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Iwan Turgenjew: „Aufzeichnungen eines Jägers“
Der Liebesversehrte

Der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew gehört zu den großen Klassikern. Er wurde vor 200 Jahren am 9. November 1818 geboren und starb 1883 bei Paris. Im Hanser Verlag liegt nun eine Neuübersetzung seines berühmtesten Buches „Aufzeichnungen eines Jägers“ vor.

Von Helmut Böttiger | 11.11.2018
    Buchcover: Iwan Turgenjew: "Aufzeichnungen eines Jägers" und Porträt des russischen Schriftstellers
    Mit "Aufzeichnungen eines Jägers" bringt sich Iwan Turgenjew gegen den russischen Adel in Stellung (Buchcover: Carl Hanser Verlag, Porträt: imago stock&people/Topfoto)
    Die meiste Zeit lebte der russische Schriftsteller Iwan Turgenjew im Ausland, vor allem in Frankreich, und verkehrte in den Pariser Salons. Ein Freund attestierte ihm "weibliche Zartheit und Weichheit des Gemüts", und für die einflussreichen Brüder Goncourt war er ein "charmanter Koloss, ein sanfter Riese", der alle durch die "Gutmütigkeit seines Blicks" einnahm und den charakteristischen "Singsang des russischen Akzents". Manche Beschreibungen seines wichtigsten Buches, den "Aufzeichnungen eines Jägers", scheinen diesem Image des Autors zu entsprechen.
    "Es war ein herrlicher Julitag, einer jener Tage, die sich nur dann einstellen, wenn das Wetter für lange Zeit beständig ist. Vom frühesten Morgen an ist der Himmel klar; das Morgenrot leuchtet nicht wie ein Brand: es breitet sich aus als sanfter rötlicher Schein. Die Sonne ist kein Feuerball, sie glüht nicht wie bei sengender Dürre, ist auch nicht mattpurpurn wie vor einem Sturm, sie strahlt hell und freundlich."
    Die Naturschilderungen in den "Aufzeichnungen eines Jägers" sind voller Sehnsucht, und sie könnten darüber hinwegtäuschen, dass dieses Buch eine harte Abrechnung mit den gesellschaftlichen Zuständen unter dem autokratisch regierenden Zar Nikolai darstellte. Turgenjew hatte es während eines ersten längeren Aufenthalts in Frankreich geschrieben und die russische Landschaft deswegen mit solcher Wehmut heraufbeschworen, weil er glaubte, sie nicht mehr wiedersehen zu können. Es geht hier um die erste differenzierte Beschreibung der russischen Landbevölkerung, die immer noch in Leibeigenschaft lebte, und es handelt sich um eine scharfe, satirische Darstellung des russischen Adels. Mit dem "Jäger", der im Titel auftaucht, benennt Turgenjew die einzige Beschäftigung, die die Landherren für sich gelegentlich in Anschlag bringen. Der Autor tarnt sich als einer der Ihren. Aber er zeigt die Willkür der Gutsbesitzer und schildert unter den Leibeigenen Charaktere, die wie eine Provokation wirkten: originelle Gestalten, überhaupt nicht die plumpen Tölpel, die bis dahin als Typen aus der Unterschicht die russische Literatur bevölkerten.
    "Erstaunt sah ich Kassjan an. Seine Worte flossen ihm frei von den Lippen; er suchte nicht danach und sprach mit stiller Begeisterung und sanftem Ernst, wobei er bisweilen die Augen schloss. 'Also ist es deiner Meinung nach auch Sünde, Fische zu töten?' fragte ich. 'Fische haben kaltes Blut', entgegnete er überzeugt, 'Fische sind stumme Geschöpfe. Sie haben keine Angst, und sie freuen sich nicht: Fische sind Geschöpfe ohne Sprache, Fische fühlen nichts, ihr Blut ist nicht lebendig… Blut', fuhr er nach einer Weile fort, 'Blut ist etwas Heiliges! Das Blut sieht Gottes liebe Sonne nicht, es verbirgt sich vor dem Licht… es ist eine große Sünde, wenn das Blut ans Licht kommt, eine große Sünde und ein großer Frevel… Oh, ein großer Frevel!' Er seufzte und schlug die Augen nieder. Ich muss gestehen, ich betrachtete diesen seltsamen Alten mit größter Verwunderung. Seine Worte klangen nicht wie die eines einfachen Mannes: so spricht das Volk nicht und auch kein Schönredner. Seine Rede war wohlüberlegt, feierlich und sonderbar… Nie hatte ich Ähnliches gehört."
    Abergläubische Riten und Stolze Sänger
    Turgenjew lässt seinem Ich-Erzähler verschiedenste Personen begegnen, er zeigt seltsame Gottesnarren und viele abergläubische Riten, geschäftstüchtige Einödbauern oder stolze Sänger. Die "Aufzeichnungen eines Jägers" bestehen aus 25 einzelnen Erzählungen. Sie werden lose durch eine Ich-Figur zusammengehalten, die selbst kaum Konturen gewinnt. Turgenjew, der vor 200 Jahren am 9. November 1818 geboren wurde, entstammte einer reichen Familie von Grundbesitzern. Dem werdenden Schriftsteller wurden die Ungerechtigkeit und Zurückgebliebenheit des russischen Zarenreichs klar. Der erste Text der "Aufzeichnungen" erschien 1847 in der Zeitschrift "Sowremennik", "Der Zeitgenosse". Es ist die atmosphärisch dichte Beschreibung eines ungleichen leibeigenen Freundespaars: "Chor und Kalinytsch". Der Herausgeber der Zeitschrift gab dieser Erzählung den Untertitel "Aufzeichnungen eines Jägers", um die Zensur vom subversiven Inhalt abzulenken. Turgenjew übernahm ihn später als Haupttitel für das Buch, das 1852 herauskam und die bisher erschienenen Erzählungen versammelte. Der Verfasser war so frohen Mutes, dass er aus diesem Anlass nach Russland zurückkehrte – doch als das Buch erschien, wurde er für vier Wochen in Polizeigewahrsam genommen und anschließend für zwei Jahre in die Provinz verbannt. Als offizieller Grund dafür wurde sein Nachruf auf Nikolai Gogol genannt, der dessen satirische Qualitäten politisch subversiv andeutete. Aber man meinte in erster Linie die "Aufzeichnungen eines Jägers" – die von vornherein verschwiegen werden sollten. Wenn der hohe Petersburger Beamte Alexander Silytsch Swerkow in genau wiedergegebenen Dialogen die Geschichte mit seiner Bediensteten Arina erzählt, ahnt man, warum.
    "'Erlauben Sie mir zu heiraten.' Ich war verblüfft, das gebe ich zu. 'Aber weißt du denn nicht, du dumme Gans, dass die Herrin keine andere Jungfer hat?' – 'Ich will der Herrin ja weiter dienen.' – 'Was für ein Unsinn! Die Herrin hält keine verheirateten Mädchen.' – 'Malanja kann doch an meine Stelle treten.' – 'Misch dich nicht in Angelegenheiten, die dich nichts angehen!' – 'Wie Sie befehlen'… Ich gebe zu, ich war sprachlos. Ich warf Arina hinaus. Denke mir, sie wird schon Vernunft annehmen; ich will einfach nicht an das Böse glauben, wissen Sie, an die schwarze Undankbarkeit der Menschen. Und was meinen Sie? Ein halbes Jahr später kam sie mit derselben Bitte wieder zu mir. Da habe ich sie, ich gebe es zu, wutentbrannt hinausgeworfen und ihr gedroht, es meiner Frau zu sagen. Ich war empört… Doch stellen Sie sich meine Bestürzung vor: kurz darauf kommt meine Frau zu mir, in Tränen aufgelöst und so aufgeregt, dass ich sogar einen Schreck bekam. 'Was ist denn passiert?' – 'Arina…' – 'Das kann nicht sein! … wer ist es denn?' – 'Der Lakai Petruschka.'
    Ich war außer mir. So bin ich nun mal… Halbheiten kann ich nicht ausstehen! … Petruschka… traf keine Schuld. Bestrafen hätte ich ihn können, doch ihn traf meiner Meinung nach keine Schuld. Arina… Tja, tja, was soll man da noch sagen? Ich habe natürlich sofort angeordnet, sie kahlscheren und in grobe Leinwand kleiden zu lassen und sie ins Dorf zurückzuschicken. Meine Frau hat eine gute Kammerjungfer verloren, doch das war nun nicht mehr zu ändern: Ein krankes Glied sollte man besser auf einen Schlag abtrennen…"
    Ätzende Gesellschaftskritik und romantische Evokation
    Turgenjew lässt diesen hohen Herrn eine eigene Sprache sprechen und sich dadurch selbst entlarven. Die Szene zeigt zudem, dass es selbst bei den Leibeigenen Unterschiede gibt - nämlich den Vorrang des Mannes gegenüber der Frau. Der Lakai Petruschka wird nicht bestraft. Für seine Sensibilität den Frauenfiguren gegenüber wurde Turgenjew von späteren Literaturwissenschaftlern immer wieder gewürdigt. Die Forschung hat die "Turgenjew-Mädchen" sogar als einen eigenen Typus definiert, Arina steht dabei am Anfang einer langen Reihe. Die jungen Frauen stellen sich ihrem Schicksal und sind dabei stärker und entschlusskräftiger als die Männer. Das ist ein auffälliges Leitmotiv in den Werken Turgenjews. Eine andere, berühmt gewordene Frauenfigur in den "Aufzeichnungen" ist die Zigeunerin Mascha – das sorgte ebenfalls für einen ziemlichen Skandal: noch nie vorher war eine Zigeunerin in der russischen Literatur so faszinierend dargestellt worden. Der eigenwillige und etwas verrückte, immer von Verarmung bedrohte Gutsherr Tschertopchanow ist ihr mit Haut und Haar verfallen und bezeichnet sie sogar als seine Frau – doch nach einiger Zeit verlässt sie ihn und zieht weiter, in einer phantastisch beleuchteten Szene auf der Landstraße verkehren sich dabei die Rollen, als der adlige Herr ihr nachläuft und sie sich stolz abwendet. Die müden, dekadenten und zynischen, dabei größeren und auch kleineren Herren im Zarenreich kommen in den "Aufzeichnungen" Turgenjews in unterschiedlichen Spielarten vor. In der Erzählung "Das Stelldichein" finden zum Beispiel ätzende Gesellschaftskritik und die romantische Evokation einer schönen Seele auf bestechende Weise zusammen. Die Ich-Figur des Jägers versteckt sich im Wald hinter Bäumen und beobachtet ein anziehendes junges Bauernmädchen.
    "Zwanzig Schritte von mir entfernt saß sie da, hatte nachdenklich den Kopf gesenkt und beide Hände in den Schoß gelegt; in der einen, die halb geöffnet war, hielt sie einen großen Strauß Feldblumen, der bei jedem ihrer Atemzüge weiter auf den karierten Rock herabglitt."
    Dann tritt aus dem Dickicht eine männliche Gestalt hervor.
    "Sein rotwangiges, freches, frisches Gesicht war eines jener Gesichter, die, soweit ich es beurteilen kann, Männern fast immer Widerwillen einflößen, Frauen dagegen leider sehr oft gefallen. Offenbar versuchte er seinen plumpen Zügen einen verächtlichen und gelangweilten Ausdruck zu verleihen; unablässig kniff er die ohnehin schon winzigen milchig grauen Augen zusammen, runzelte die Stirn, zog die Mundwinkel herab, gähnte gekünstelt und ordnete nachlässig, wenn auch etwas gezwungen, sein rötliches, verwegen gekräuseltes Schläfenhaar, bald zupfte er an den gelben Härchen, die auf seiner dicken Oberlippe sprossen, kurz, er spreizte sich unerträglich, kaum dass er das wartende Mädchen erblickt hatte."
    Das frische Lächeln der welkenden Natur
    Es ist offenkundig die letzte Begegnung dieses Gecks mit dem Mädchen. Er gibt vor, mit seinem Herrn nach Petersburg umzuziehen, und lässt die junge Frau sitzen, die Akulina heißt und der er, das wird zwischen den Zeilen deutlich, ein Kind gemacht hat. Zurück bleibt ihre Verzweiflung – sie hoffte, aus ihrem Leben ausbrechen zu können. Nachdem der nassforsche Kammerdiener mit großen Schritten davongeeilt ist, will der zuschauende Ich-Erzähler das Mädchen trösten, doch als sie ihn wahrnimmt, stürzt sie davon. Er hebt den Blumenstrauß auf, der im Gras liegengeblieben ist:
    "Mir war traurig zumute; in das schwermütige, wenn auch frische Lächeln der welkenden Natur schlich sich schon der trostlose Schrecken des nahen Winters ein. Ich kehrte nach Hause zurück; die Gestalt der armen Akulina ging mir lange nicht aus dem Sinn, und ihre Kornblumen, die schon lange verwelkt sind, besitze ich noch immer…"
    Das ist ein typischer Turgenjew-Moment. Der etwas ratlose, untätige, dem Vergeblichen hinterhersinnende Mann entspricht vielen Figuren dieses Autors. Und die weiblichen Personen sind meist jung und schön, haben eine zärtliche Anziehungskraft und können doch nicht erlöst werden. Das Ursprungsmotiv der Turgenjew-Welt ist in seiner Erzählung "Erste Liebe" eingefangen, die nun ebenfalls von Vera Bischitzky neu übersetzt vorliegt. Sie wurde zwar erst im Jahre 1860 veröffentlicht, fußt aber auf einer einschneidenden biografischen Erfahrung, die Turgenjew schon im Jahr 1833 als 15-Jähriger gemacht hatte. Er verliebte sich Hals über Kopf in die um drei Jahre ältere Fürstin Jekaterina Schachowskaja. Doch diese Liebe war schon allein deshalb zum Scheitern verurteilt, weil Jekaterina ihrerseits eine heimliche Affäre mit dem Vater des jungen schmachtenden Turgenjew hatte und diesem geradezu hörig war. Der Autor bekannte nach der Veröffentlichung seines Textes freimütig, dass er sich selbst hinter der Figur des Wladimir verberge, und hinter der angebeteten Sinaida jene Fürstin Schachowskaja. Besonders pikant ist die Art der erotischen Verwicklungen des Vaters von Wladimir mit Sinaida: sie offenbaren dem jungen Mann undurchschaubare sadomasochistische Phantasien. Das wirft ein gestochen scharfes Bild zurück auf Turgenjews eigenen Vater. Und es ist eine Konstellation, die jemanden wie Sigmund Freud später dann großes Vergnügen bereitet hat; Turgenjew ahnte in seiner tragisch endenden Erzählung da viel voraus. Gegen Ende des Textes heißt es:
    "Zwei Jahre später trat ich in die Universität ein, ein halbes Jahr darauf aber starb mein Vater (an einem Schlaganfall) in Petersburg, wohin wir drei gerade übergesiedelt waren. Einige Tage vor seinem Tod war aus Moskau ein Brief an ihn eingetroffen, der ihn außerordentlich erschüttert hatte… Er ging zu Mutter, um sie um etwas zu bitten, und weinte sogar, wie man mir erzählte, er, mein Vater! Am Morgen jenes Tages, als ihn der Schlag traf, hatte er einen Brief an mich in französischer Sprache begonnen. 'Mein Sohn', schrieb er, 'nimm dich in Acht vor der Liebe der Frauen, nimm dich in Acht vor diesem Glück, diesem Gift…'"
    Ménage à trois mit Opernsängerin und Ehemann
    Turgenjew hat selbst betont, dass in dieser Erzählung überhaupt nichts erfunden sei. Damit ist ein schwer zu durchdringender Raum zwischen Literatur und Fiktionalisierung des eigenen Lebens eröffnet, aber sicher ist: Iwan Turgenjew hat nie geheiratet und eine Familie gegründet. Seine jahrzehntelange, von ständiger An- und Abstoßung gezeichnete Ménage à trois mit der Opernsängerin Pauline Viardot-Garcia und deren Ehemann Louis scheint eine geheime Konsequenz aus jener sagenumwobenen "Ersten Liebe" zu sein. Und als er tatsächlich einmal in die Nähe einer Eheanbahnung geriet, nämlich mit Olga Turgenjewa, der Tochter eines Cousins, schrieb er kurz, bevor es ernst wurde, aus heiterem Himmel einen Abschiedsbrief und machte sich davon. Die dritte Neuübersetzung eines Werks von Turgenjew, die aus Anlass des runden Geburtstages in diesem Jahr erschienen ist, geht unter anderem auch auf diese Erfahrung zurück und verarbeitet sie: es ist der Roman "Das Adelsgut". Die Übersetzerin Christiane Pöhlmann begründet in ihren Anmerkungen sehr schlüssig, warum sie diesen Titel für den Roman gewählt hat, der bisher immer "Ein Adelsnest" hieß. Die wörtliche Übersetzung "Nest" führe nämlich auf eine falsche Fährte: sie suggeriere ein lauschiges Adelsleben, während der Roman im Gegenteil den Niedergang des russischen Adels beschreibe. Mit der Übersetzung des merkwürdig tendenziösen Nachworts des Schriftstellers Michail Schischkin hatte die Übersetzerin offenbar dennoch Schwierigkeiten. Schischkin hält "Das Adelsgut" für den absoluten Höhepunkt in Turgenjews Werk und spielt Bücher wie die "Aufzeichnungen eines Jägers" dagegen eher herunter: immer, wenn dieser Autor sich der Aktualität und den sozialen Problemen der Gesellschaft zuwende, sei er schwach, seine besten Seiten hingegen seien stets "Hymnen auf das Leben mit all seinen lichten und tragischen Aspekten". Sicher, auch "Ein Adelsgut" ist ein schöner Roman, doch es ist wohl bezeichnend, wenn Turgenjew gegen Ende seines Lebens selbst sagte, dass die "Aufzeichnungen eines Jägers" "wahrscheinlich das Blühendste" seien von all dem, was er geschrieben habe. Die Neuübersetzung dieses erstaunlichen Buches von Vera Bischitzky stellt sich jetzt dem Vergleich mit derjenigen von Peter Urban, die im Jahr 2004 erschienen ist. Damit bewegt sie sich mitten hinein in die Diskussion aktueller Übersetzungstheorien. Urban war ein exponierter Verfechter des Sperrigen, des Bewusstmachens von etwas Fremdem, oft ließ er russische Wörter als Signale davon im Original stehen, etwa mit der Formulierung:
    "Sein Spitzname ist Blocha."
    Man musste dann umständlich hinten im Glossar suchen, was "Blocha" eigentlich bedeutet. In Vera Bischitzkys Übersetzung heißt es jetzt einfach:
    "Sein Spitzname ist Floh."
    Auch den Titel einer sehr stimmungsvollen, die russische Landschaft zelebrierenden Erzählung ließ Peter Urban 2004 im Original stehen: "Malinovaja voda". Vera Bischitzky dagegen übersetzt den Titel, die Erzählung heißt bei ihr "Der Himbeerquell", und das macht die Sache um einiges klarer. Aber das Interessante ist, dass der Text selbst bei ihr etwas sperriger und manchmal ungelenker wirkt, wiewohl auch näher an den Worten und dem Tonfall des Originals. Sie schreibt "Senke", wo Urban "Schlucht" schrieb, und sie nennt "silbrig-kühle Feuchte", was bei Urban "kaltes Nass" hieß. Aber auch mit ihr gerät man, wenngleich in anderer Weise, hinein in die Schwünge der Sehnsucht von Iwan Turgenjew.
    "Diese Quelle entspringt einer Spalte in der Uferböschung, die sich mit der Zeit in eine schmale, tiefe Senke verwandelt hat, und mündet zwanzig Schritte weiter mit fröhlichem, geschwätzigem Geplätscher in den Fluss. Eichengebüsch überwucherte die Hänge der Senke; rund um die Quelle grünte kurzes, samtiges Gras; die Sonnenstrahlen erreichten fast die silbrig-kühle Feuchte. Als ich die Quelle erreicht hatte, lag dort eine Schöpfkelle aus Birkenrinde im Gras, die wohl ein Bauer zur allgemeinen Benutzung zurückgelassen hatte."
    Iwan Turgenjew: "Aufzeichnungen eines Jägers"
    Neu übersetzt und mit einem Nachwort von Vera Bischitzky
    Carl Hanser Verlag, München 2018. 638 Seiten, 38 Euro.
    Iwan Turgenjew: "Erste Liebe"
    Neu übersetzt und mit einem Nachwort von Vera Bischitzky
    C.H. Beck Verlag, München 2018. 109 Seiten, 16 Euro.
    Iwan Turgenjew: "Das Adelsgut"
    Aus dem Russischen übersetzt von Christiane Pöhlmann. Mit einem Nachwort von Michail Schischkin
    Manesse Verlag, München 2018. 378 Seiten, 25 Euro.