Rammstein-Song "Radio"

"Meine Ohren werden Augen"

04:41 Minuten
Die Band Rammstein inszeniert in einem historischen Fotostudio.
Zwar gründete sich Rammstein erst nach dem Mauerfall im Jahr 1994. Zur Identität der Band gehört aber bis heute untrennbar die eigene Ost-Sozialisation. © Jes Larsen
Von Gesa Ufer · 02.05.2019
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Fliegen mit der Musik, hinweg über Grenzen: In dem neuen Rammstein-Song "Radio" preist das lyrische Ich den "Weltempfänger" und erinnert an die Liebe der DDR-Jugend zum "Westradio".
Musikalisch?! Alles wie immer.
Brachial liefert die Band den typischen Rammstein-Beat zum Tanz-Stechschritt. Auch ästhetisch gibt sich die Band ambivalent wie gewohnt: Die Uniformen, die totalitäre Anmutung – der Videoclip zum Song "Radio" könnte als Werbemaßnahme für das erste wirklich erfolgreiche Radio der Welt durchgehen, den auf der Funkausstellung 1933 vorgestellten Volksempfänger, das wichtigste Instrument der NS-Propaganda, um das Volk auf Linie zu bringen.
Im Kontrast dazu steht der Text: Statt der üblichen Kraftmeierei à la "Bück Dich" oder "Ein Mensch brennt" erinnert sich das lyrische Ich hier an Zeiten, als es sich eingesperrt und abgehängt fühlte.
Wir durften nicht dazugehören
Nichts sehen, reden oder hören
Doch jede Nacht für ein, zwei Stunden
Bin ich dieser Welt entschwunden
Jede Nacht ein bisschen froh
Mein Ohr ganz nah am Weltempfänger

Zusammenhalt unter Punks in der Subkultur

Zwar gründete sich Rammstein erst nach dem Mauerfall im Jahr 1994. Zur Identität der Band gehört aber bis heute untrennbar die eigene Ost-Sozialisation. Die Erfahrung, sich an Autoritäten reiben zu müssen, aber auch die des großen Zusammenhaltes unter Punks und in der Subkultur, beschreibt Rammstein-Keyborder Christian "Flake" Lorenz in seinen erfolgreichen Romanen "Der Tastenficker" und "Heute hat die Welt Geburtstag".
Musikalisch sozialisiert, so schreibt Flake, sei er durchs Westradio. Einmal pro Woche lauschte er in der DDR dem legendären Briten John Peel in der BBC, ansonsten waren SFB und RIAS sein heimliches Pflichtprogramm.

Radio, mein Radio
Ich lass' mich in den Äther saugen
Meine Ohren werden Augen
Radio, mein Radio
So höre ich, was ich nicht seh‘
Stille heimlich fernes Weh
Das Radio, so wie es Rammstein hier besingt, ist für die Band kein Mittel mehr, um auf Linie gebracht zu werden. Hier wird es zum Vehikel für Ausbruch und Widerstand. Es eröffnet eine Welt, die leuchtet und funkelt, und doch schier unerreichbar bleibt wie eine unerfüllte Liebe.
Die erotische Anziehungskraft des Radios übersetzt das Video rammsteintypisch plakativ: eine Nonne, die ihr Radiogerät anbetet, als Mutter, die dem Empfänger die Brust gibt, als Femenaktivisin mit Radio-Slogan auf dem blanken Busen, auf den Barrikaden oder eine Hausfrau, die ihren Volksempfänger als Sexspielzeug nutzt.
Wir durften nicht dazugehören
Nichts sehen, reden oder stören
Jedes Liedgut war verboten
So gefährlich fremde Noten
Doch jede Nacht ein wenig froh
Mein Ohr ganz nah am Weltempfänger

"Westradio" gehörte zum Jungsein in der DDR

Wie untrennbar "Westradio" zum Jungsein in der DDR dazugehörte, davon erzählt auch Lutz Seiler in seinem preisgekrönten Roman "Kruso". Seiler setzt darin dem Kopf der Berliner Punk-Band "Feeling B", Aljoscha Rompe, ein literarisches Denkmal. Am Strand von Hiddensee erfährt Kruso 1989 von der großen Fluchtwelle aus der DDR - natürlich durchs Westradio. Die DDR war bald darauf Geschichte.
Jede Nacht ich heimlich stieg
Auf den Rücken der Musik
Leg' die Ohren an die Schwingen
Leise in die Hände singen
Jede Nacht und wieder flieg'
Ich einfach fort mit der Musik
Schwebe so durch helle Räume
Keine Grenzen, keine Zäune
Radio, Radio
Radio, Radio
Radio, mein Radio
Ich lass' mich in den Äther saugen
Meine Ohren werden Augen
Radio, mein Radio
So höre ich, was ich nicht seh'
Stille heimlich fernes Weh
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