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Ernst Toller zum 125. Geburtstag
Symbolfigur des "anderen" Deutschlands

Schriftsteller, Revolutionär, Symbolfigur der deutschen Exilopposition nach 1933: Ernst Toller war viel mehr als die "Diva des Proletariats", ein "Salonbolschewist" oder der "Dichter mit dem heilig glühenden Herzen", wie oft kolportiert. Ein Portrait.

Von Kirsten Reimers | 29.11.2018
    Der deutsche Schriftsteller Ernst Toller
    Hellsichtig sah Ernst Toller den Aufstieg Hitlers voraus (picture-alliance / dpa - Bildarchiv)
    Ernst Toller wurde am 1. Dezember 1893 in Samotschin in der damaligen Provinz Posen im heutigen Polen als Sohn einer bürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Schon früh erlebte er Ausgrenzung und Diskriminierung, sodass er wie so viele junge Männer in der Hoffnung auf Zugehörigkeit 1914 als begeisterter Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg zog.
    Die Erfahrung der Front führte schnell zu einer Ernüchterung, ja zu einem völligen Umdenken: Ernst Toller wurde zum entschiedenen Pazifisten und Antimilitaristen. Eines der Erlebnisse, die wesentlich dazu beitrugen, schilderte er später unter anderem in seinem Theaterstück "Hoppla, wir leben!" von 1927. Davon ist eine Lesung Ernst Tollers erhalten, eine der ganz wenigen noch aufzufindenden Tonaufnahmen des Schriftstellers:
    "Während des Krieges lag ich irgendwo in Frankreich im Schützengraben. Plötzlich, nachts, hörten wir Schreie, so, als wenn ein Mensch furchtbare Schmerzen erleidet. Dann wars still. Wird wohl einer zu Tode getroffen sein, dachten wir. Nach einer Stunde vernahmen wir wieder Schreie, und nun hörte es nicht mehr auf. Die ganze Nacht schrie ein Mensch. Den ganzen Tag schrie ein Mensch. Immer klagender, immer hilfloser. Als es dunkel wurde, stiegen zwei Soldaten aus dem Graben und wollten den Menschen, der verwundet zwischen den Gräben lag, hereinholen. Kugeln knallten und beide Soldaten wurden erschossen. (…) Aber der Mensch schrie weiter. (…) Vier Tage und vier Nächte schrie er. Für uns waren es vier Jahre. Wir stopften uns Papier in die Ohren. Es half nichts. Dann wurde es still."
    Skandale und Aufführungsverbote
    Nach Ausbruch der Novemberrevolution 1918 folgte Toller dem sozialistischen Politiker und Schriftsteller Kurt Eisner nach München, um auf Seiten der Revolution für Demokratie und Frieden zu kämpfen. In der Münchner Räterepublik nahm Toller eine aktive Rolle ein. Zeitweilig war er Vorsitzender des Zentralrats der Räterepublik und damit einer der ersten Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern.
    Für seine Beteiligung an der Räterepublik wurde Toller nach deren Scheitern zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Während dieser Zeit entstanden viele der Werke, die Tollers Ruhm begründeten, zum Beispiel die Dramen "Masse Mensch" und "Der deutsche Hinkemann" oder das lyrische "Schwalbenbuch". Die Aufführungen seiner frühen Dramen verursachten in der jungen Republik stets Skandale: Nationalistischen und völkischen Kreisen waren sie zu revolutionär, weshalb es zu handfesten Auseinandersetzungen bei den Premieren kam oder gar zu Aufführungsverboten. Toller war zwar Sozialist, doch nie Kommunist, dessen Dogmatismus lehnte er entschieden ab.
    Die Werke jener Zeit sind es auch, die bis heute das Bild Tollers prägen. Das ist schade, denn dies ist ein verkürztes und eingeschränktes Bild. Immer noch liest man vom "Expressionisten Toller" – das ist so, als wollte man Goethe allein auf den Sturm und Drang festlegen. Spätestes 1923 hat Toller den Expressionismus hinter sich gelassen. Rückblickend schreibt er im Jahr 1930:
    "Die Epoche des Expressionismus wurde abgelöst durch die Neue Sachlichkeit und jene Kunstform, die man Reportage nennt. (…)Heute, da wir zu den einzelnen Geschehnissen Distanz gewonnen haben, (…), kommen wir zu einem Stil, der gesättigt ist von Realität, und der doch die Idee als Fundament trägt."
    Autor der Neuen Sachlichkeit
    Nach der Haftentlassung im Sommer 1924, endlich frei von den strengen Zensurbestimmungen des Festungsgefängnisses, experimentierte Toller mit den unterschiedlichsten Stilmitteln und Ausdrucksweisen. Neben und während zahlreicher Reisen verfasste Toller verschiedene Dramen – darunter mit "Feuer aus den Kesseln" ein sehr frühes Beispiel für dokumentarisches Theater –, er veröffentlichte Hörspiele, Bücher mit dokumentarischer Prosa, zudem Erzählungen und Lyrik; er schrieb Zeitungsartikel, Rezensionen, Reiseskizzen, arbeitete an Filmskripten und hielt unzählige Reden.
    Im literarischen Werk wie in Vorträgen nahm Toller stets politisch engagiert Stellung zu aktuellen Fragen der Weimarer Republik. Sein Werk ist geprägt von einem Glauben an eine Welt der Gerechtigkeit, der Freiheit und Menschlichkeit, und zwar nicht als weltfremder "Träumer", wie heute gern geglaubt wird, sondern als scharfer und hellsichtiger Kritiker der Weimarer Gesellschaft. Der Toller der späteren zwanziger Jahre ist ein Autor der Neuen Sachlichkeit, auch wenn er selbst diesen Begriff nicht mochte. Seine Dramen schrieben Bühnengeschichte, in ihnen und in vielen publizistischen wie literarischen Schriften warnte er schon früh vor einem Erstarken antidemokratischer Kräfte. 1930 bereits erschien sein Artikel "Reichskanzler Hitler", in dem er vor der drohenden Zerstörung der Demokratie durch die NSDAP warnte. Toller prognostizierte:
    "Nicht nur Demokraten, auch Sozialisten und Kommunisten neigen zu der Ansicht, man solle Hitler regieren lassen, dann werde er am ehesten ‚abwirtschaften‘. Dabei vergessen sie, daß die Nationalsozialistische Partei gekennzeichnet ist durch ihren Willen zur Macht und zur Machtbehauptung. Sie wird es sich wohl gefallen lassen, auf demokratische Weise zur Macht zu gelangen, aber keinesfalls auf Geheiß der Demokratie sie wieder abgeben. (…) Reichskanzler Hitler wird die Errungenschaften der Sozialdemokratie, auf die die Partei so stolz ist, mit einem Federstrich beseitigen. Über Nacht werden alle republikanischen sozialistischen Beamten, Richter und Schupos ihrer Funktionen enthoben sein, an ihre Stelle werden faschistisch zuverlässige Kader treten."
    Kampf gegen den Faschismus
    Toller entkam dem Zugriff der Nationalsozialisten nur durch Zufall. Als im Februar 1933 in Berlin der Reichstag brannte, befand er sich auf einer Vortragsreise in der Schweiz. Toller kehrte nie wieder nach Deutschland zurück. Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes plünderte die SA Tollers Wohnung in Berlin, seine Stücke wurden verboten, seine Bücher verbrannt, sein Name fand sich auf der ersten Ausbürgerungsliste Nazideutschlands.
    Das eigene Überleben verstand Toller als Verpflichtung, über den Faschismus in Deutschland aufzuklären und sich für dessen Opfer einzusetzen. Schon während der Weimarer Republik hatte er sich in vielen sozialen und politischen Organisationen engagiert; während seiner Exilzeit – zunächst in England, ab 1936 dann in den USA – ordnete er sein gesamtes Leben dem Kampf gegen den Faschismus unter. Seine Ehe mit der jungen Schauspielerin Christiane Grauthoff zerbrach darüber.
    In seinen Gastländern wurde der Autor vor allem durch seine zahlreichen Reden, Vorträge und Rundfunkansprachen bekannt, mit denen er über die wahren Verhältnisse in Nazideutschland aufzuklären versuchte. Toller wurde so zu einer der Symbolfiguren der deutschen Exilopposition und des "anderen Deutschlands", des nicht faschistischen Deutschlands.
    Die Strapazen des Exils
    Eines seiner bekanntesten Projekte war seine geplante Lebensmittelhilfe für die Zivilbevölkerung Spaniens, die unter den Auswirkungen des dortigen Bürgerkriegs litt. Doch bevor diese umgesetzt werden konnte, eroberten die faschistischen Truppen unter Franco ganz Spanien bis Ende März 1939. Tollers Projekt war damit hinfällig.
    Erschöpft und ausgelaugt zog er sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Schon während der Festungshaft hatte Toller unter depressiven Schüben gelitten, während des Exils und besonders während der letzten Jahre wurden diese intensiver und länger. Am 22. Mai 1939 setzte er seinem Leben im New Yorker Hotel Mayflower ein Ende.
    Erstmals sämtliche Werke veröffentlicht
    Zeit seines Lebens polarisierte Toller: den einen zu links, den anderen zu sehr "Diva des Proletariats", vielen zu sehr Politiker, einigen zu sehr Dichter. All diese Einordnungen werden aber dem Menschen, dem Schriftsteller und dem Kämpfer Toller nicht gerecht. Zu facettenreich sind Person wie Werk, als dass sie sich in eine Schublade pressen lassen. Zum Glück liegen nun Tollers sämtliche Schriften in einer kommentierten Werkausgabe in fünf Bänden beim Wallstein Verlag vor. Nicht nur bislang kaum bekannte literarische Werke, sondern auch Tollers vielfältige publizistische Schriften und Vorträge sind darin zum ersten Mal einem Lesepublikum zugänglich. Begleitet wird die Werkausgabe von einer zweibändigen Edition aller bislang aufgefundener Briefe Tollers. Damit kann sich heute jeder selbst ein Bild dieses engagierten Autors machen.
    Ernst Toller: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe.
    Herausgegeben im Auftrag der Ernst-Toller-Gesellschaft u.a. von Stefan Neuhaus.
    Wallstein Verlag, Göttingen. 5 (in 6) Bände, 289 Euro.
    Ernst Toller: Briefe 1915–1939.
    Herausgegeben u.a. von Stefan Neuhaus.
    Wallstein Verlag, Göttingen. 2 Bände, 69 Euro.