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Italien
Venetien sehnt sich nach Autonomie

In mehreren Regionen Europas gibt es den Wunsch nach der Abspaltung vom Mutterland, zum Beispiel in Schottland und Katalonien. Wegen der Wirtschaftskrise wollen auch immer mehr Venetier keine Italiener mehr sein. An einer Mitgliedschaft in der EU halten sie aber fest.

Von Tilmann Kleinjung | 15.05.2014
    Majestätisch erhebt sich der Monte Cristallo über Cortina d'Ampezzo. Der Ort im Herzen des UNESCO-Weltnaturerbes Dolomiten ist vor allem als beliebter Skiurlaubsort bekannt,
    Idylle in Venetien: Der Monte Cristallo in den Dolomiten. (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Sie nannte sich einst "la Serenissima": Die "erlauchteste" Republik, die sich von Venedig aus den Nordosten Italiens einverleibte und zu ihrer Blütezeit eine wichtige Kolonialmacht war. Immerhin 1.100 Jahre existierte La Serenissima, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Und an diese Geschichte will Rechtsanwalt Alessio Morosin wieder anknüpfen und das krisengeschüttelte und vergleichsweise junge Italien ein für allemal hinter sich lassen.
    "Wir haben eine so ruhmreiche und mythische Geschichte, die kann niemand auslöschen, auch nicht dieses Italien mit seiner 147-jährigen Geschichte des Scheiterns, der Kriege, der Auswanderung. Im Veneto leben fünf Millionen Menschen, aber weitere acht Millionen Venetier gibt es in der Welt."
    Morosin ist Präsident der stärksten Unabhängigkeitsbewegung in Venetien: Indipendenza Veneta. Mit den Hitzköpfen, die vor ein paar Wochen für Schlagzeilen sorgten, weil sie mit einer zum Panzer umgebauten Raupe den Markusplatz erobern wollten, will sich Morosin nicht in einen Topf werfen lassen. Lächerlich und falsch sei das gewesen. Immerhin drei der vermeintlichen Terroristen hat er gegen das massive Einschreiten der Staatsanwaltschaft und der Polizei verteidigt.
    "Ein arroganter und schwacher Staat nimmt so eine Aktion ernst. Ein wirklich starker Staat hätte ein paar Carabinieri geschickt, die gesagt hätten: Jungs, lasst das mal besser. So macht man das normalerweise. In dem Fall wollte man es groß aufziehen, um die Unabhängigkeitsbewegung zu kriminalisieren."
    Krise verstärkt Wunsch nach Unabhängigkeit
    Unabhängigkeitskämpfer Morosin will sein Ziel auf legalem Weg erreichen. In einem Referendum sollen sich die Menschen zwischen Venedig im Osten und Verona im Westen für oder gegen die Selbstständigkeit ihrer Region aussprechen. Immerhin 15 italienische Europaparlamentarier unterstützen diesen Vorschlag. Es ist Wahlkampf und viele Menschen im Veneto hegen durchaus Sympathie für die staatliche Eigenständigkeit. Zum Beispiel in Padua:
    "Ich bin dafür, wir können einfach nicht mehr ertragen, dass andere Regionen unproduktiv sind und eine falsche Politik machen." - "Ich bin auch dafür, aber nicht nur wegen der Wirtschaft, mehr in kultureller und historischer Sicht. Aber alles natürlich soll im Rahmen der Europäischen Union bleiben."
    Alessio Morosin und seine Mitstreiter sind erklärtermaßen keine Antieuropäer. Ihr neuer Staat könne sich ja schlecht um Außenpolitik kümmern. Das soll schon die Europäische Union regeln.
    "Wir würden gerne gemeinsam mit Katalonien, Schottland, mit Flandern, Wallonien, der Bretagne, meinetwegen auch mit Bayern ein starkes Europa bilden, ein wahres Europa mit eigenen Institutionen, nicht so ein bürokratisches Europa."
    Von außen betrachtet haben die Träume von einem unabhängigen Venetien viel Folkloristisches: Sogar die Krawatte von Alessio Morosin mit dem venezianischen Markuslöwen darauf ist ein Bekenntnis. Tatsächlich aber gibt es einen ernsten Hintergrund für den Wunsch vieler Menschen im Veneto, sich von Italien zu trennen, sagt der Chefredakteur des "Mattino" in Padua, Giorgio Sbrissa. Wie viele Italiener fühlen sich auch hier die Bürger vom Staat verraten. In Krisenzeiten fällt das besonders auf.
    "Du zahlst Steuern, die äußerst hoch sind, über 50 Prozent mit allen Beiträgen. Und das kommt nicht zurück in den Serviceleistungen, die dir eigentlich zustehen. Und so entsteht der Protest im Bauch und im Kopf. Wer früher links gewählt hat, wählt jetzt Grillo. Und es gibt diejenigen, die sagen: Jetzt reicht's, dieser Staat ist nicht mehr zu korrigieren, wir wollen weg von ihm."
    Die Unabhängigkeitsbewegung im Veneto will sich parteipolitisch nicht vereinnahmen lassen, es gibt keine eigene Liste für die Europawahlen. Und auch die Lega Nord hat sich in den Augen der Sezessionisten als Bündnispartner diskreditiert. Hat sie doch allzu lange mit Silvio Berlusconi - dem Prototypen des italienischen Skandalpolitikers - regiert.