Freitag, 19. April 2024

Archiv


Istanbuler Bourgeoisie als europäisches Remake

"Cevdet und seine Söhne" ist ein schönes Beispiel dafür, dass wir aus einem Roman sehr viel mehr über die Fremde lernen können als aus der Gesinnungsprosa unserer Zivilisationsverwalter.

Von Walter van Rossum | 01.05.2011
    Es ist heiß an jenem Tag in Istanbul im Jahre 1905. Cevdet steht früh auf. Er hat viel vor. Er ist 37 Jahre alt und in ein paar Wochen soll seine Hochzeit stattfinden. Seine Verlobte Nigan hat er erst zweimal gesehen – eher aus der Ferne. Und heute wird er sie kurz zum dritten Mal sehen, wiederum nur von weitem.

    "Zwischen der Kutsche und dem Eingang zu den Frauengemächern war ein platanenbeschattetes Pflaster. Zuerst sah Cevdet eine hochgewachsene weißgekleidete Frau heraustreten. Aus dem Lachen des Pasas schloss er, dass es sich dabei um Nigans Mutter handeln musste. Danach kamen, plaudernd und umherblickend, nacheinander die drei Mädchen heraus. "Sie wissen gar nicht, dass ich im Hause bin!" dachte Cevdet fast schuldbewusst. Die Mädchen wirkten lebhaft und fröhlich. Cevdet bekam nicht heraus, welche davon Nigan war. "Eine Familie!" murmelte er. Ihm war, als hörte er das Ticken der Uhr. Er verstrickte sich immer mehr in seinen Schuldgefühlen. "Eine von denen da" dachte er angstvoll. "Eine Familie." Er versuchte, eines der schattenhaft leichten Mädchen in seiner Vorstellung von Familienleben unterzubringen. Er merkte, wie heftig ihm das Herz schlug, und schämte sich dafür. "Was bin ich für ein Mensch?""
    Doch er ist sich sicher: Nigan ist die Richtige. Obendrein ist sie die Tochter von Sükrü Pascha. Und auch den will er an diesem Tag besuchen: Hochzeitsvorbereitungen besprechen. Um sich auf Standeshöhe zu bewegen, hat er seit einigen Monaten eine noble Kutsche samt Kutscher gemietet. Cevdet stammt aus einfachen Verhältnissen. Erbe eines Lampengeschäfts, beliefert er mittlerweile große Betriebe, und sein Laden hat sich selbst zu einem ansehnlichen Betrieb entwickelt. Außerdem hat er noch einiges vor. Allein, damit schlägt er aus der Art, denn zu jener Zeit war es ungewöhnlich, dass Muslime sich als Geschäftsleute betätigten. Das wurde erst üblich, nachdem die nichtmuslimische Bourgeoisie Istanbuls, also Griechen, Armenier und Juden durch Schikanen aller Art allmählich aus dem Land getrieben wurden.
    Doch die Zeiten ändern sich. Gerade war ein Attentat auf den Sultan verübt worden. Es gärt im Volk und auch andere Schichten lechzen nach Reform und Modernisierung. Die Welt des Politischen interessiert Cevdet nicht und mit hehren politischen Idealen hat er erst recht nichts am Hut. Ein Kaufmann, ein Aufsteiger auf der Suche nach seinem Gesellschaftsplatz. Und er ist unterwegs: Die Ehe mit der höheren Tochter, das schöne Haus, das er kaufen will, der behutsame Ausbau der Geschäfte. Ein Gründer in einer Zeit und in einer Gesellschaft, die das Gründen erst noch lernen müssen.

    "Er bedauerte, nach dem Essen kein Schläfchen halten zu können, und dachte über sein Leben nach. "Was ist mich für das Leben? Ich habe Fuad gesagt, dass ich das für eine unsinnige Frage halte. Das ist sie auch, und ich will gar nicht darüber nachdenken. Ich will mir nicht über das Leben den Kopf zerbrechen, sondern über meine Geschäfte! Was das Leben sein soll? Wo hat er so etwas nur her? Aus Büchern, aus Europa, von Leuten, die hinter wer weiß was für einem Komplott stecken! Was das Leben sein soll ... Die Frage ist einfach dumm."

    Das erste große Kapitel des Romans handelt allein davon, wie Cevdet an jenem Tag im Jahre 1905 mit der Kutsche durch Istanbul fährt. Mehr als 30 Jahre später treffen wir ihn wieder in jenem Haus, das er damals kaufen wollte – und tatsächlich gekauft hat. Er ist verheiratet mit Nigan, die Ehe läuft gut. Er hat zwei Söhne und eine Tochter. Die Geschäfte haben sich weiterentwickelt. Kurz, seine Pläne sind aufgegangen. Doch jetzt geht er auf die 70 zu, manchmal lässt ihn schon sein Gedächtnis im Stich. Die Firma überlässt er mehr und mehr den Söhnen. Und besonders Osman, dem Ältesten, ist das nicht Unrecht. Auch er hat große Pläne, da würde das eher behutsame Kaufmannstemperament seines Vaters eher stören.
    Die beiden Söhne sind auch schon verheiratet und haben bereits Nachwuchs. Von außen betrachtet scheinen wir es mit der Idylle einer wohlhabenden Großfamilie zu tun zu haben: Das Gründerpaar, die Kinder und Enkelkinder bewohnen ein herrschaftliches Haus mit schönem Garten, alle umsorgt von ergebenen Dienstboten, die z. T. seit Jahrzehnten die Familie umsorgen. Doch einer der beiden Söhne infiziert sich mit einem geheimnisvollen und bis dahin in Istanbul wenig bekannten Virus. Nennen wir ihn: Existenzialismus – also das relativ moderne Phänomen, dass ein Mensch dramatisch erfährt, dass er sich als Individuum hervorbringen soll und muss.

    "Jeden Morgen schlage ich die Zeitung in der Hoffnung auf, dass irgendetwas darin mein Leben von Grund auf verändern wird. Dass vielleicht ein Weltkrieg ausbricht oder sonst etwas Umwälzendes geschieht. Das heißt, einen Krieg will ich eigentlich nicht. Sondern etwas, das mein Leben umstülpt, weil ich das aus eigener Kraft nicht schaffe. Mit ist selber nicht klar, wie das aussehen soll, aber eines weiß ich ganz genau, nämlich dass das Leben, das ich derzeit hier zu Hause und in der Firma führe, träge, armselig, miserabel, furchtbar und eines ehrenhaften Menschen unwürdig ist. Muhittin hat behauptet, ich hätte doch eigentlich alles und müsse daher glücklich sein. Stimmt Ja auch! Und wenn ich daran denke, erröte ich ... Aber da ist noch etwas, das fehlt."
    Unweigerlich wird man Orhan Pamuks Roman als eine türkische Ausgabe der Buddenbrooks wahrnehmen. Und tatsächlich bekennt sich Pamuk in einem kurzen Nachwort anlässlich der Übersetzung seines ersten Romans zu diesem Vorbild. Die Buddenbrooks und Anna Karenina – das andere Modell – kannte er aus der Bibliothek seines Vaters, ein Mann, der viel las und der von den großen europäischen Schriftstellern wie von Generälen oder Heiligen sprach.

    Die Familie lebte in einem großen fünfstöckigen Anwesen im Istanbuler Viertel Nisantasi, genau da und genauso wie Cevdet mit seinen Söhnen in Pamuks Roman. Orhan Pamuks Großvater war als Ingenieur beim Eisenbahnbau zu beträchtlichem Reichtum gekommen. Und doch ist es nicht die Geschichte seiner eigenen Familie.

    Pamuk hatte im Alter von 22 Jahren begonnen, den Roman zu schreiben, als er 1982 endlich erschien, war er 30. Später hat er sich von seinem ersten Buch distanziert und wollte lange nichts von einer Neuauflage, geschweige denn von Übersetzungen wissen. In seinem Nachwort erklärt er, dass er sich geschämt habe, in welchem Maße die großen Vorbilder des europäischen Familienromans durchschienen. Das mag sein, mag auch sein, dass der Schriftsteller in seinem ersten Roman noch nicht zu jenem Pamukesken Ton gefunden hat, der in später zu Recht weltberühmt werden ließ. Das ändert nichts daran, dass für einen mitteleuropäischen Leser unserer Tage "Cevdet und seine Söhne" außerordentlich lesenswert bleibt. Allein deshalb, weil dieser Roman mit dem Imaginären eines Landes vertraut macht, über das in Europa zurzeit jede Menge eher ahnungslose Gerüchte kursieren.
    Vor allem sollte man eine entscheidende Brechung nicht übersehen: Wenn Cevdet und die Seinen eine gewisse Ähnlichkeit mit den Buddenbrooks haben, dann weil sie sich auf verschlungenen und vielfach vermittelten Wegen als ihre ferne Kopie errichten. Genau das bildet auch ein zentrales und stets wiederkehrendes Motiv in diesem Roman: die Vermessung der türkischen Befindlichkeit an sagenhaften europäischen Idealen.

    "Ich habe viel gelernt in Europa. Ich kann nicht mehr indolent dahinleben und mich mit Brosamen begnügen. Ich habe in Europa gelernt ... dass ich ein Leben habe und dass ich dann sterben werde!"
    "Und das wusstest du vorher nicht?" sagte Muhittin lachend.
    Ömer ging auf den Tisch zu und blieb abrupt stehen. "Nein, ich habe es erst lernen müssen. Ich habe Dinge lernen müssen, die du hier verspottest, ohne eine Ahnung zu haben. Man muss etwas anfangen mit seinem Leben. Es mit etwas füllen. Über alles Bisherige hinausgehen. Etwas tun. Und das Getane die anderen dann auch wissen lassen. Ich will kein gewöhnliches Leben mehr!"


    Der weitaus größte Teil des Romans erzählt die Geschichte von Cevdets Söhnen in den Jahren 1936-1940. Nachdem Cevdet stirbt, übernimmt Osman, der Älteste, die Rolle des Pater familias und Firmenchefs. In Wahrheit gibt es über ihn nicht viel zu berichten. Er schlüpft in die Rolle, die für ihn bereitstand und wenn es ihm mal zu eng wird, vergnügt er sich mit seiner Maitresse.
    Wesentlich unruhiger geht es im Leben Refiks, seines jüngeren Bruders, zu. Genauer gesagt, geht es hauptsächlich um Refik und seine Freunde Muhittin und Ömer. Die drei kennen sich aus Studienzeiten. Als Studenten der Ingenieurswissenschaften hatten sie auf der Uni ein berüchtigtes Trio gebildet. Mit der Geschichte dieser Freundschaft sprengt Pamuk die Grenzen des Familienromans und er erweitert das Spielfeld auf andere türkische Städte und Regionen. Und es geht natürlich um jenes imaginäre Europa, in das alle drei auf unterschiedliche Weise verstrickt sind.

    Allein Ömer hat einige Jahre in Europa gelebt, in London und Paris studiert. Wir lernen ihn auf der Heimreise kennen, wo er sich im Zug zufälligen Bekannten als eine Art Rastignac vorstellt, als die Erobererfigur aus Balzacs Romanzyklus "Die menschliche Komödie". Was genau er erobern will, steht noch nicht so ganz fest. Es ist zunächst einmal das Herz eines Mädchens, Tochter eines Abgeordneten in Ankara, was ja auf jeden Fall schon mal nützlich sein könnte. Gleichzeitig verdingt er sich als Ingenieur beim Eisenbahnbau der Linie Sivas-Erzurum weit im Osten des Landes, wo er innerhalb weniger Jahre sehr viel Geld verdient.

    "Was will ich? Eigentlich ganz klar, ich sage es ja immer wieder: ein Eroberer sein! Und was bedeutet das konkret? Ich meine, was bedeutet es anderen, oder was soll es ihnen bedeuten? Ganz einfach: dass ich nicht wie jedermann und nicht genügsam sein will. Ich will kein gewöhnlicher Familienvater sein, der sich mit neuen Möbeln, einem neuen Haus und mit Kindern begnügt. Und was will ich stattdessen? Ich! Ich! Ich sage immer nur 'ich, ich'. Ich weiß nur, was ich nicht will! Ich bin jung. Jetzt habe ich schon wieder angefangen zu denken. Das Denken ist nichts für mich! Warum habe ich bloß diesen Cognac bestellt!" Angewidert von den Gedanken und dem Alkohol, stand er auf. "Jetzt bin ich auch noch betrunken. Ich gehe zu Nazli. Ich darf nicht so hässliches Zeug denken. Ich rede mit ihr. Und ich heirate sie. Sie muss mich verstehen ... "
    Muhittin, der zweite aus dem Freundeskreis, arbeitet ebenfalls als Ingenieur, doch er sieht sich im Wesentlichen als Dichter, etwa in der Nachfolge eines Baudelaire. Er träumt vom bösen Schönen, vom Ruhm unsterblicher Worte und vom heiligen Unglück des Verfemten. Für alle Fälle hat er schon mal seinen Selbstmord angekündigt, falls ihm bis zum 30. Lebensjahr keine wahre Dichterexistenz gelungen sei. Doch bevor es soweit kommt, ändert er den Fahrplan und wird glühender Nationalist. Er tauscht das Gift der Intelligenz gegen pausbäckigen Sinn.
    Bei Refik entwickeln sich die Dinge ganz anders. Er hat früh geheiratet, seine Frau erwartet Nachwuchs, zusammen mit seinem Bruder leitet er die väterliche Firma und mit allen zusammen lebt er gemächlich im Hause seines Vaters dahin. Vielleicht reißen ihn seine alten Freunde aus der Behaglichkeit, vielleicht erstickt er auch auf dem allzu eng definierten Territorium der Familie, jedenfalls zieht er sich immer mehr zurück, gerät ins Grübeln, vertieft sich in die Lektüre von Rousseau und Voltaire und beginnt schließlich mit dem Verfassen reformerischer Schriften über das Leben der einfachen Landbevölkerung, die er nur aus Büchern kennt. Gelegentlich führt er Tagebuch, um einen Blick auf sich zu erhaschen oder vielleicht nur auf seinen Schatten:

    "Abends ziehe ich mich hierher zurück und sitze herum. Ich kritzele Zettel voll, schmiede Pläne und ziehe hin und wieder ein Buch heraus und lese. Bei Voltaire, in Rot und Schwarz oder in den Bekenntnissen, in denen ich gerade heute wieder geblättert habe, finde ich einen ganz bestimmten intellektuellen Geist, und dann frage ich mich, warum ich diesen hierzulande nie antreffe, weder bei mir selbst noch bei irgendwelchen Bekannten oder bei türkischen Schriftstellern. Ich bin in einem so hoffnungslos trägen, widerlichen Zustand, aber ist nicht die ganze Türkei so? Alles und jeder scheint immer zu schlafen ... Es hat angefangen zu regnen."
    In jenen Jahren zwischen 1936 und 1940 befinden wir uns am Ende der Ära von Mustafa Kemal, des türkischen Staatspräsidenten und Gründers der türkischen Republik, der seit 1934 den Namen Atatürk trug: Vater der Türken. Er hatte der Türkei seit 1924 eine Modernisierung verordnet – so radikal, wie es sie in der Weltgeschichte wahrscheinlich noch nie gegeben hat. Systematisch und unbarmherzig hatte er die Säulen des Osmanischen Reiches durch die Institutionen und Sitten einer modernen Republik ersetzt. Er betrieb vor allem die strikte Trennung von Religion und Staat, verbot das Tragen religiöser Kleidung und förderte die Gleichstellung der Frauen, er schaffte Kalifat und Sultanat ab und einte den Vielvölkerstaat im Zeichen einer türkischen Nation. Mit anderen Worten, er rottete jahrhundertealte Traditionen mit Stumpf und Stiel aus und implementierte innerhalb einer Dekade eine europäische Moderne, die sich im Empfinden der meisten Türken wie Falschgeld anfühlen musste – selbst wenn sie mit Atatürks Ideen vollkommen einverstanden waren.
    Das ist genau die Situation der drei Freunde - Refik, Muhettin und Ömer – die im vollen Ernst auf drei unterschiedlichen europäischen Kostümen ihre Existenz gründen wollen: als Romanheld des 19. Jahrhunderts, als dunkler Dichterfürst oder als humanistischer Aufklärer. Man ahnt, das kann nicht gut gehen.

    "Cevdet und seine Söhne" heißt der Roman, aber gab's da nicht auch eine Tochter? Doch, Ayse heißt sie, und es ist wahr, sie spielt keine große Rolle. Oder vielmehr wie bei fast allen der zahlreichen Frauen in dieser Geschichte: Sie spielen eine große Rolle, aber im Hintergrund. Man könnte sagen: Sie sorgen für die Kontinuität des Familienalbums. Sie wirken ungefähr so emanzipiert wie die Bürgersfrauen in Berlin oder Paris in jenen Jahren, offenbar haben sie die Beben der Modernisierung ganz anders weggesteckt als ihre Männer und sie scheinen auf verblüffende Weise selbstbewusst.

    "Sie fuhren zu ihrem Sommerhaus, das Cevdet ein Jahr vor seinem Tod noch hatte bauen lassen. Im vergangenen Jahr hatten sie wegen des Trauerfalls nicht hinfahren können, obwohl ein Großteil der Vorbereitungen schon getroffen war, und so hatte Nigan diesmal aus Aberglauben erst recht spät damit beginnen lassen, und es war schon der erste Julisonntag. Diese Verspätung war allerdings noch anderen Faktoren geschuldet. Ayse hatte ihren Schulabschluss gemacht und danach hatte man sich darum gekümmert, sie in die Schweiz zu verschicken. Osman hatte noch Verschiedenes zu erledigen gehabt, und so war alles nur langsam in Fahrt gekommen. "Habe ich auch nichts vergessen?" durchfuhr es Nigan. Sie wollte aber nur an Schönes denken und sah zum Fenster hinaus. Der Dampfer schlingerte an der Serailspitze vorbei. Ganz oben sah man das Topkapi-Serail, unten die Statue von Atatürk, wo er mit in die Hüfte gestützter Hand dastand. Es hieß, dass Atatürk krank sei. Mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der gewöhnt ist, Lob und Tadel zu verteilen, dachte Nigan: "Ich schätze sehr, was er alles getan hat!" und merkte, wie sie wieder zu blinzeln begann. Es war dies der schönste Augenblick vielleicht nicht nur der Überfahrt, sondern des ganzen Sommers. Alles war in Ordnung und sie selbst mit sich im Reinen. Sie durfte alles vergessen und an sich denken. Fünfzig war sie nun. Sie versank in Erinnerungen."

    Bedeutende Familienromane waren immer auch bedeutende Gesellschaftsromane. So ist es auch bei Pamuk. Mag schon sein, dass er noch nicht ganz auf der Höhe seiner Kunst schreibt, manchmal denken seine Figuren allzu sehr im Stil von Abhandlungen, hier und da gerät ein Charakter ein wenig zu ausgedacht, doch alles in allem ist dieser Roman hochspannend. Seite für Seite verblüfft uns Orhan Pamuk mit einer Welt, die wir uns so nicht vorgestellt hatten – wenn wir sie uns je vorgestellt hatten. Und natürlich handelt dieser Roman bereits von Pamuks zentralem Thema: der sogenannten türkischen Identität, die allerdings Pamuk zufolge weniger eine bewohnbare Realität darstellt als vielmehr ein komplexes Phantasma.

    Wir leben zwar in einer globalisierten Welt, doch bei Lichte betrachtet sind wir dem Rest der Welt kaum näher gekommen als unsere Urgroßeltern. Es herrscht sonderbare Fremde um uns herum, nur so viel wissen wir: Wir sind die Speerspitze der Menschheit. "Cevdet und seine Söhne" ist ein schönes Beispiel dafür, dass wir aus einem Roman sehr viel mehr über die Fremde lernen können als aus der Gesinnungsprosa unserer Zivilisationsverwalter. Und während in Istanbul im 20. Jahrhundert eine Bourgeoisie als europäisches Remake entsteht, begreifen wir so manches von den eigenen Verhältnissen.

    Orhan Pamuk: "Cevdet und seine Söhne". Roman. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. C. Hanser Verlag. München 2011. 665 S. 24,95Euro