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Italien
Streit um Abiturergebnisse

Die Abiturienten aus dem strukturschwachen Süden Italiens glänzen in diesem Jahr mit Bestnoten. Die vom Ministerium veröffentlichten Abiturergebnisse sorgen für Streit: In Nord- und Mittelitalien wird der Vorwurf laut, die Süditaliener seien bevorzugt worden.

Von Thomas Migge | 22.08.2016
    Eine Schülerin schreibt am 20.05.2015 in einem Klassenzimmer des Gymnasiums in Esslingen (Baden-Württemberg) den Buchstaben R des Wortes Abitur mit einer Kreide nach.
    Sagenhafte Erfolgsquote: In Italien ist haben 99,5 Prozent der Abiturienten bestanden. Besonders schlau ist dabei der Süden des Landes (dpa / Marijan Murat)
    "Ich habe das sozioökonomische Aufsatzthema ausgewählt. Ich hoffe, dass meine Wahl gut war, denn dieses Jahr gab es eine sehr komplexe Themenstellung."
    Sagte ein sichtlich geschaffter Pietro Vanoni Ende Juni. Der Abiturient hatte gerade seine schriftliche Abschlussprüfung an seinem Gymnasium im norditalienischen Sassuolo hinter sich gebracht. Aufatmen. Die schwierigen Abiturprüfungen waren endlich vorbei. Ferien und dann jetzt im August die Prüfungsergebnisse: Pietro Vanoni bestand mit "100 cum laude", das ist die italienische Bestnote bei einer Abiturprüfung. Aber er war mit dieser Note nicht allein. Im Gegenteil erklärt Claudio Cartone, ein Sprecher des italienischen Bildungsministeriums in Rom:
    "Im Vergleich zum Jahr 2015 ist die Zahl der Abiturienten, die die Prüfungen bestanden haben, auf 99,5 Prozent gestiegen. Nur ein halbes Prozent sind durchgefallen. Abiturienten wie Pietro Vanoni, die Höchstnoten bekommen, also cum laude, sind alles andere als Ausnahmen. Die meisten solcher Hochbegabten finden sich in Apulien, Kampanien und auf Sizilien."
    Zählte das Bildungsministerium bis noch vor wenigen Jahren die meisten der hochbegabten Abiturienten in Nord- und, aber deutlich weniger, in Mittelitalien, scheint sich das Verhältnis jetzt genau umgekehrt zu haben: Das sozial, wirtschaftlich und kulturell vernachlässigte Süditalien hat die meisten der besten Abiturienten. Süditaliens Tageszeitungen frohlocken und beschwören bereits eine, wie "Il Mattino" aus Neapel schreibt, "glorreiche Zukunft des Südens dank einer glorreichen neuen Generation".
    Jeder fünfte Hochbegabte stammt aus der Region Apulien
    Die vom Ministerium veröffentlichten Abiturergebnisse haben es in sich: So stammt in diesem Jahr jeder fünfte Hochbegabte aus der Region Apulien. Zu den Hochbegabten mit einem cum laude-Abitur gehört auch Veronica Zitti aus Catania. Sie wundert sich nicht über das außergewöhnlich gute Abschneiden der süditalienischen Schüler:
    "Ich wundere mich darüber nicht so sehr, weil ich mir denke, dass wir aus dem Süden uns ganz besonders anstrengen, um eine soziale Realität zu überwinden, die als negativ empfunden wird. Wir haben mehr Druck uns anzustrengen, auch weil wir wegwollen aus dem Süden. Ich wollte von Anfang an nach Mailand, um dort zu studieren."
    Veronica Zitti kann sich, dank ihres ausgezeichneten Abiturs, an Mailands Elite-Universität Bocconi einschreiben. Sie kommt dadurch auch in den Genuss einer Art Bafög. Das sind in Italien etwa 600 Euro monatlich.
    Vorwurf der Bevorzugung süditalienischer Schüler
    Das deutlich bessere Abschneiden des Südens in puncto Abiturprüfungen weckt Skepsis. Elena Donazzan, Bildungsassessorin der norditalienischen Region Venetien, nimmt kein Blatt vor den Mund:
    "Das sieht mir doch sehr nach unrechtmäßigem Vorgehen aus, nach eindeutiger Bevorzugung süditalienischer Abiturienten. Unsere norditalienischen Abiturienten schneiden seit Jahren hervorragend ab und jetzt sollen sie schlechter als Süditaliener sein? Die geben den jungen Leuten im Süden doch nur deshalb so gute Noten, damit sie in Norditalien bessere Starbedingungen haben."
    Ein schwerer Vorwurf – der allerdings inzwischen in ganz Nord- und Mittelitalien zu hören ist.
    Fakt ist, dass das Bildungswesen in ganz Süditalien im Vergleich zum Norden mangelhaft ist. Das Bildungsministerium finanziert Süditaliens Schulen nur mit der Hälfte der Gelder, die der Norden erhält. Die Folge: marode Schuldgebäude, und viele Lehrer und Schüler, die nur ein Ziel haben: in den Norden.
    Wurden Süditaliens Abiturienten also von ihren Lehrern bei den Abschlussprüfungen bevorzugt? Wurden Bestnoten vergeben, um den jungen Leuten aus dem Süden einen besseren Start ins nord- und mittelitalienische Unileben zu garantieren? Dieser Verdacht macht sich breit – und vielleicht nicht zu Unrecht. Deshalb fordern jetzt Bildungspolitiker, vor allem aus dem Norden, eine komplette Überprüfung der Abiturprüfungen 2016. Ob Italiens Bildungsministerin Stefania Giannini dieser Aufforderung nachkommen wird ist unklar: Sie ist gerade im Urlaub und will sich vor September zu diesem heiklen Thema nicht äußern.