Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Israel vor der Wahl

Am 22. Januer wählt Israel ein neues Parlament. Eineinhalb Jahre nach den großen Sozialprotesten vom Sommer 2011 haben die unzufriedenen Israelis Gelegenheit, für eine andere Politik zu stimmen. Allerdings sieht es nicht nach einem Wechsel aus.

Von Christian Wagner | 19.01.2013
    Was wählst Du? Diese Frage kann man in Israel ganz offen stellen und man bekommt auch eine ehrliche Antwort.

    "Ja ich werde die Arbeitspartei wählen, für Shelly Jachimovic stimmen. Was mir wichtig ist: Sie konzentriert sich sehr stark auf soziale Fragen, und sie kann sich durchsetzen. Im Gegensatz zu ihr fühlen sich die meisten Politiker ihren Wählern nicht verpflichtet, die verfolgen nur eigene Interessen.

    Das ist die erste Wahl, bei der ich mich immer noch nicht entschieden habe. Ich weiß nicht, für wen ich stimmen soll. Ich glaube, ich wähle die Hatnuah von Tzipi Livni. Aber mein Mann will mich davon überzeugen, auch die Arbeitspartei zu wählen."

    Das sind Itai und Inbal. Nach einem langen Arbeitstag sitzen sie auf ihrem Sofa. Die Kinder, zwei und vier, sind im Bett. Inbal lacht, weil ihr Mann sie noch überreden will, doch auch für die Arbeitspartei zu stimmen und nicht für die neue Hatnuah-Partei der ehemaligen Außenministerin Livni.
    Itai und Inbal sind beide Anfang 40, sie ist Sprachtherapeutin, er Informatiker. Und sie haben beide einen Vollzeit-Job.

    "Uns geht es nicht schlecht, aber wir können nichts zur Seite legen. Und unsere Regierung kümmert sich überhaupt nicht um die Altersvorsorge. Und weil wir kaum Ersparnisse haben, mache ich mir Sorgen um unsere Zukunft."

    Diese Fragen treibt das Ehepaar schon lange um. Deswegen waren sie auch bei den großen Protesten im Sommer 2011 auf der Straße, haben gemeinsam mit Hunderttausenden anderen "Mehr soziale Gerechtigkeit" gefordert. Und was hat sich seitdem verändert in Israel? Die beiden schauen sich ratlos an. Eigentlich nichts.

    "Wir sind uns durch den Protest mehr im Klaren darüber, wie überteuert die Dinge tatsächlich sind. Europäische Lebensmittel sind bei uns manchmal doppelt so teuer. Und selbst bei israelischen Produkten sind die Preise hier höher als im Ausland. Das ist doch absurd."

    Vor allem wenn man bedenkt, dass das Einkommensniveau in Israel grundsätzlich niedriger ist als im Schnitt der EU-Länder. Das Taub Center, ein sozialwissenschaftliches Forschungs-Institut in Jerusalem,hält in seinem Jahresbericht fest, dass teure Wohnungen und teure Lebensmittel nur die Spitze eines Eisbergs sind. Die eigentlichen Probleme würden nicht erkannt:

    "Dieser Eisberg sieht so aus: Ein großer und wachsender Teil der Israelis kann am Arbeitsleben einer modernen Gesellschaft nicht mehr angemessen teilhaben. In der Folge gibt es mehr Armut und die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander."

    Ein paar Fakten: Die israelische Regierung gibt für Zinsen und Tilgung von Schulden inzwischen genauso viel aus wie für Bildung. In die Verkehrsinfrastruktur wird kaum investiert, ein öffentlicher Nahverkehr für Pendler existiert praktisch nicht.

    Für Itai und Inbal bedeutet das: Sie leben in Tel Aviv, auch wenn es teuer ist. Weiter außerhalb wäre natürlich eine günstigere und bessere Wohnung zu bekommen. Aber Jobs, Kinderbetreuung und Schulen sind dann kaum erreichbar. Die Wissenschaftler des Taub Center halten Ministerpräsident Netanjahu vor, seine Regierung habe sich um die eigentlichen Aufgaben nicht gekümmert.

    "Würde Israel im großen Stil in die Schulen außerhalb der Ballungsräume investieren und würde das Land genauso in öffentliche Verkehrsmittel für Pendler investieren, dann wären zwei der drängendsten Probleme für junge Familien der Mittelschicht gelöst: Eine gute Ausbildung für die Kinder und erreichbare Jobs für die Eltern."

    Hat die Regierung Netanjahu also gar nichts in Angriff genommen? Ach ja, sagt, Itai, es gibt jetzt die kostenfreie Kinderbetreuung, allerdings nur am Vormittag. Damit sie beide arbeiten können, zahlen Itai und Inbal für ihren Vierjährigen die Nachmittagsbetreuung eben doch wieder aus der eigenen Tasche.

    "Und diese vier zusätzlichen Stunden kosten uns umgerechnet mehr als 500 Euro im Monat. Die Regierung denkt, wir sind blöd. Die sagen, Kinderbetreuung sei jetzt kostenlos, aber das stimmt nicht. Ich finde das lächerlich."

    Kann sich Israel also höhere Ausgaben für Soziales nicht leisten? Das Land steht wirtschaftlich gut da, auf den ersten Blick. Beim Wachstum und der Arbeitslosigkeit sehen die Zahlen besser aus als im Durchschnitt der anderen OECD-Staaten. Die weltweite Wirtschaftskrise hat Israel bisher fast unbeschadet überstanden. Der politischen Spitze Israels hält das Taub Center dennoch vor, sie sei im Blindflug unterwegs.

    "Das – im Vergleich mit anderen Ländern – recht gute Wirtschaftsklima der vergangenen Jahre ist trügerisch. Und die Politik konnte nichts anfangen mit den kurzfristig rosigen Aussichten und den Problemen, mit denen wir auf lange Sicht konfrontiert sind."

    Eine Sicht, die Inbal bestätigt:

    "Die Politiker wollten gar keine Probleme lösen. Weil sie gar kein Problem gesehen haben. Sie haben das Protest-Feuer gelöscht und dann weitergemacht wie bisher."

    "Wir haben die Hoffnung verloren" sagt die berufstätige Mutter. Und sie will für die Hatnuah-Partei von Tsipi Livni stimmen, weil sie am ehesten einen Ausgleich mit den Palästinensern suchen würde. Inbal ist überzeugt, erst wenn der Nahostkonflikt gelöst ist, wird Israel Zeit und Kraft haben, sich um seine eigenen gesellschaftlichen Fragen zu kümmern.

    "Dadurch, dass wir nichts unternehmen, wird es immer schlimmer. Bei den Palästinensern brodelt es, weil sie keine Hoffnung mehr haben. So wie es bei uns wegen der schwierigen sozialen Lage brodelt. Wir sollten etwas tun, denn ich will keine dritte Intifada erleben."

    Ihr Mann Itai bleibt bei seiner Entscheidung für Awoda, die Arbeitspartei. Von der Neuwahl am Dienstag und der neuen Regierung verspricht er sich gar nichts. Er hofft vielmehr, dass die Regierung diesmal keine vier Jahre durchhält.

    "Vielleicht regiert Netanjahu nur zwei Jahre und vielleicht gibt es dann wirklich einen Wechsel."