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Isolationshaft und Zwangsernährung für Heimkinder

Härte, Strafe, Disziplinierung – das waren lange die deutschen Synonyme für Erziehung. Besonders gewaltsam fiel dieses Regiment in Kinderheimen aus, auch in denen des Landeswohlfahrtsverbands Hessen. Wissenschaftler haben die Akten nun im Auftrag des Verbands aufgearbeitet.

Von Anke Petermann | 23.05.2013
    Schon die Einweisung ins Heim war Entrechtung und Strafe - für all das, was in den 50er-Jahren als aufsässig und widerspenstig galt. Elke Bockhorst, Sprecherin des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen.

    "Was ich ganz besonders krass finde ist, dass es mehrere Beispiele gibt von Mädchen, die sexuell belästigt wurden und sich dann ans Jugendamt gewandt haben, und bestraft hat man nicht die Täter, sondern man hat sie dann ins Heim gesperrt, so nach dem Motto, die müssen ja schon irgendwie was provoziert haben, wenn so etwas passiert."

    Viele weggesperrte Kinder hätten besonders viel Zuwendung gebraucht, weil sie einen oder beide Elternteile verloren hatten oder aus sozial benachteiligten Familien stammten. In den Heimen des Landeswohlfahrtsverbandes gab es stattdessen besonders harte Strafen, Schläge und auch psychische Gewalt. Renate kam in das geschlossene Mädchenheim Fuldatal im nordhessischen Guxhagen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Mit einem Schlag verlor die 14-jährige Freiheit und Selbstbestimmung, wurde wie eine Gefangene behandelt. Sie verletzte sich selbst, um entlassen zu werden, vergeblich:

    "In dieser Situation ist man total hilflos, man ist eingesperrt, man kann nichts machen. Und wenn man sich dagegen aufgebäumt hätte, wäre man nur wieder in diese Besinnungsstube eingesperrt worden."

    Besinnungsstube? Andreas Jürgens, Vize-Chef des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, redet Klartext:

    "Das war im Grunde genommen nichts anderes als eine Isolationshaft, ein Karzer, ein Kerker, in dem zur Strafe über Tage, teilweise über Wochen, die Mädchen eingesperrt worden sind, wenn sie irgendwas gemacht hatten was man nicht durfte. Und man durfte fast gar nichts."

    Gewalt als durchgängiges Erziehungsmittel, präsent nicht nur in Ausnahmesituationen wie Kerkerhaft, sondern in jeder Alltagsroutine: Essen unter Zwang, auch bei Erbrechen. Waschen unter Aufsicht und ohne Intimsphäre. Einschlafen in Angst, denn bei Bettnässen drohte Prügel. Heimmitarbeiter gleich Täter? "Sie waren das Gesicht eines damals gesellschaftlich gewollten rigiden Systems", meint Andreas Jürgens. In Tondokumenten der Ausstellung kommt eine Anhängerin der Studentenbewegung zu Wort, die sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre für die Heimkinder einsetzte:

    "Das Schlimme war damals ja auch, dass die ganze Bevölkerung die gleichen Haltungen hatte wie die Akteure, nämlich dass diese "schwer erziehbaren" Jungen oder Mädchen – was war "schwer erziehbar", ne – dass man die eben wegstecken muss und dass man die bestrafen muss, und dass man die disziplinieren muss und dass nur Härte greift und dass man "denen" keinen Freiraum geben darf."

    Die Rolle der Studentenbewegung, der außerparlamentarischen Opposition, kurz APO, thematisiert die Ausstellung auch deshalb, so Elke Bockhorst,

    "weil ohne die APO damals und ohne die Studentenbewegung die Reformen in den 70er-Jahren gar nicht umgesetzt worden wären. Das ist schon ganz deutlich auf den öffentlichen Druck dieser Bewegung hin passiert. Es gab auch Druck von Wissenschaftlern, es gab damals ja zum Beispiel eine wissenschaftliche Untersuchung im Mädchenheim Fuldatal, da kam ein Mitarbeiter von der Uni Marburg, der versucht hat, über Legasthenie- Forschung diese Mädchen zu befragen – das war ein reines Mädchenheim – und dabei hat er festgestellt, dass diese Mädchen dort keinerlei Bildung und berufliche Förderung erhielten, und das hielt er für einen ziemlichen Skandal und machte das damals öffentlich. Also, der Druck kam einerseits von Wissenschaftlern und sehr, sehr stark auch von der APO und der Studentenbewegung."

    Die Opfer der Heimerziehung blieben oft ihr Leben lang beruflich und psychisch beeinträchtigt. Zwar empfänden viele die offizielle Entschuldigung des Landeswohlfahrtsverbandes und die wissenschaftliche Aufarbeitung als Genugtuung, meint Elke Bockhorst, sie forderten aber auch:

    "Ihr müsst doch mehr machen, und wir brauchen auch mehr als diese Art von Entschädigung, die da am Runden Tisch in Berlin beschlossen wurde."