    "Einen einheitlichen Islam gibt es nicht"
    Bassam Tibi: Guten Morgen! Ich grüße Sie.
    Heuer: Thomas de Maizière hat in Reaktion auf die Anschläge in Paris relativ rasch gesagt, die hätten nichts mit dem Islam zu tun. Stimmt das?
    Tibi: Das Problem, dass die Politiker das wirklich gut meinen, also nicht nur Herr de Maizière, sondern vor ihm Herr Cameron. Der britische Premier hat gesagt, das sind keine Muslime, das sind Monster. Und Herr Hollande, der französische Präsident, hat dasselbe jetzt vor ein paar Tagen wiederholt. Ich arbeite seit 30 Jahren über den Islamismus. Einen einheitlichen Islam gibt es nicht. Es gibt innerhalb der islamischen Zivilisation verschiedene Richtungen und der Islamismus ist eine davon. Es ist eine Minderheit, je nach Land, zwischen fünf und zehn Prozent, maximal zehn Prozent. Aber die Islamisten sind Muslime. Ich bin ein Moslem, ich bin kein Islamist, ich bin Islamismus-Kritiker. Aber ich habe 2.500 islamische Fundamentalisten oder Islamisten interviewt in 20 verschiedenen Ländern, in den zehn Jahren vor meiner Pensionierung interviewt, und ich bin zum Ergebnis gekommen, das sind gläubige Muslime und sie verstehen das, was sie tun, nicht als ein Verbrechen, sondern als eine Vollziehung eines religiösen Akts. Man kann diese Islamisten nicht bekämpfen mit Bomben und mit Polizei, sondern mit Aufklärung. Ich bin Vertreter eines Aufklärungsislam.
    Heuer: Herr Tibi, 47 Prozent der Deutschen - das ist das Ergebnis einer jüngst veröffentlichten Bertelsmann-Studie - haben Angst vor dem Islam. Was am gelebten Islam in Deutschland ist denn gefährlich?
    Tibi: Ja, das ist der Unterschied zwischen Islam und Islamismus. Ich habe auch Angst vor Islamismus und ich kann Ihnen verraten, weil das jetzt länger zurückliegt, ich stand fünf Jahre lang unter dem Schutz des Bundeskriminalamtes, weil Islamisten versucht haben, in den 90er-Jahren mich zu ermorden. Ich habe Angst vor dem Islamismus als Moslem und die Angst ist nicht die richtige Antwort, sondern wir brauchen eine Sicherheitspolitik. Wir brauchen eine Sicherheitspolitik und wir brauchen Aufklärung. Die Aufklärung würde dazu führen, dass die Mehrheit der Deutschen und der Europäer verstehen, Islam ist eine Religion und eine tolerante Religion und vor dem Islam braucht man keine Angst zu haben.
    Heuer: Aber das ist er ja nicht nur. Es gibt im Koran Passagen, in denen die Ermordung Andersgläubiger bejaht wird.
    Tibi: Ja. Ich bin Vertreter eines Aufklärungsislam und wir aufgeklärte Muslime treten für die Historisierung des Koran-Textes ein. Es gibt eine Reihe von Koran-Versen, die man heute nicht vertreten kann, unter anderem die Verse, die Sie angeführt haben, die aufrufen zum Kampf gegen Ungläubige und auch zur Tötung der Ungläubigen. Wir sagen, wir aufgeklärte Muslime, wir sagen, das sind Texte aus dem 7. Jahrhundert und man muss diesen Text im historischen Zusammenhang des 7. Jahrhunderts verstehen. Für das 20. Jahrhundert, für die Muslime im Allgemeinen, vor allem auch die Muslime in Europa gelten diese Koran-Texte nur im historischen Kontext. Sie können für Europa nicht gelten.
    "Europäisierte Muslime sind eine kleine Minderheit"
    Heuer: Herr Tibi, wie beliebt ist denn dieser aufgeklärte Euro-Islam, für den Sie sich so stark einsetzen, unter den Muslimen in Deutschland - und ich spreche über die Mehrheit der Muslime?
    Tibi: Ich bin ein ehrlicher Aufklärer, ein ehrlicher Moslem und sage, mein Konzept vom europäischen Islam ist übrigens in Paris entstanden. Ich bin 92 nach Paris eingeladen worden von der französischen Regierung, um ein Konzept für die Integration vorzulegen, und ich habe ein Papier in Paris vorgelegt, Institut du monde arabe, dieses Papier hieß "Die Rahmenbedingungen des Euro-Islam", und ich habe gesagt, eine europäische Deutung des Islam ist die Leitkultur der Muslime. Das ist eine Vision und leider ist es immer noch eine Vision. Eine Realität eines europäischen Islam gibt es nicht. Es gibt drei Richtungen in Europa für den Islam. Es gibt Muslime, die in Parallelgesellschaften leben. Gehen Sie nach Berlin, nach Neukölln, Kreuzberg, in bestimmten Teilen können Sie das sehen, Parallelgesellschaften. Dann gibt es Muslime, die integriert sind im Sinne, dass sie europäischen Gesetzen folgen, aber sie fühlen sich fremd, sie stehen draußen. Und es gibt europäisierte Muslime, die versuchen, das islamische Wertesystem mit dem europäischen Wertesystem in Einklang zu bringen. Dazu gehöre ich und ich bin ehrlich, wir sind eine kleine Minderheit.
    Heuer: Birgt denn der Terror in Frankreich jetzt die Chance, dass sich die gemäßigten Muslime zu Wortführern machen? Beginnt da eine Debatte in der islamischen Gesellschaft in Deutschland?
    Tibi: Es gibt zwei Verbände für liberale Muslime in Deutschland. Es geht nicht um einzelne Individuen, und das ist schon ein Fortschritt. Ein Verband wird vorwiegend von Frauen vertreten und ein Verband von Männern. Leider gibt es diese Trennung zwischen Männern und Frauen im Islam auch. Es gibt liberale Muslima-Verbände, Frauenverbände, und es gibt einen männlichen Verband. Aber in Frankreich, die Zentralmoschee in Paris, das ist die größte liberale islamische Einrichtung in ganz Europa. Der ehemalige Imam dieser Moschee, Dalil Boubakeur, ist Anhänger meines Konzepts vom Euro-Islam. Wir haben beide zusammengearbeitet.
    Heuer: Aber, Herr Tibi, wie groß schätzen Sie denn die Chancen ein, dass Sie sich jetzt mit dem Euro-Islam, mit dieser Idee bei der Mehrheit der Muslime durchsetzen?
    Tibi: Das hängt ab von zwei Gruppen. Eine Gruppe sind deutsche Politiker, denn Euro-Islam setzt sich nur durch im Rahmen der Bildung. Wir brauchen also Unterstützung der deutschen Politiker und wir brauchen auch eine Zustimmung des organisierten Islam. Einer der Vertreter dieses aufgeklärten Islam ist Professor in Münster, Professor Khorchide. Er wird leider bekämpft vom Zentralrat der Muslime. Weil er einen aufgeklärten Islam vertritt, haben die ihn aufgefordert, eine Reue zu bekennen. Reue wofür?
    "Der Euro-Islam ist die beste Waffe gegen den Terrorismus"
    Heuer: Herr Tibi, hoffnungsvoll klingen Sie da nicht.
    Tibi: Ich bin nicht hoffnungslos. Ich bin nicht hoffnungslos, aber auch nicht hoffnungsvoll, weil ich Realist bin. Wir werden nicht unterstützt. Ohne Unterstützung kann europäischer Islam nicht verbreitet werden. Der europäische Islam ist die beste Waffe gegen den Terrorismus. Sie können die Terroristen bekämpfen, die Islamisten, nicht alle Islamisten sind Terroristen, aber die dschihadistischen Islamisten sind Terroristen. Die können Sie bekämpfen am besten durch Aufklärung und Bildung und dazu brauchen wir die Unterstützung der Medien, der deutschen Politiker, und ich hoffe, dass auch die Vertreter des organisierten Islam nicht nur verbal verurteilen, was in Paris war, sondern dass sie mitarbeiten.
    "Pegida unterstützt eigentlich die Islamisten"
    Heuer: Herr Tibi, Sie kommen selbst aus Damaskus. Wie erleben Sie denn die Pegida-Proteste gegen Zuwanderer und Flüchtlinge, die wir im Moment erleben?
    Tibi: Die Pegida-Bewegung tut Schaden auf allen Ebenen. Der größte Schaden dieser Pegida-Bewegung ist Ausgrenzung der Muslime und durch Ausgrenzung der Muslime unterstützt Pegida die Islamisten, denn die Islamisten sind gegen Integration. Integration der Muslime immunisiert die Muslime gegen die Verführung des Islamismus. Und wenn Muslime ausgegrenzt werden, dann werden sie anfällig für den Islamismus. Pegida trägt zur Anfeindung des Islams generell bei der deutschen Bevölkerung bei. Das ist ein großer Schaden. Für mich der größere Schaden ist die Ausgrenzung: Denn Muslime, die ausgegrenzt werden, sind anfällig für den Islamismus und da muss man Pegida dafür verurteilen. Pegida will Sicherheit, aber Pegida unterstützt eigentlich die Islamisten. Eine größere Unterstützung der Islamisten kann nicht erfolgen ohne das, was Pegida tut.
    Heuer: Bassam Tibi, Islamforscher, Buchautor. Herr Tibi, ich danke Ihnen für Ihre Einschätzungen heute Früh.
    Tibi: Ich danke Ihnen auch für das Gespräch.
    Heuer: Einen guten Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.