Freitag, 19. April 2024

Archiv

Islamismus in der Schule
Wie Lehrer auf Radikalisierung reagieren können

Mindestens 1.000 Jugendliche sind nach Einschätzungen der Sicherheitsbehörden aus Deutschland in den Dschihad gezogen. Wer hätte ihre Radikalisierung bemerken müssen? Lehrer wüssten wenig über Islamismus unter Schülern, sagt Religionspädagoge Karsten Jung. Deshalb hat er ein Buch mit Handlungsoptionen herausgeben.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 20.04.2017
    Schüler sitzen im Unterricht an einer Berliner Schule
    Islamistische Radikalisierung geht nicht zwingend einher mit einem anderen Kleidungsstil oder vollkommener Ablehnung westlicher Kultur (Imago/ Gerhard Leber)
    Karsten Jung unterrichtet an einem Beruflichen Gymnasium in Süddeutschland. Dass vor vier Jahren Nadim am evangelischen Religionsunterricht seiner 11. Klasse teilnahm, war nichts Außergewöhnliches. Der gläubige Muslim kam aus einem akademischen Elternhaus und schrieb gute Noten.
    "Freundlicher junger Mann, der erkennbar im Unterricht konservative Positionen vertrat, aber interessiert war, nachfragte. Und eines Tages war der weg. Und was sich zunächst als Verdacht äußerte, bestätigte sich dann: Er hat sich als Dschihadist in Syrien verdingt und ist dann eben quasi aus dem Religionsunterricht in den Dschihad gezogen. Und das war natürlich ein Punkt, wo ich mich selber gefragt hab: Hätte ich da was merken können? Hätte ich was merken müssen? Und wenn ich was gemerkt hätte von der Radikalisierung: Wie wäre ich damit umgegangen?"
    Der Studienrat für Evangelische Religion und Geschichte stellte fest, dass es für Pädagogen kaum Literatur oder Fortbildungen zum Thema Islamismus in der Schule gab – und wenig Wissen darüber, wie dieser zu erkennen und darauf zu reagieren ist.
    "Wo ich falsch dachte, ist, dass Radikalisierung islamischer Art zum einen einhergeht mit bestimmten äußeren Erscheinungsmerkmalen, also einem anderen Kleidungsstil oder vollkommener Ablehnung westlicher Kultur. Das kann sein, aber ich hab damals gemerkt, das muss nicht sein. Sondern es geht um andere Dinge. Also zum Beispiel, dass das gesamte Leben einem Denkmuster der strikten Einwertigkeit unterworfen wird: Was ist erlaubt, was ist verboten? Was ist halal, was ist haram? Und danach werden Dinge eingeteilt, das eigene Verhalten ausgerichtet und auch andere Menschen eingeteilt."
    Sammelband mit Handlungsoptionen
    Dass die Radikalisierung von Schülern kein Randphänomen darstellt, war für den Lehrer Grund genug, ein Buch mit Handlungsoptionen für Pädagogen herauszugeben. In Baden-Württemberg ziehe im Durchschnitt ein Jugendlicher aus jedem Landkreis in den Dschihad, erzählt Jung, der auch die Forschungsstelle Religionspädagogik an der CVJM-Hochschule in Kassel leitet. Deutschlandweit sind es nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden zwischen 1.000 und 1.500.
    Der Sammelband überrascht mit einem ungewohnten Blick auf den radikalen Islam, dem eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppierungen angehören, darunter die Neo-Salafisten als größte Untergruppe. Die Autoren erklären, dass sich Menschen nicht – wie in der öffentlichen Debatte zu hören ist - allein aus sozialen Gründen dem Islam zuwenden:
    "Untersucht man jetzt die Fälle von Leuten, die aus Deutschland in den Dschihad gezogen sind, da stellt man fest, dass die überwältigende Mehrheit – wir reden hier von weit über 80 Prozent – Kinder, Jugendliche aus der Mittelschicht oder oberen Mittelschicht waren. Das heißt also, diese klassische soziologische Annahme, dass es sich um Unterschichtmilieus handelt, die sich radikalisieren lassen, die stimmt so nicht. Eine weitere wesentliche Erkenntnis ist, es sind nicht nur Männer. Man rechnet, dass etwa ein Drittel Frauen zum gewaltbereiten Islam neigen. Der Anteil zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen, das ist auch etwas Bemerkenswertes."
    Bruch mit den Eltern
    Viele Jugendliche und junge Erwachsene schließen sich salafistischen Gruppierungen an, um damit gegen ihre Eltern zu protestieren, betont der Islam- und Sozialwissenschaftler Götz Nordbruch, Mitautor des Buches.
    "Man merkt, dass Jugendliche Positionen formulieren, mit denen sie sich ganz klar abgrenzen gegenüber dem, was sie in ihrer Umwelt erfahren, erleben. Vielfach ist es so, das wäre ein Unterschied zum Rechtsextremismus beispielsweise, dass Jugendliche sich dieser Szene hinwenden und damit auch ein Bruch mit den Eltern einhergeht. Also die Eltern werden häufig als Verräter beschrieben, als Menschen, die die Herkunftsländer verlassen haben, die die Tradition verraten haben."
    Anders als ihre Eltern wollen sie zu den Ursprüngen zurückkehren und den Islam richtig leben, erzählt der Co-Geschäftsführer von Ufuq, einem Berliner Verein, der sich für die Prävention von Islamismus und Islamfeindlichkeit engagiert. Die Heranwachsenden protestieren aber auch gegen die Gesellschaft, stellt Götz Nordbruch fest:
    "Und der Konflikt mit der Gesellschaft liegt eben darin, dass der Salafismus sich als Gegenmodell zur bestehenden Ordnung hier präsentiert. All das, was hier gelebt wird, die Werte, die hier gelebt werden, die werden abgelehnt. Und man selber stellt das extreme Gegenmodell dar. Dieses extreme Gegenmodell wird religiös begründet. Es wird gesagt, dass das, was im 7. Jahrhundert vom Propheten vorgelebt wurde, dass das das Ideal ist, die Blütezeit des Islam, da wurde er in Reinform gelebt. Der Anspruch dieser Szene ist letztlich, sich an diesem Ideal zu orientieren und das letztlich zu imitieren."
    Streetwear und Sprechgesang
    Götz Nordbruch spricht von einer Art Jugendkultur, die sich äußerlich in Sprachgewohnheiten, einer modernen, an Streetwear orientierten Kleidung und Sprechgesängen mit religiösen Botschaften spiegelt:
    "Da vermischen sich natürlich dann auch Trends und, das kennt man ja auch aus anderen Jugendkulturen, dass Symbole oder Stile übernommen werden und dann neu bewertet werden. Und gerade in der dschihadistischen Szene, das ist ein kleiner Teil dieses salafistischen Spektrums, da merkt man das beispielsweise an dem martialischen Auftreten; also dann auch an so Military-Klamotten, Cappies. Und das ist aber kein Widerspruch zu diesem Anspruch, in die Frühzeit des Islams zurückzukehren. Oder zumindest wird es nicht als Widerspruch gesehen."
    Bis zu 10.000 meist junge Muslime, darunter nicht wenige herkunftsdeutsche Konvertiten, rechnet der Islamwissenschaftler dem salafistischen Spektrum in Deutschland zu. Für entscheidender hält er allerdings, dass diese ihre Botschaften mithilfe sozialer Medien weit über die Szene hinaus verbreiten – bis in die Klassenzimmer hinein.
    An veränderten Interessen erkennbar
    Lehrer können die betroffenen Schüler an ihren veränderten Interessen erkennen, sagt Karsten Jung:
    "Sie interessieren sich sehr stark für das Jenseits. Denken von Himmel und Hölle spielt eine unglaubliche Rolle, und das hat Auswirkungen auf das eigene Verhalten. Sie haben Desinteresse am religiösen Dialog. Und das gilt interessanterweise auch innerislamisch. Also auch andere Konfessionen innerhalb des Islams werden dann als ungläubig angesehen. Sie haben ein Interesse an einer strikten Geschlechtertrennung auf beiden Seiten und dann der Ablehnung des hier kulturell üblichen Kontakts zwischen den Geschlechtern. Und sie haben eine Religionsauffassung, die dekulturiert ist. Das heißt der Gedanke, dass ihre Religion nicht irgendetwas ist, was historisch oder kulturell gewachsen, sondern was quasi vom Himmel gefallen ist, was durch die göttliche Offenbarung erschienen ist und sich nicht einem historischen Prozess zu stellen braucht."
    Für Karsten Jung gilt es, die Frage zu klären, warum Jugendliche sich einer religiösen und nicht einer politischen Gruppierung anschließen. Und warum sie die radikale Variante des Islam attraktiver finden als eine gemäßigte.
    Studien hätten gezeigt, dass radikale junge Muslime nur wenig über die Dogmen und Traditionen des Islam wissen, stellt der Religionspädagoge fest. Für sie sei zentral, dass Religion Sinn vermitteln könne:
    "Das heißt, die machen die Erfahrung, dass andere Sinnanbieter in unserer Gesellschaft für sie nicht attraktiv sind, vielleicht nicht eindeutig genug. Und die Eindeutigkeit einer klaren, radikalen Religion hat natürlich ein starkes Sinnangebot. Dazu kommt eine weitere Erfahrung, radikale Gemeinden sind häufig jung. Das heißt, wir haben es mit Leuten zu tun, die im gleichen Alter wie die Jugendlichen sind oder nur wenig älter. Sie haben professionelle Angebote. Die Angebote solcher salafistischer Gemeinden oder Gruppierungen sind medial richtig gut aufbereitet, das heißt also spricht Jugendliche an und sind übernational."
    Konservativer Islam und türkischer Nationalismus
    Eine ganz andere Form von Radikalisierung, die sich auf das Klima in den Klassenzimmern auswirkt, beobachtet Stefan Piasecki. Der Professor für Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule in Kassel verweist auf ein von Pädagogen kaum bemerktes Bündnis von äußerst konservativem Islam und türkischem Nationalismus, über das ethnische Konflikte in der Türkei religiös aufgeladen und in deutsche Schulen transportiert werden.
    Ein Teil der türkischen und türkischstämmigen Schüler sei für diese politische Strömung anfällig, sagt der Religionspädagoge. Diese übernehmen etwa die Behauptung, der osmanische Völkermord an den Armeniern sei eine Lüge oder Deutschland sei erst von den türkischen Gastarbeitern wieder aufgebaut worden. Sie fühlen sich Minderheiten in der Türkei wie Kurden, Armeniern und Aleviten gegenüber überlegen – und demonstrieren dies auf dem Schulhof:
    "Indem Kurden die eigene Identität abgesprochen wird. Man gemeindet sie ein in den türkischen Gesamtstaat und wenn sie sich davon absetzen, weil sie sagen, nein, ich bin aber kein Türke oder ich empfinde alevitisch, dann wird das marginalisiert. Es sind optisch wahrnehmbare Symbole wie der Rabaa-Gruß der ägyptischen Muslimbruderschaft oder - was wir als 'stillen Fuchs' kennen – der türkischen grauen Wölfe, also Handgrüße, mit denen man sich gegenseitig grüßt. Man sieht immer öfter Schmierereien extremistischer Art wie die drei Halbmonde zum Beispiel, die auf diese Geisteshaltung hinweisen. Übrigens auch von deutschen Schülern übernommen, das habe ich häufiger auf Schulhöfen gesehen, die wahrscheinlich gar nicht wissen, was sich dahinter verbirgt, die das nur cool finden."
    Dass Nationalisten den Islam instrumentalisieren, sei nicht neu, aber die Gesellschaft schaue weg, stellt Stefan Piasecki fest. Rechtsextreme Organisationen wie die Grauen Wölfe unterhalten in Deutschland eigene Jugendabteilungen und verbreiten ihre Ideologie über Schriften.
    "Die Auswirkungen auf das Klima in den Schulklassen sind, dass sich mehrfach fraktionierte und unterfraktionierte Parallelgesellschaften bilden, also im schlimmsten Fall herrschen dann Angst oder Einschüchterung vor, die von den Lehrer nicht erkannt werden, weil sie die Symbolik nicht kennen, weil sie die Argumente nicht kennen oder erkennen, weil sie schlichtweg auch die Sprache nicht verstehen. Wenn eine kurdische Mitschülerin mal schnell im Vorbeigehen beleidigt wird, das bekommen Lehrer nicht mit."
    Den Kontakt zu den Schülern suchen - nicht nur bei Problemen
    Wie mit den Jugendlichen umgehen? Mit etwas Hintergrundwissen und zielgerichtetem Interesse könnten deutsche Lehrkräfte islamistische und nationalistische Tendenzen an den Schulen besser erkennen und ihnen entgegentreten. Stefan Piasecki rät dazu, nicht nur bei Problemen den direkten Kontakt zu den Schülern zu suchen:
    "Ich halte es für dringend erforderlich, dass man Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihrer Gesamtbefindlichkeit auf dem Schulhof mal befragt: Wie geht es denen? Welche Zukunftsperspektive haben sie, welche Vision haben sie für die Zukunft? Und wo sehen sie sich in der Gesellschaft? Und dass man das politisch aufgreift."
    Als wesentlich für den pädagogischen Umgang bezeichnet Götz Nordbruch, dass viele, die sich für islamistische oder nationalistische Botschaften interessieren, nicht gewaltbereit sind. Dass Heranwachsende Videos etwa des deutschen islamistischen Predigers Pierre Vogel anschauen, sei kein Grund, sie zu kriminalisieren und die Polizei einzuschalten. Wer als Lehrer auf diese Provokation eingehe, habe verloren.
    "Also die Herausforderung besteht darin, die Fragen, die Bedürfnisse, die formuliert werden, ernst zu nehmen im ersten Schritt. Zu schauen, was sind da für Bedürfnisse, die da formuliert werden und wie kann ich die in meinem Unterricht oder in der Jugendarbeit aufgreifen. Und den Jugendlichen dann andere Antworten anzubieten, als sie im Internet von Pierre Vogel bekommen. Was aber oft passiert, ist genau das Gegenteil: Wenn jemand Pierre-Vogel-Videos teilt, dann ist das im Grunde für viele Beobachter, ob jetzt Pädagogen oder nicht, schon so ein Zeichen dafür, dass da jemand im Grunde auf dem Weg nach Syrien ist oder dass da jemand etwas Kriminelles tut."
    Der Verein Ubuq versucht vielmehr, durch seine Leitfrage "Wie will ich leben?" junge Muslime bei der Suche nach Sinn, Gemeinschaft und Halt zu unterstützen. Religiöse Vielfalt aufzuzeigen, gehört dazu. Deshalb fordern die Autoren, die Lehrpläne für den islamischen Religionsunterricht mit Wissenschaftlern von islamischen Fakultäten zu erarbeiten – und nicht in die Hände von islamischen Gemeinden oder Moscheenverbänden zu legen.
    Auch soziale Gründe für religiöse Radikalisierung
    Unterm Strich lässt der Sammelband dann doch soziale Gründe für die religiöse Radikalisierung gelten. Junge Muslime in Deutschland erleben im Unterschied zu anderen Protestbewegungen wie den 68ern Diskriminierung, betont Götz Nordbruch. In den Schulbüchern kommen sie und ihre Eltern höchstens in Form problematischer Migrationsgeschichten vor.
    Die Diskussionen um Thilo Sarrazin, die Mohammed-Karikaturen oder den Moschee-Report lassen sie nicht unberührt, ist der Islamwissenschaftler überzeugt:
    "Das macht etwas mit ihnen. Für Jugendliche mit Migrationshintergrund oder aus muslimischen Familien ist es extrem schwer, sich selbst als deutsch zu definieren, als Teil der Gesellschaft zu definieren. Und zwar nicht nur, weil sie irgendwie aus dem Elternhaus und aus der Moschee daran gehindert werden oder gedrängt werden, sich an der Türkei zu orientieren. Wenn Sie sich Mediendiskussionen angucken, politische Diskussionen angucken: Man redet von Deutschen und Muslimen, als seien das zwei unterschiedliche Gruppen. Dabei sind fast 50 Prozent der Muslime in Deutschland Deutsche."
    Jan-Friedrich Bruckermann/Karsten Jung (Hg.): "Islamismus in der Schule. Handlungsoptionen für Pädagoginnen und Pädagogen", Vandenhoeck & Ruprecht, März 2017