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Islandhopping einmal anders

Kann man einen Reiseatlas über Orte verfassen, wo man noch nie war und wo man wohl auch nie sein wird? Judith Schalansky, aufgewachsen in der DDR, hat es gewagt und sich auf eine abenteurliche Reise begeben.

Von Nils Kahlefendt | 10.03.2010
    Was kümmert mich der Schiffbruch der Welt,

    ... schrieb Hölderlins Hyperion einst an Bellarmin,

    ... ich weiß von nichts, als meiner seligen Insel.

    In staubtrockener Lexikon-Diktion liest sich das anders, da sind Inseln "vollständig von Wasser umgebene Landmassen". In unseren Köpfen geben diese "Fußnoten des Festlands" – zumal, wenn sie fernab von jeglicher Zivilisation liegen – die perfekte Projektionsfläche für Utopien und irdische Paradiese jeder Art ab.

    Fünfzig realexistierende Eilande hat sich die Autorin und Buchgestalterin Judith Schalansky in ihrem "Atlas der abgelegenen Inseln" angeeignet, ohne sie je betreten zu haben. Im Bücherschiff der Berliner Staatsbibliothek, wo ich sie nun - jeder Tisch "ein kleines Inselreich" - bei der Arbeit am nächsten Projekt treffe, ist sie monatelang auf Entdeckungsreise gegangen: Die Wiederentdeckung eines Kindheitstraums. Schalansky, Jahrgang 1980, ist in der DDR aufgewachsen. Ein "Atlas-Kind", dem die Fingerreisen auf den Weltkarten, das Flüstern exotischer Namen die wirklichen Orte ersetzte, die es ohnehin nicht bereisen konnte. Eine Faszination, die auch nicht verschwindet, als die größte DDR der Welt längst von den Karten getilgt ist.

    "Die hat, ganz klar, natürlich was mit Fernweh zu tun. Und ich erinnere mich, dass ich als Kind eine Serie, also eine Dokumentation im Fernsehen sah, wo Tierforscher auf den Galapagos-Inseln sind. Und das war der Moment, wo ich eben wissen wollte: Wo sind diese Galapagos-Inseln? Und ich kann mich sehr daran erinnern, wie ich den Atlas aufmache, mir das zeigen lasse, von meiner Mutter, und dann auch schaue, wie weit das weg ist. Und überhaupt diese Welt wahrnehme, in der 'Unser Land', wie die DDR eben auch immer hieß bei uns - das war eben Unserland, also zusammen geschrieben – dann auch das erste mal entdeckt habe, wie klein unser Land ist. Und wie klein dann doch die Welt ist, in der ich aufwachse. Und die für so wahnsinnig groß erachtet wird. Also, tatsächlich: Weltwahrnehmung. Und in dem Moment gleichzeitig auch ne Beschränkung. Weil ich, ganz klar, sofort sagte: Ich will Tierforscherin werden! Und meine Mutter kuckte etwas traurig und meinte: Ja, später vielleicht. Da war klar: Das ist nicht so ganz einfach."

    Mit dem "Atlas" hat sich Judith Schalansky nicht nur einen lang gehegten Wunsch erfüllt, sondern auch die Form gefunden, die ihre Talente auf ideale Weise vereint. 2006 veröffentlichte die studierte Kunsthistorikerin und Gestalterin unter dem Titel "Fraktur mon amour" eine über 700 Seiten starke, mit mehreren Designpreisen ausgezeichnete Liebeserklärung an die gebrochene Schrift; 2008 folgte mit "Blau steht dir nicht", einem "Matrosenroman", der von der Sehnsucht nach Freiheit und deren Preis handelt, ihr literarisches Debüt. Der von ihr geschriebene, illustrierte und gestaltete "Atlas der abgelegenen Inseln" bringt nun Typographie-Leidenschaft und Fernweh gleichermaßen zwischen Buchdeckel. Wer einen Atlas aufschlägt, weiß Schalansky, der "begnügt sich nicht mit dem Aufsuchen einzelner exotischer Orte, sondern will maßlos alles auf einmal – die ganze Welt".

    Nicht zuletzt deshalb, so findet sie, sollte die Kartografie endlich zu den poetische Gattungen und der Atlas selbst zur schönen Literatur gezählt werden". Dass die Stiftung Buchkunst ihren "Atlas" bei der Kür der "Schönsten deutschen Bücher" 2009 in der Kategorie "Ratgeber und Sachbücher" auszeichnete, belustigt sie ebenso wie die Tatsache, dass Buchhandlungen ihn nicht selten in der Reise-Abteilung führen. Wie es sich für ein echtes Gesamtkunstwerk gehört, entzieht sich der edle Halbleinen-Band mit leuchtend orangefarbenem Vorsatz und Buchschnitt erfolgreich jeder Einordnung.

    "Der Mensch schreibt sich in die Natur ein. Und die Kartografie gibt Zeugnis davon. Gleichzeitig auch ist die Kartografie natürlich eine Wissenschaft, die halt vermeintlich objektiv funktioniert. Also, es gibt lauter Systeme, wie man eben schafft, den Kugelkörper der Erde zweidimensional abzubilden. Was natürlich immer eine Fälschung ist – oder sagen wir: eine Abstraktion. Wie es eben Literatur auch ist. Das heißt, es geht darum, die Realität erfahrbar zu machen, abzubilden, etwas zu "vermessen". Und bei diesen Inselgeschichten war das das, was mich am meisten fasziniert hat. Da sind so Orte im Nirgendwo, mit denen man nicht so richtig weiß... mit denen die Menschen, die sie aufsuchen, auch überfordert sind, weil sie gar nicht wissen, was sie damit machen sollen. Die sind zu nichts so richtig zu gebrauchen... Also werden sie vermessen, bis zum Geht-nicht-mehr. Und werden wenigstens Namen ausgeschüttet darüber, und sie festgehalten, damit man ihnen eben irgendwie einen Platz zuordnet. Und das ist was sehr poetisches. Und hat natürlich viel mit Welt-Aneignung zu tun. Aber auch natürlich – sich irgendwie in die Ewigkeit einschreiben. Wenn nicht durch ein "Werk", durch ein literarisches Werk, dann vielleicht wenigstens dadurch, dass man eine Insel entdeckt hat, der man den Namen geben kann."

    Schon die buchstabieren sich wie Lautpoesie. Die 50 Inseln, sortiert nach den fünf Weltmeeren, heißen "Semisopochnoi" und "Pukapuka", "Einsamkeit", "Süd-Thule" oder "Robinsón Crusoe". Das Beiwort "abgelegen" ist dabei ohnehin nur eine Frage des Standpunkts: Die Einwohner der Osterinsel etwa nennen ihre Heimat Te Pito De Henua, "Nabel der Welt". Jedem Eiland verschafft Schalanski auf einer Doppelseite den großen Auftritt: Rechts die wunderschön gezeichneten Karten, auf denen die Inseln mit ihren verästelten Flussläufen und Erhebungen wie kostbare Diamanten im zarten Graublau der Ozeane liegen; links, unter topografischen Basis-Informationen und elegant gestalteten Verortungshilfen, die Text-Essenz der Recherche: 50 Miniaturen, in denen uns Schalansky all die aberwitzig-skurrilen, mal hoch komischen, nicht selten tragischen Insel-Geschichten von gescheiterten Entdeckern, endlosen Eiswüsten, angriffslustigen Tieren, Mord, Kannibalismus und tödlicher Langeweile neu und wunderbar frisch erzählt.

    "Und dann ist mir auch klar geworden, was das für ein wahnwitziges Projekt auch ist! Weil ich auch 50 Mal... Ich hab’ das so leichtfertig... so einen Entwurf gemacht, und da sah es schön aus, wenn auf der linken Seite auch ein bisschen Text ist. Aber was das bedeutet, 50 Mal einen Text zu schreiben, 50 Mal eine Idee zu haben für etwas – das ist mir dann nach der 16. Insel aufgefallen. Als ich wusste: Oh, jetzt habe ich nur noch 34! Insofern war es für mich auch ein poetisches Projekt: Finde ich jedes Mal eine Geschichte, die ich erzählen möchte? Und wie erzähle ich diese Geschichte? Und wie schaffe ich es auch, das, was ich erfahre, in meine Sprache zu überführen?"

    Schalansky zitiert, schmückt aus, zieht überraschende Verbindungslinien durch Zeit und Raum. Die Insel wird ihr dabei zur Theaterbühne: "Alles, was hier geschieht, verdichtet sich beinahe zwangsläufig zu Geschichten, zu Kammerspielen im Nirgendwo, zum literarischen Stoff." Dass an den Rändern der endlosen Erdkugel kein Garten Eden lockt, sich das gern besungene "Island in the Sun" stattdessen oftmals als veritable Hölle entpuppt, gehört zu den ernüchternden Erfahrungen, die Judith Schalansky bei der Arbeit an ihrem Buch gemacht hat.

    "Vielleicht ist es so, dass eben das Utopische, die Möglichkeit einer besseren Welt, doch eher was mit Gesellschaft zu tun hat und mit Festland – und weniger mit abgeschlossenen Räumen. Also anscheinend machen Inseln, ausgeschlossen sein, abgeschlossen sein, nicht das Beste mit den Menschen. Selbst da, wo man mikrokommunistische Gesellschaftsutopien versucht zu etablieren. Dieses Gefühl hat ja auch was Gutes. Ich weiß, ich bleibe einfach zu Hause. Ich gehe in die Staatsbibliothek. Und muss nicht aufs Meer, muss nicht eine andere Welt finden – sondern mich vielleicht mit meiner eigenen mehr anfreunden. - Warum sollte ich das bessere Leben am anderen Ende der Welt finden? Warum nicht gleich hier anfangen? Dennoch verstehe ich diesen Wunsch... verstehe ich diese Idee auch: Man muss mal alles ausschalten – und dann kann das "Eigentliche" geschehen. Von dem wir alle ja immer eine Vorstellung haben: das Eigentliche! Vielleicht auch das eigentliche Leben, das richtige Leben, das bessere? Aber es ist letztendlich auch... es ist ja ein Atlas, das heißt: kein Reiseführer! Also, es ist klar: Wer einen Atlas aufschlägt, weiß, dass er zu Hause bleibt."

    Auch das leistungsfähigste Navi kann unsere Schatzinsel nicht aufspüren, die Sehnsucht wird uns selbst in Zeiten von Google Earth nicht auszutreiben sein. Genau hier, so der Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge unlängst in einem Zeitungsinterview, kommt Kunst ins Spiel: "Wir müssen Landkarten der Subjektivität gegen das Allwissen des GPS halten." Judith Schalanskys "Atlas der abgelegenen Inseln" ist ein hinreißendes Bekenntnis zu dieser Art der Welt-Aneignung.

    Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde. Mare Verlag, 144 Seiten, 34 Euro.