Samstag, 20. April 2024

Archiv

Johanna Holmström: "Asphaltengel"
Mitreißendes muslimisches Coming-of-Age

Sie ringen um Selbstbestimmung und Anerkennung: Die finnlandschwedische Autorin Johanna Holmström erzählt in ihrem Roman "Asphaltengel" die Geschichte dreier junger muslimischer Frauen in Helsinki. Rasant geschrieben, findet die deutsche Schriftstellerin Antje Ravic Strubel in ihrer Rezension. Das Buch thematisiere dabei vor allem eines: wie die Frau zum Objekt gerät - unabhängig von der Kultur, in der sie lebt.

Von Antje Ravic Strubel | 26.02.2016
    Fünf Frauen mit Kopftüchern, von hinten fotografiert.
    Alle drei Protagonistinnen in Holmströms Roman tragen Kopftuch, haben jedoch ganz unterschiedliche Gründe für das Tragen einer Kopfbedeckung. (picture alliance / dpa / Arne Dedert)
    Eine Internet-Diskussion brachte Johanna Holmström auf die Idee zu ihrem Roman "Asphaltengel". Statt sich mit den nationalen Gesinnungen der rechten Partei der "Wahren Finnen" online herumzuschlagen, schrieb sie die berührende, aufrüttelnde Geschichte dreier junger muslimischer Frauen in Helsinki, die um Selbstbestimmung und Anerkennung ringen.
    Holmströms Roman ist einer der ersten in Finnland, die sich überhaupt mit dem Thema Migration beschäftigen. In ihrer ungewöhnlichen, offenen Herangehensweise hält die junge, finnlandschwedische Autorin dem westeuropäischen Blick auf die Anderen, die Fremden einen Spiegel vor; ein Blick, der allzu schnell Religion und Kultur miteinander vermengt.
    Die Schwestern Samira und Leila und ihre Freundin Jasmina wachsen in einem typischen Migrantenviertel von Helsinki auf. Auf der einen Seite die Plattenbauten mit Somaliern, Tunesiern, Syrern, auf der anderen Seite die Einfamilienhäuser mit Gärten, in denen finnische Familien wohnen.
    Samira und Leila haben eine finnische Mutter, die mit einem Tunesier verheiratet ist. Der Vater wanderte vor Jahren aus dem Maghreb nach Finnland ein, die Mutter konvertierte aus Liebe zu ihm zum Islam. Wie bei Konvertiten häufig der Fall, folgt sie den neu gefundenen Glaubensgrundsätzen besonders streng. Sie verbannt Fotos und den Fernseher aus der gemeinsamen Wohnung, trägt Kopftuch und erzieht ihre Töchter nach den Regeln des Koran.
    Autorin unterläuft gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster und bricht Klischees
    Aber bei Johanna Holmström ist alles ein bisschen anders als erwartet. Diese Autorin unterläuft gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster, setzt geschickt dramaturgische Kontrapunkte, und veranschaulicht an ihren Figuren, wie schnell Klischees sich verfestigen, indem sie sie bricht. Der islamische Glaube ist für die Mutter ein Mittel zur Emanzipation. Mithilfe der Religion entkommt sie einer stereotypen männlichen Vorstellungswelt. Sie widersetzt sich den Erwartungen des Ehemannes, der, weniger gläubig, seine Frau in der Rolle der Hausfrau sehen will. Im Gegensatz zu ihrem Mann liest sie den Koran.
    Und dort, sagte Holmström in einem Interview, wird den Frauen das Tragen des Kopftuchs nicht vorgeschrieben. Es ist keine religiöse, sondern eine kulturelle Praxis. Holmström, die mit einem arabischen Mann verheiratet war und arabische Literaturwissenschaften studierte, gehört zu jenem Kreis junger Autorinnen, die in Schweden und Finnland eine neue Welle des Feminismus in Gang setzten, angesehener und gewichtiger, als es in Deutschland momentan denkbar wäre. Ihre differenzierte Sicht auf die muslimische Frau spiegelt geschickt auch immer das Rollenverständnis der westeuropäisch sozialisierten Frauen wider.
    Die Hauptfiguren in "Asphaltengel" sind Teenager an der Grenze zum Erwachsensein. Alle sind muslimischen Glaubens, aber jede hat ganz eigene Auffassungen davon, und auch mit den Restriktionen und Anpassungsmechanismen in der finnischen Gesellschaft gehen sie unterschiedlich um. Keine möchte sich jedoch an einen Mann verschachern lassen. Sexualität, Hochzeit und Ehe sind zentrale Themen dieses Buches.
    Entmystifizierung des Kopftuches
    Auch die pornografisch-verödete westliche Sexkultur rückt in den Blick, und auf einmal zeigt sich, dass dort, wo gewöhnlich fundamentale gesellschaftliche Unterschiede vermutet werden, bloß graduelle Abstufungen herrschen. Die Degradierung der Frau zum Körper findet sich in allen Gesellschaften; nur die Markierungen sind andere.
    Samira, die ältere Schwester flüchtet von zu Hause in ein Frauenhaus. Sie taucht unter, weil sie studieren möchte. Ihre Freundin Jasmina geht eines Tages in ihr Heimatland zurück. Leila, die jüngere Schwester, driftet unentschlossen zwischen der religiösen Mutter und mobbenden Schulkameraden hin und her. Alle drei tragen Kopftuch, und es ist Holmströms literarischem Können zu verdanken, dass "Asphaltengel" wie nebenbei auch das Kopftuch entmystifiziert. Häufig wird es als Symbol der repressiven Strukturen des Islam gelesen oder als Symbol der Bedrohung europäischer Werte.
    Holmström aber entwirft individuelle Geschichten eigensinniger Frauen, die ganz unterschiedliche Gründe für das Tragen einer Kopfbedeckung haben. Leila beispielsweise verbirgt ihre Haare unter der Kapuze ihres Sweatshirts; ein Kompromiss zwischen Familien-und Schulwelt. Abends bemächtigt sie sich mit anderen Jugendlichen der Stadt. In wilden Jagden geht es über Straßen und Plätze Helsinkis; in dieser gefürchteten, aber nicht wirklich bedrohlichen Jugendgang werden Mädchen und Jungen ununterscheidbar; eine Möglichkeit, für Momente über sich selbst zu bestimmen.
    Wirkliche Zuflucht findet Leila jedoch nur bei ihrer älteren Schwester Samira am Krankenhausbett. Samira geriet durch ihre Beziehung zu einem ehemaligen Neonazi in Schwierigkeiten, wurde von der Treppe gestoßen und liegt im Koma. Sie hat keine eigene Sprache mehr, keine Handlungsmacht, keinen Willen. Sie ist nur als Körper anwesend, ein Körper, der am Ende sogar verheiratet wird.
    Starker Beitrag zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern weltweit
    Die Eheschließung im Krankenhaus zwischen dem zum Islam konvertierten Ex-Neonazi und der bewusstlosen Samira ist die absurdeste und tragischste Szene dieses Buches und eine starke Visualisierung dessen, was Holmström auf überzeugende und bestürzende Weise immer wieder thematisiert: wie die Frau zum Objekt gerät. Und zwar unabhängig von der Kultur, in der sie lebt. Sie ist es, der gesagt wird, wie sie sich zu kleiden, zu verhalten, wie sie zu sein hat.
    So wie die Frau dem männlichen Blick ausgesetzt ist, unterliegen die Migranten den westeuropäischen Blicken. Es sind Blicke, die Erwartungshaltungen festlegen, Handlungsspielräume vorgeben und Stereotype entstehen lassen, die so stark sind, dass die Betroffenen sie am Ende selbst reproduzieren. Auch das zeigt Holmström in ihrem rasant erzählten, immer wieder überraschenden Roman, der von Wibke Kuhn aus dem Finnlandschwedischen in ein griffiges, lebensnahes Deutsch übersetzt wurde.
    Selbstermächtigung auf der einen und Verlust der Handlungsmacht auf der anderen Seite sind die beiden großen Pole, zwischen denen sich drei aufschlussreiche muslimische Coming-of-Age Geschichten in der finnischen Hauptstadt abspielen. Holmström ist mit "Asphaltengel" ein mitreißendes Buch über eine literarisch noch unentdeckte Seite der finnischen Gesellschaft gelungen, das in Finnland für Kontroversen sorgte. Und es ist ein starker Beitrag zu einer der größten moralischen Herausforderungen unserer Zeit: der Gleichberechtigung von Frauen und Männern weltweit.

    Johanna Holmström: "Asphaltengel"
    Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn
    Ullstein Verlag, 393 Seiten, 14,99 Euro.