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Italien intim

In seinen Prosastücken führt Mosebach durch verschiedene Sphären Italiens, von der populären Kultur bis zur Hochkultur. Dabei legt der Schriftsteller besonderen Wert auf die sinnliche Erfahrung des Fremden.

Von Maike Albath | 26.07.2010
    Ein junger Mann kommt nach Italien und reagiert so, wie alle jungen Männer aus nordischen Ländern: mit Verzückung. Das Licht, das wohltuende Klima, die überwältigenden Blicke über die Kuppeln von Rom, Geschichtsträchtiges auf Schritt und Tritt, von der Herzlichkeit der Menschen und ihrer Wärme ganz zu schweigen. Bei seinen Gastgebern stößt er auf spöttische Skepsis: es handele sich um ein kaltes Volks mit einem nüchternen Blick auf die Verhältnisse. Diese Erkenntnis stellt der Schriftsteller Martin Mosebach an den Anfang seiner ungewöhnlichen "Italienischen Reise" und deutet schon im ersten Text des schmalen Bandes an, dass es ihm nicht um die seit Jahrhunderten kursierenden Klischeevorstellungen geht, sondern um eine Annäherung der anderen Art.

    Als profunder Kenner der Kulturgeschichte inszeniert er seine Italienexploration auf verschiedenen Ebenen und setzt Perspektivbrüche als Stilmittel ein. Zunächst steht die Volkskultur im Vordergrund. Der längste Prosatext, zugleich die Titelgeschichte des Bändchens, heißt "Die schöne Gewohnheit zu leben".

    Hier geben Sprichwörter den Rhythmus der Erzählung vor. Eine alte Frau namens Maria, die seit 78 Jahren auf Capri zu Hause ist und noch nie in der blauen Grotte war, hat für jeden Lebensumstand ein Sprichwort parat. Mit diesen Sprichwörtern kann sie ihre Erfahrungen benennen – alles, was jenseits dessen liegt, blendet sie aus.

    Mit ihrem Regelwerk aus Gewohnheiten bewältigt Maria den Alltag, empfängt Feriengäste, setzt ihrer vielköpfigen Familie ordentliche Mahlzeiten vor, misstraut den Einwohnern des Nachbardorfes, verweigert sich bis auf ein, zwei Ausnahmen im Jahr dem Restaurantbesuch – denn wer würde Tomaten oder Öle anrühren, die womöglich nicht von der Insel stammen?

    Über die gutherzige Schwägerin Giuseppina, die von allen ausgenutzt wird, sagt sie: "Mit weichen Blättern wischt sich jeder den Hintern ab". Und nachdem sie ihrem ältesten Sohn den täglichen Teller Spaghetti vorgesetzt hat, der andächtig verzehrt wird, heißt es: "Wenn er gegessen hat, hat die ganze Welt gegessen".

    Mosebach erhebt sich nicht über die alte Dame, sondern sieht im Gegenteil, dass in der Treue zu bestimmten Gewohnheiten eine konservative – bewahrende – Kraft liegt, die Schutz und Zufriedenheit bedeutet. Maria erwartet nichts anderes, als dass sich jeder Tag gleich abspielt – sie versteht es, zu leben.

    Nach dem Porträt der alten Capreserin wendet sich der in allen Gebieten der Kultur bewanderte Schriftsteller einer noch viel älteren Erscheinung zu: der "Commedia dell’Arte", deren Eigenarten in einem Dialog zwischen einem Kenner und einem Schauspieler entfaltet werden.

    Es ist ein gelehrtes Gespräch, aus dem man Vieles lernen kann über eine der ältesten Kunstformen Europas und zugleich immer wieder überrascht wird. Ein Kennzeichen der "Commedia dell’arte" sei beispielsweise die Heiserkeit der Stimmen. Vom vielen Reden und Schreien aufgeraute Stimmen, deren Echo selbst noch in den Tiefen der Callas, wenn sie in der "Tosca" "Muori, muori" röchelt, zu hören sei, genauso wie im Gezeter einer kittelbeschürzten, neapolitanischen Hausfrau in einer dunklen Gasse. Mosebach benutzt die verschiedenen Masken von Brighella über Arlecchino und Pulcinella bis zu Pantalone als Grundlage für eine kleine Typologie, die bis in die Gegenwart Geltung hat.
    Ein weiterer Text handelt von Venedig und schildert die Wahrnehmung der Wasserstadt mit allen fünf Sinnen. Der Erzähler hört, riecht, schmeckt, fühlt und sieht Venedig und vergegenwärtigt die zeitenthobene Atmosphäre der Stadt in melodischen Satzkaskaden. Hier allerdings hat man den Eindruck, dass Mosebachs Aufenthalte in der Serenissima eine ganze Reihe von Jahren zurück liegen – den totalen Ausverkauf Venedigs, wo Schuster und Bäckereien zu Maskenläden umfunktioniert werden, sich Luxushotels pilzartig ausbreiten und mittlerweile 22 Millionen Touristen im Jahr wie Horden von Eroberern einfallen, hat er offenkundig noch nicht aus der Nähe betrachtet.

    Mosebach legt in allen Prosastücken Wert auf die sinnliche Erfahrung des Fremden und durchquert von der populären Kultur bis zu Hochkultur die verschiedensten Sphären. In eleganten Satzperioden tastet er die Erscheinungsformen seines Gastlandes ab und stellt seine stilistische Könnerschaft wie ein venezianischer Stuckateur lässig zur Schau. Von der Lebensklugheit der alten Maria bis zu den Ruinen von Pompej erforscht der Schriftsteller den Charakter Italiens und führt vor, dass dies die Grundfesten des Abendlandes sind. Es sei ein Alltag, der inmitten von Schönheit geführt werde, heißt es einmal. Aber ob die Italiener selbst von den dicht gewobenen Traditionsfäden wissen?

    Gerade die konservative Lebenshaltung, die Mosebach so fasziniert, ist inzwischen einem vulgären Materialismus gewichen. Diese Entwicklung interessiert Martin Mosebach weniger. Seine italienische Reise "Die schöne Gewohnheit zu leben" ist auch ein Versuch, das Gute zu bewahren. Das zeitgenössische Italien wird dabei ausgeblendet.

    Martin Mosebach, Die schöne Gewohnheit zu leben. Eine italienische Reise. Berlin Verlag Berlin 2010, 189 Seiten, 8, 90 Euro