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Israel
Trauma-Experten helfen in der Flüchtlingskrise

In Israel stehen rund 400 Psychologen der Hilfsorganisation "Amcha" Holocaust-Überlebenden zur Seite, um ihnen bei der Bewältigung ihrer Traumata zu helfen. Einige der Experten engagieren sich inzwischen auch in Europa.

Von Sabine Adler | 10.11.2016
    Sie sehen die Silhouetten von Flüchtingen, die auf der Insel Lesbos an Bord eines Schiffes gehen.
    Flüchtlinge in Lesbos gehen an Bord, um nach Dikili/Türkei gebracht zu werden. (AFP / Aris Messinis)
    Jerusalem, die Menachim-Ussischkin-Straße. Im Vorgarten begrüßt Jobbi, der lustige Pudel Giselle Cychowicz. Die Therapeutin besucht ihre Patientin, beide sind Auschwitz-Überlebende. Die Psychologin Giselle Cychowicz ist unermüdlich, hält trotz ihrer fast 90 Jahre immer noch Therapiestunden ab. Anders ihre Patientin, sie verlässt ihre Wohnung nicht mehr. Der Nachbarshund und die Therapeutin sind ihr einziger Kontakt zur Außenwelt.
    "She sleeps most of the day, she stays in bed, she doesn’t go up."
    Die Patientin bleibt die meiste Zeit im Bett. Aus dem Schlafzimmer bittet sie schließlich in die Wohnküche und kommt hinzu.
    Vorsichtig lässt sie sich auf dem Küchenstuhl neben der Therapeutin nieder. Die dunklen Augenbrauen in dem traurigen bleichen Gesicht der Patientin bewegen sich lebhaft und unterstreichen jedes ihrer Worte. Sie spricht Ungarisch. Nachdem sie dem Konzentrationslager Auschwitz entkommen war, heiratete sie den Mann ihrer ermordeten Schwester. Die Ehe gab ihr das Gefühl, nie ein eigenes Leben zu besitzen. Und nie die Gewissheit, gemeint und erwünscht zu sein.
    "Sie spricht ausschließlich über ihre Erlebnisse während des Holocausts. Sie weiß noch sehr viele Details und diese Erinnerungen überfluten sie regelmäßig. So ist das: Einige Erinnerungen suchen dich heim, ohne dass du verstehst, woher und warum sie kommen. Sie berichtet mir davon wie in einer Serie mit vielen Folgen."
    Wenn die Therapeutin sie fragt: Wie hast du dieses oder jenes erlebt…? dann leuchten Theklas Augen. Sie wird lebhaft. Trotzdem wird sie bis zum nächsten Treffen eine Woche lang keinen Fuß vor die Tür, erst recht in kein Café setzen, sondern im Bett bleiben, lesen, träumen.
    Erinnerung an die eigene Flucht
    Giselle Cychowicz ist die mit Abstand älteste der 400 Psychologen, die bei der Hilfsorganisation Amcha in Israel tätig sind. Sie haben einen hervorragenden Ruf als Experten für posttraumatische Behandlungen und bieten deshalb in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise ihre Hilfe an.
    Ohne freilich die Menschen im Stich zu lassen, die die Schrecken der Shoa durchlitten haben. Bei Opfern kollektiver Gewalt kann durch Therapie der Leidensdruck merklich gelindert werden, sagt Martin Auerbach, der wie Giselle Cychowicz als Psychologe langjährige Erfahrungen mit Holocaust-Überlebenden und deren Familien hat.
    "Trauma schafft immer eine Kluft zwischen dem, was mir passiert ist und den anderen Menschen, denen das nicht passiert ist. Und dafür brauchen sie einen anderen, der für sie ein Gesprächspartner ist, der zuhören kann, dadurch, dass ich es einem anderem Menschen langsam erzählen kann, kann ich auch selber mit mir sprechen. Und dann versuchen – und das ist ein Versuch, der das ganze Leben anhält – damit besser fertig zu werden."
    Israelische Psychologen aus der Amcha-Büro in Haifa engagieren sich inzwischen aber auch in Europa, denn die Bilder von den überfüllten Schlepperbooten und die in langen Schlangen an Grenzzäunen wartenden Menschen erinnern die Holocaust-Überlebenden an ihre eigene Flucht. Viele haben Europa selbst auf klapprigen alten Schiffen verlassen. Allerdings hat für die Organisation die eigene Klientel derzeit immer noch stets Vorrang.
    "Alles was wir tun, darf allerdings nie unsere Arbeit für die Holocaust-Überlebenden beschneiden."
    Einsatz für Palästinenser ist umstritten
    In Israel selbst könnten die Amcha-Psychologen Palästinenserkindern helfen, sagt der Vorsitzende Arieh Barnea, doch dieser Vorschlag löst die meisten Diskussionen aus, bei den AMCHA-Mitarbeitern wie bei den Geldgebern.
    "Vielleicht ist das, was mir vorschwebt, erst möglich, wenn es eine politische Lösung in unserer Region gibt. Vielleicht geht es aber auch schon früher. Die Palästinenser sind eine wichtige Gruppe, vor allem die Kinder, die den Horror des Krieges bereits erlebt haben. Für mich sind das nicht Kinder unserer Feinde, sondern Kinder, die Hilfe brauchen, weil sie unter all dem leiden, was der israelisch-palästinensische Konflikt mit sich bringt."
    "Ich weiß nicht, ob ich mich damit durchsetze. Aber vielleicht könnte das ein Gebiet sein, in dem wir unserem humanistischen Anspruch gerecht werden könnten."
    Israelische Psychologen haben bereits Flüchtlinge auf Lesbos oder Erdbebenopfer in Nepal betreut, diese Hilfe ist weit weniger strittig.