Freitag, 29. März 2024

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Italienreise
Auf den Spuren Michelangelos

Wer war Michelangelo? Eine Antwort kann finden, wer den Lebensweg des bedeutenden Renaissance-Malers, Bildhauers, Baumeisters und Dichters in Italien nachverfolgt – von dessen Geburtsort Caprese, wo er vor 545 Jahren zur Welt kam, bis an seine Hauptwirkungsstätten Florenz und Rom.

Von Hildburg Heider | 15.03.2020
Michelangelo Buonarroti
Michelangelo Buonarroti gilt als einer der bedeutendsten Künstler der italienischen Hochrenaissance (imago / Zumba Press)
"Einige Meilen vor Rom beginnt man jene völlige Einsamkeit zu spüren, jene erhabene Trostlosigkeit, von der die Reisenden so viel geredet haben. Als ich meinen Pass an der Porta del Pòpolo vorzeigte, fragte man mich: "Sind Sie Monsieur Beyle?"
Henri Beyle alias Stendhal im Jahr 1816.
"Eine erhabene Landschaft. Schwermütige Pinien krönen die Hügel der ewigen Stadt. Der Kutscher ruft mir zu: 'Ecco San Pietro!' Ich steige an der Freitreppe vor der Peterskirche aus. Ich trete ein, und der Zauber beginnt."
Rom, 200 Jahre später. Frühmorgens im menschenleeren Petersdom. Die Orgel wird gestimmt, der Boden gewienert. In der rechten Seitenkapelle schimmert das Meisterwerk des 20-jährigen Michelangelo: die Pietà. Die jugendliche Muttergottes birgt im Schoß den Leichnam ihres Sohnes. Betörend, verstörend schön.
"Das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen."
Der Dichter Rainer Maria Rilke.

"Und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören."

Manche können das Schöne nicht ertragen. Am Pfingsttag 1972 betritt der Australier Laszlo Toth mit dem Hammer den Petersdom und nähert sich der damals noch ungeschützten weißen Marmorskulptur. "Ich bin Jesus, auferstanden von den Toten!" In seinem Wahn schlägt er zu, immer wieder. Er landet in der Psychiatrie und wird später in sein Heimatland abgeschoben.
Michelangelos Pietà im Petersdom. Eine Kopie der berühmten Skulptur befindet sich in der Berliner St. Hedwig-Kathedrale.
Berührend schön: Michelangelos Pietà im Petersdom (picture alliance / Marchi)
Nach der Wiederherstellung erstrahlt die Skulptur hinter Panzerglas, beleuchtet mit modernster LED-Technik. Ich verlasse den blitzblanken Petersdom in Richtung U-Bahn. Auf Schritt und Tritt Unrat und Schmierereien, Obdachlose, Bettler und Dealer. Schwerbewaffnete Soldaten mit Militärfahrzeugen bewachen Kirchen und Paläste. Wir gehen vom Kolosseum zum Monti-Viertel hinauf.
"Wie oft bin ich die steile Treppe vom unschönen Corso Cavour hinaufgestiegen zu dem einsamen Platz, auf dem die verlassene Kirche steht."
Der Psychoanalytiker Sigmund Freud besuchte mehrmals die Kirche San Pietro in Vincoli mit der berühmten Moses-Statue. Papst Julius II hatte Michelangelo den Auftrag für sein Grabmal erteilt. Der Moses ist die Hauptattraktion der Figurengruppe.
"Ich habe von keinem Bildwerk je eine stärkere Wirkung erfahren! Ich habe immer versucht, seinem verächtlich-zürnenden Blick standzuhalten, und manchmal habe ich mich dann behutsam aus dem Halbdunkel des Innenraumes geschlichen, als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist." (Freud)
Niemand "der heute so etwas zustande bringt"
"Er benutzt weder Raspel noch Feile. Nur Schlagwerkzeuge. Dadurch bewirkt er überraschende Richtungswechsel im Marmor, die andere Künstler nicht erreichen. Für die Politur nimmt er Sand und Blei", sagt Antonio Forcellino.
Er restauriert gerade ein Steinrelief: Er weicht mit einem feuchten Wattebausch die Ablagerungen und kratzt sie vorsichtig weg:
"Michelangelos Motorik war ungewöhnlich, noch mit 70 vermochte er den Meißel so exakt zu setzen, dass man keine Lücken in den Riefen findet. Ungeheuerlich! Ich kenne niemanden auf der Welt, der heute so etwas zustande bringt."
2017 entwickelte Forcellino ein LED-System mit raffinierten Lichteffekten. Denn eine Skulptur entfaltet nur durch Licht und Schatten ihre Wirkung.
"Bei Sonnenuntergang fällt das Licht auf Gesicht und Arm des Moses. Daher sind diese Partien mit Blei poliert, um durch das Licht die direkte Beziehung zu Gott auszudrücken. Das findet sich ja auch in der lutheranischen Glaubensrichtung: Der Mensch vermag zu Gott unmittelbar in Beziehung treten."

"Ich ging mit Tischbein nach dem Petersplatze, wo wir spazierten und Trauben verzehrten, die wir in der Nähe gekauft hatten."
Johann Wolfgang Goethe in Rom 1786:

"Dann gingen wir in die Sixtinische Kapelle, wo wir die Gemälde wohlerleuchtet fanden. Das 'Jüngste Gericht' und die mannigfaltigen Gemälde der Decke von Michelangelo -Ich konnte nur sehen und anstaunen."
Eine Zeitreise in Michelangelos Welt vermittet die Laser-Show "Giustizio Universale" des Projektkünstlers Marco Balich. Über eine Leuchttapete gleiten gigantische Werke, gemeißelt in Marmor, auf Mauern gemalt. Von Adam und Eva über David und Moses bis zu den Verdammten und Erlösten des Jüngsten Gerichts.
Figuren scheinen aus den Wänden zu springen
Was ist neu daran? Guido Cornini, Michelangelo-Experte in den Vatikanischen Museen:
"Die großen Meister Ende des 15. Jahrhunderts wie Botticelli oder Perugino sind durch und durch Maler. Sie organisieren ihre künstlerische Aussage auf zweidimensionalem Grund. Auch Michelangelo ist darauf angewiesen. Doch ihm als Bildhauer gelingt es, zusätzlich diese berühmte Dreidimensionalität zu erzeugen."
Die Figuren scheinen aus den Wänden zu springen: energiegeladene Muskelprotze in schillernden Gewändern oder splitternackt. Ein Skandal, urteilt die Kirchenführung nach Michelangelos Tod. Den Nackten verpasst man Höschen, die teilweise bei einer Restaurierung in den 1990er Jahren wieder beseitigt werden. Ein genialer Einfall ist die Beseelung Adams in der Sixtinischen Kapelle: Gottvater streckt seinen Zeigefinger dem Finger Adams entgegen.
Zu sehen ist das Meisterwerk von Michelangelo an der Decke der Sixtinischen Kapelle, entstanden um 1511.
Der Lebensfunke springt über: Gott erschafft Adam (imago / John Parrot)
"Diese zwei Finger sprechen zu jedermann, auch wenn er aus China kommt", sagt Vitale Zanchettin, Kunsthistoriker in den Vatikanischen Museen.

"Wenn von dieser Idee auch nur ein Fünkchen bleibt in den Köpfen der über sechs Millionen, die jährlich durch die Sixtina gehen, wäre das ein Gewinn für die Menschheit."
Michelangelos Fresko: Die Lücke zwischen den Fingerspitzen
Kaum ein Kunstwerk ist so oft reproduziert worden wie Michelangelos Fresko "Die Erschaffung Adams". Und doch lässt sich bei genauerer Betrachtung Vieles neu entdecken. Besonders spannend: die Lücke zwischen den Fingern.

An einem nebligen Dezembermorgen fahren wir Richtung Arezzo hoch in die Hügel der Toskana, winden uns über Serpentinen durch Olivenplantagen und Wälder: Zypressen, Eichen, Nussbäume, Pinien und Pappeln. Rauch steigt aus abgelegenen Häusern. Schneeweiße Hühner spazieren mit ihrem Gockel über den Hof. Wir erreichen den Ort Caprese, der heute "Caprese Michelangelo" heißt.
Im September 1474 kommt der Florentiner Adlige Ludovico Buonarroti als neuer Bürgermeister nach Caprese. Unterwegs sei seine schwangere Frau Francesca di Neri vom Pferd gefallen, wird gesagt. Dem Kind im Mutterleib sei nichts geschehen. Und so kommt Michelangelo Buonarroti im Kastell von Caprese am 6. März 1475 gesund zur Welt.
Kindheit mit Glorienschein verklärt
"Hier hat er seinen ersten Atemzug getan. Hat dem Tosen des Wildbachs Singerna gelauscht."
Der Kurator Gabriele Mazzi zeigt Michelangelos Geburtshaus, ein niedriges Gebäude aus grauem Stein. Im Untergeschoß vergitterte Kerkerzellen für Bösewichte, darüber die Wohnräume des Podestà Buonarroti.
"Michelangelo spricht nie über seinen Geburtsort. Vermutlich hat man seine Kindheit immer mit einem Glorienschein verklärt. In Wahrheit weiß man wenig darüber."
Der Säugling bleibt bei einer Amme, im Dorf der Steinmetzen Settignano.
"Mit der Milch meiner Amme habe ich Meißel und Hammer eingesogen, womit ich meine Figuren mache." (Michelangelo)
Auf dem Rückweg nach Florenz finden wir die Villa, in der Michelangelo die ersten Jahre seines Lebens verbrachte. Das Haus macht einen unbewohnten, unheimlichen Eindruck. Hier hat Klein-Michelangelo angeblich seine erste Kohlezeichnung auf die Küchenwand gekritzelt, besagt eine Inschrift.
"Als wir den Apennin hinab nach Florenz fuhren, pochte mein Herz stark. Wie kindisch! Dort lebten Dante, Michelangelo und Leonardo! Ich war außerstande vernünftig zu denken und überließ mich meinem Wahnsinn."
Stendhal in seinem italienischen Tagebuch am 22. Januar 1816.

"Als wir durch den hässlichen Triumphbogen in die Porta San Gallo einfuhren, hätte ich dem ersten Florentiner, dem ich begegnete, um den Hals fallen mögen."
"Misstrauisch, ängstlich, scheu und sehr nachtragend"
Wir beziehen Quartier in einem Pilgerheim nicht weit von der Casa Buonarroti. Sie gehört zu einem Ensemble von fünf Häusern, die Michelangelo an der Via Ghibellina gekauft hat. Zwei davon bewohnte er selbst einige Zeit. Das Wohnhaus seiner Erben ist heute Museum, Forschungsstelle und Archiv - eine Fundgrube für Gelehrte aus aller Welt, geleitet vom Kunsthistoriker Alessandro Cecchi. Cecchi zeigt uns Michelangelos Zeichnungen und Briefe. Ein Raum ist Michelangelos Porträt gewidmet: das zerfurchte Gesicht mit der zertrümmerten Nase, Folge einer Schlägerei in Jugendjahren.
"Er war zuweilen misstrauisch, ängstlich, scheu und sehr nachtragend. Ein interessanter Charakter! So ganz anders als der Künstler in unserer Vorstellung, wenn wir seine Werke betrachten."
In der Accademia von Florenz. Dort steht die fünf Meter hohe Marmorstatue des biblischen David. Die Restauratorin Paola Rosa ging zusammen mit ihrer Assistentin Manuela Peiretti auf Tuchfühlung zu dem imposanten Lockenkopf.
"War das aufregend, als wir zum ersten Mal auf dem Gerüst dem David auf Augenhöhe gegenüberstanden! Von unten ist er ja auch wunderschön, aber aus der Nähe sieht man hinreißende Details: der Blick, die Lippen, die Hände, die Muskeln, die Sehnen und Adern. Ach, herrlich!"
Meine Begleiterinnen schwärmen ungeniert für den Mann aus Marmor. Der sei viel besser als manch lebendiger Italiener! Wir lassen uns gemütlich auf einer Bank hinter Davids wohlgeformten Gesäß nieder. Hier komme ich mit den Brandenburgern Elena und Thomas Wernicke ins Gespräch.
"Diese Figur ist meine Lieblingsfigur ab Kinderzeit."
"Da bekomme ich gleich wieder eine Gänsehaut. Das ist dieser Kampf mit dieser harten Materie, mit diesem Stein."
Ein Restaurator arbeitet an der Hand der David-Statue von Michelangelo in der Akademie in Florenz. 
Strenger Blick: David-Statue in Florenz (picture alliance / Ansa Bucco)
"Er hat das richtig verstanden: Jede Skulptur lebt ewig"
Den Weg zum David flankieren die unvollendeten Figuren der Gefangenen. Hier sieht man noch die Riefen, die er mit dem Meißel in den Stein getrieben hat.
"Es brodelt in diesem Stein, ein unglaubliches Erlebnis. Grade diese Unfertigkeit, diesen Prozess zu sehen. Gänsehautfeeling." "Er war schon bisschen genieverrückt, und er hat das richtig verstanden, dass jede Skulptur lebt ewig."
Die Schönheit einer Skulptur kann man wohl nur mit den Händen sehen. Diese Erfahrung habe ich am Ende meiner Reise zu Michelangelo selbst machen dürfen.
Hinter dem Dom von Florenz mit der charakteristischen roten Kuppel und dem schlanken Glockenturm befindet sich das neu gestaltete Dom-Museum mit der Pietà aus dem Spätwerk Michelangelos. Drei Gestalten halten den Leichnam Jesu: seine Mutter Maria und Maria Magdalena, zusammen mit Nikodemus, dem der Künstler seine Gesichtszüge verlieh. Denn ursprünglich sollte die Marmorgruppe Michelangelos Grabmal zieren. Und dann nimmt er eines Tages den Hammer und zerschlägt sein eigenes Werk in blinder Wut. Nach einer Restaurierung gelangt es auf dem Wasserweg von Rom nach Florenz. Jahrhundertelang steht es hinter dem Hauptaltar des Doms und erduldet das Wachs, das aus den Kandelabern tropft, und muffige Weihrauchluft. Schließlich gelangt es in die Opera del Duomo an seinen endgültigen Platz. Vor den Augen der Besucher arbeitet Paola Rosa auf einem Podest mit ihrer Assistentin Manuela an der Restaurierung der Pietà:
"Diesen Arm hat Michelangelo zerstört. Man fragt sich, wieso man auf der Oberfläche keine Hammerspuren sieht. Bestimmt hat er diesen Arm selbst repariert."
Paola Rosa gestattet mir, diesen Arm zu berühren. Ein Ellenbogen wie aus Fleisch und Blut, nur kalt und glatt. Jetzt verstehe ich, was das heißt: mit den Händen sehen! Eine Gipskopie des Kunstwerks darf von jedermann betastet werden.
Michelangelos Leben umspannt fast 90 Jahre. Noch wenige Tage vor seinem Tod schlug er Gestalten aus dem Stein. Sein letztes Werk ist die Pietà Rondanini, unvollendet wie so viele Werke.
"Erst jetzt beginnen wir Michelangelo zu verstehen. Das Unvollendete ist ein inneres Konzept und auch ein psychischer Zwang. In allen seinen Skulpturen und Malereien, auch den scheinbar perfekten, gibt es etwas Unvollendetes", sagt der Kunsthistoriker und Restaurator Antonio Forcellino.
"Er fürchtet, ein Kunstwerk zu vollenden. Ein fertiges Werk bedeutet den Tod. Das Ende des Schaffensprozesses."
"Ich bin nicht tot, ich tauschte nur die Räume: Ich leb' in euch und geh' durch eure Träume." (Michelangelo)