Mittwoch, 24. April 2024

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"Ja. Wir sind ein Volk"

Er gehört zu den führenden Persönlichkeiten, die zur Wende in der DDR beigetragen haben. Nach der deutschen Vereinigung hat der Theologe und Professor für Philosophie, Richard Schröder, das Zusammenwachsen der beiden Staaten kritisch beleuchtet und aus seinem protestantischen Bewusstsein heraus Alternativen zum politischen Mainstream gesucht.

Moderation: Rainer Burchardt | 27.12.2007
    Professor Richard Schröder. Geboren am 26. Dezember 1943 in Frohburg, Sachsen. Ist Philosoph und evangelischer Theologe in Berlin. Gegenwärtig lehrt er an der Humboldt-Universität. Von 1973 bis 1977 war er Pfarrer in Wiederstedt, Harz. Im Wendejahr 1989 gehörte er zu den Gründern der Ost-SPD, anfänglich SDP genannt. Richard Schröder habilitierte 1991 an der Kirchlichen Hochschule in Leipzig. Vom 18. März bis 2. Oktober 1990 war er Mitglied der Volkskammer der DDR. Danach, bis zum 18. Dezember 1990, Mitglied des Deutschen Bundestages.

    Denk ich an Deutschland

    Richard Schröder: "Wenn man von zwei Seiten angegriffen wird, kann man nicht völlig danebenliegen."

    Rainer Burchardt: Herr Professor Schröder, in vielen Ihrer Veröffentlichungen, und es sind wirklich nicht wenige, quälen Sie sich, kann man fast schon sagen, mit der deutschen Frage. Das ist natürlich auch für jemanden, der in der DDR groß geworden ist, eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Aber um es vielleicht mal frei nach Heinrich Heine zu formulieren: Leben Sie nach dem Motto: Denke ich an Deutschland bei Tag und Nacht, dann bin ich um den Verstand gebracht?

    Richard Schröder: Heinrich Heine hat ja das dann nachher so weitergeführt: An Deutschland dächt’ ich nicht so sehr, wenn ich die Mutter dorten wär’. Das Vaterland wird nicht verderben, jedoch die alte Frau könnt sterben. Das ist eine Mystifikation zu denken, dass der Heinrich Heine des politischen Zustandes in Deutschland wegen, den er nun auch sehr schlecht fand, nicht geschlafen hätte, sondern es ist die Liebe zur Mutter.

    Nein, ich beteilige mich an diesen Diskussionen reichlich auch deshalb, weil ich sehe, dass es nicht so sehr viele aus dem Osten sind. Und ich habe den Eindruck, dass ich manchmal auch was richtig rücken kann, in beide Richtungen übrigens. Wenn jemand aus dem Westen etwa denkt, ich würde immer als der Fürsprecher der Ostdeutschen auftreten, der muss sich ja mal die Leserbriefe der "Mitteldeutschen Zeitung" angucken, wo ich als Verräter und Verleumder der DDR geprügelt werde. Aber ich bin damit ganz zufrieden, denn wenn man von zwei Seiten angegriffen wird, kann man nicht völlig daneben liegen.

    Burchardt: Und es scheint offenbar nach wie vor ein Reizthema zu sein?

    Schröder: Ja.

    Burchardt: Aber da wir gerade von Vater und Mutter gesprochen haben. Man sagt ja immer: Mutter Erde und Vaterland. Hier in unserem Gespräch geht es sicherlich doch mehr um das Vaterland. Sie sind Jahrgang 1944.

    Schröder: 1943.

    Burchardt: Sie waren fünf Jahre alt? Oder dann sind Sie sechs Jahre alt gewesen, als die DDR gegründet wurde? In welcher Sozialisation sind Sie aufgewachsen? Wo standen Ihre Eltern, die ja eine Kriegsgeneration sicherlich waren? Und wo standen Sie dann? Wie sind Sie erzogen worden?

    Schröder: Mein Vater war selber nicht im Krieg. Er ist als Apotheker nicht eingezogen worden wegen der Inlandversorgung. Ich stamme aus einem bürgerlichen Elternhaus. Ich sage das ruhig so, weil das eben für mich von vornherein prägend war. Wir gehörten zur falschen Klasse. Das haben wir als Kinder von der ersten Klasse, da habe ich es noch nicht so gemerkt, aber von der zweiten, dritten Klasse an auch in der Schule so zu spüren bekommen.

    Mein Vater ist Ausbeuter, weil er Angestellte hat, und solche Sprüche. Und ich bin dann ja auch nicht zur Oberschule zugelassen worden wie alle meine, bis auf den letzten, 1964, ist der letzte meiner Geschwister, wir waren sechs Geschwister, auf die Oberschule zugelassen worden. Die anderen wurden alle abgelehnt, wegen erstens falscher sozialer Klasse und zweitens war das nun außerdem noch ein christlich geprägtes Elternhaus und da hatten wir auch noch die falsche Ideologie. Und beides zusammen, das war eben zu viel für die Toleranz der DDR, wenn man überhaupt von so etwas reden kann.

    Burchardt: Haben Sie sich denn sofort eigentlich als Kind auch als Außenseiter gefühlt in der DDR, bis man dann auch sagte, wir sind eigentlich die falsche Familie für diesen Staat?

    Schröder: Also als Außenseiter habe ich mich weder in der Klasse gefühlt, noch haben wir uns in dem Ort als Außenseiter gefühlt, weil nämlich bei der Gründung der DDR die Gegnerschaft gegen dieses Regime bei 90 Prozent angesetzt werden konnte.

    Burchardt: Haben Sie das empfunden, täglich?

    Schröder: Ja, ja. Sondern man hat eben den Eindruck gehabt, dass alles, was mit dem Staat zu tun hat und auch die Schule, dass sie uns eher feindlich gesonnen sind. Das ist ja eine ganz andere Konstellation. Die DDR begann im Unterschied zur nationalsozialistischen Zeit nicht mit einer Welle der Begeisterung, sondern es gab einen Prozess über 40 Jahre, in denen man sich oft im Verbund mit dem Generationenwechsel arrangierte.

    Wogegen in der Nazizeit die Verlaufsrichtung eher umgekehrt war, dass nämlich vielen, denen nun dort die Dinge mehr oder weniger mindestens unbequem, wenn nicht sogar unheimlich wurden, war es in der DDR umgekehrt. Es war die Zeit des Stalinismus, die in der DDR nur in einer sehr schwachen Form wirksam wurde, aber es genügte eben willkürlicher Verhaftungen, mit Vorliebe bei Nacht, Verschwinden ohne Gerichtsurteil und solche Dinge. Wir wussten das aus der Umgebung.

    Burchardt: Stalin starb im März 1953. Im Juni 1953 gab es den Arbeiteraufstand. War das ein Lichtblick? War das Hoffnung auch für die heranwachsende Generation in der DDR, dass man sagt, jetzt, jetzt ist der Durchbruch, und die DDR wird abgeschafft?

    Schröder: Nein, das ist ja ein so kurzes Ereignis gewesen. Die Nachricht vom Aufstand, von diesen Demonstrationen kam sofort zusammen mit der Nachricht vom Ausnahmezustand und den standrechtlichen Erschießungen. Da gab es gar nicht genügend Zeit, anders als 1968, um Hoffnungen daran zu knüpfen. Man hörte gleich, dass die Panzer rollten.

    Burchardt: Sie meinen den Prager Frühling?

    Schröder: Prager Frühling, ja. Man hörte gleich, dass die Panzer gerollt sind und dass erschossen worden ist. Das ist eine Angelegenheit von nicht mal zwei Tagen gewesen.

    Burchardt: Wie wurde darüber in der Schule gesprochen?

    Schröder: In der Schule war das irgendwie - erst mal kann ich mich gar nicht erinnern, dass es ausführlich thematisiert worden ist. Aber so in der Zeitung war das eben ein faschistischer Putsch. Und selbst Wolf Biermann bei seinem Auftritt, nachdem er dann ausgewiesen wurde, 1976 bei seinem Auftritt, hat noch dort erklärt, dass es eine janusköpfige Sache gewesen sei und zur Hälfte faschistischer Putsch. Das hat selbst Wolf Biermann damals noch gesagt.

    Für mich ist der 17. Juni selber nicht plastisch in Erinnerung. Ich weiß nur, dass dann immer zu den Jahrestagen die kasernierte Volkpolizei vor den Betrieben mit Maschinenpistolen stand. Da lebten die offenbar in der Vorstellung, dass ein Jahr später es wiederholt werden könnte. Und ich habe natürlich noch eine plastische Erinnerung über das, was dann erzählt wurde, über die Verhaftung und die Todesurteile, überhaupt hohe Gefängnisstrafen. Und das verband sich alles mit dem Namen der Justizministerin, mit der roten Hilde Benjamin.

    Burchardt: Lebte man denn damals in der DDR in so einer Bewusstseinssinuskurve von Frieden, Freiheit und Krieg? 1956 war der Ungarnaufstand. Knüpfen sich daran wieder Hoffnungen? 1961 wurde dann die Mauer gebaut. Davor, 1958, war Chruschtschows Berlin-Ultimatum. Eigentlich war es ja immer ein Zickzack, das Hin und Her?

    Schröder: Man hat das Ende des Stalinismus, ich meine jetzt das Ende des Stalinismus nach Stalins Tod, zunächst gar nicht erlebt, weil der 17. Juni da als traumatisches Ereignis dazu kam. Und dann ist auch 1956 der Ungarnaufstand - bei dem übrigens Budapest stärker zerstört worden ist als im Zweiten Weltkrieg, das machen sich ja viele offenbar gar nicht klar, durch sowjetische Panzer, so ist es gewesen - den hat man mit Bangen verfolgt, aber nicht geglaubt, dass er Erfolg haben könnte, auch schon deshalb nicht, weil es ja sozusagen umgeben war von anderen Staaten, in denen die Sowjetunion ihre Truppen stationiert hatte.

    Das sind alles traumatische Erlebnisse gewesen. Und beim Prager Frühling ist das ein wenig anders gewesen, weil er langsamer begann und man den Eindruck hatte, es könnte vielleicht etwas werden, das die Sowjetunion hinnimmt. Und inzwischen wissen wir ja, dass Breschnew lange gezögert hat, lange gezögert hat, ob er die Sache wirklich noch mal militärisch lösen soll. Und gerade die DDR-Seite, damals noch Walter Ulbricht, hat ihn dazu gedrängt.

    Burchardt: Es waren ja DDR-Truppen da drin? Wie haben Sie das empfunden?

    Schröder: Ob sie wirklich auf dem Gebiet der Tschechoslowakei waren, da habe ich keine authentischen Zeugnisse. Ich weiß nur, dass sie ganz massiv an der Grenze zum Erzgebirge zu stationiert worden sind. Man hatte irgendwie offenbar doch Hemmungen, den Tschechen und Slowaken noch mal deutsche Uniformen zu präsentieren.

    Ich glaube fast, ich lasse mich belehren, aber ich glaube fast, dass nur DDR-Leute in Zivil dort agiert haben. Die eigentliche Truppenkonzentration war für den Fall der Fälle. Aber sie wären natürlich einmarschiert und sie sind dort ganz massiv mit Raketen und sonst was gewesen, und die Wälder waren voll vom Erzgebirge.


    Mauerbau und Opposition

    Schröder: "Man immer mit der Option gelebt, man könne ja noch nach dem Westen gehen."

    Burchardt: Vielleicht noch mal zurück zum Mauerbau 1961. Sie waren Heranwachsender, kann man schon sagen. War das für Sie das Ende aller Illusionen, aller Hoffnungen?

    Schröder: Ja, das war so. Wir hatten eine Tante in Westberlin. Und meine Eltern machten hier Urlaub am Werbellinsee. Wir waren am 10. August noch mal in Westberlin. Und ich erinnere mich noch, dass ich gesagt habe: Wollen wir nicht lieber hier bleiben? Natürlich war das nur so ein Gedanke, den hätte ich sowieso höchstens für mich selber, aber ich war 17 Jahre alt, für mich selber verwirklichen können. Für meine Eltern wäre das ja so gar nicht, konnte man keine solche Blitzentscheidung treffen.

    Und dann, wir hatten damals übrigens schon große Schwierigkeiten, überhaupt reinzukommen über Bernau. Und da waren ja schon die sogenannten Grenzgänger, die Ostdeutschen und Ost-Berliner, die in Westberlin arbeiteten, die waren ja schon ausgesperrt worden von den DDR-Behörden. Und es wurde eigentlich jeder kontrolliert, der in Bernau in die S-Bahn stieg, wir auch. Ich will jetzt nicht zu ausführlich erzählen. Es bedurfte einer längeren Überredungskunst, dass die uns überhaupt in die S-Bahn haben steigen lassen, 17-Jähriger, mit meinem Vater aber zusammen. Und dann war der Bau der Mauer für uns in der Tat eben: Jetzt ist das Mauseloch zu.

    Man hat immer mit der Option gelebt, man könne ja noch nach dem Westen gehen. Mein älterer Bruder, der auch mit 14 Jahren von der Oberschule abgelehnt worden ist, der ist ja mit 14 Jahren nach Westberlin ins Internat gegangen, was ja auch nicht ganz einfach ist in dem Alter. Und diese Option hatte man schon immer noch im Hinterkopf. Und da war plötzlich Schluss.

    Burchardt: War das dann der Beginn des inneren Widerstandes in der DDR in Ihrer Beurteilung?

    Schröder: Nein, innerer Widerstand, nein. Das ist umgekehrt gewesen. Es hat vor dem Bau der Mauer, vor allen Dingen in den Anfangsjahren, da hat es in der DDR tatsächlich echte Widerstandsgruppen gegeben. Da hat es auch Leute gegeben, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die Wirtschaft zu stören und so etwas, weil eben der Hass gegen die Fremdbestimmung so stark war.

    Mit dem Bau der Mauer fand zunächst mal eine merkwürdige Art von Befriedung statt. Dann, als Honecker an die Macht kam, das war allerdings ja dann zwölf, 13 Jahre später, wurde zum Beispiel auch von dem Prinzip abgerückt, dass die chemische Industrie und die Schwerindustrie den Vorrang haben müssten vor der Konsumgüter-Industrie. Und dann wurde mehr getan für eine bescheidene, aber spürbare Wohlstandssteigerung. Der oppositionelle Geist oder die Ablehnung der Verhältnisse ist durch den Mauerbau, so sehr der verurteilt wurde, durch den Mauerbau nicht verstärkt oder ausgelöst worden. Dass es zu oppositionellen Haltungen in der DDR gekommen ist, das hat einen ganz anderen Zusammenhang. Nämlich es war eine neue Generation herangewachsen, die den 17. Juni nicht erlebt hatte und die Themen fand, die noch nicht als Reizwörter bei der anderen Seite registriert waren.

    Im Übrigen ist das ja auch ein Verbund mit der mentalen, thematischen Entwicklung im Westen gewesen: Dritte Welt, Friedensfrage, Abrüstungsfrage, Umweltschutz. Das sind die Themen gewesen, um die sich die oppositionellen Gruppen gegründet hatten. Und da war die SED zunächst auch in einer gewissen Schwierigkeit, weil die nämlich nicht als typische Klassenfeindthemen registriert waren. Es hat damals niemand freie Wahlen gerufen. Eine Forderung, die am 17. Juni ja noch eine Rolle gespielt hat. Das ist übrigens auch ein interessanter Punkt. Der institutionelle, politische Reformbedarf der DDR ist von den Oppositionellen sehr begrenzt thematisiert worden.

    Burchardt: Darf ich denn daraus schließen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sich dann doch damit abgefunden hat und sich ein bisschen relativ bequem in dieser Nische eingerichtet hatte?

    Schröder: Ja, dieser Prozess ist, nachdem die Option, nach dem Westen gehen zu können, verschwunden war, und, muss man auch sagen, die Repressionen nicht mehr das alte Maß an Willkürlichkeit zeigte. Die Gründung der LPGs war ja noch vor dem Mauerbau begonnen, und da hat es eben Verhaftungen gegeben, und da hat es Fälle gegeben, in denen das ganze Dorf nach dem Westen gegangen ist aus Protest. Das gab es nun nicht mehr.

    Die Repression ließ etwas nach, das muss man so sagen, weil offenbar auch die Herrschenden den Eindruck hatten, der Kasten ist zu, weglaufen können sie ja nicht, dann müssen wir auch nicht so wild mit ihnen umgehen, oder so ähnlich muss die Logik gewesen sein. Und dann ist auch sozusagen der ideologische Druck, diese Feindbildrhetorik in den Zeitungen etwas zurückgenommen worden. Bonner Ultras, die westdeutschen Faschisten und solche Ausdrücke waren ja vor dem Mauerbau ganz selbstverständlich. Der Westen war der Staat der Faschisten. So haben die geredet.

    Burchardt: Aber wie weit sind denn überhaupt westliche Entwicklungen rübergedrungen damals, nach 1961? Ich denke, wir haben vorhin über 1968 gesprochen, Studentenrevolte beispielsweise. Oder hat man nicht auch gesagt: Warum helfen uns die Amerikaner nicht? Warum bleibt Kennedy zu Hause und zeigt sich nicht den Westberlinern?

    Schröder: Sie meinen jetzt das Jahr 1961 selber?

    Burchardt: Ja. Im Grunde genommen die sechziger Jahre.

    Schröder: Ja, ich kann da natürlich für alle reden, und es gibt ja auch keine Befragungen aus jener Zeit. Aber dass ein Eingreifen der Amerikaner, dass das ein Weltkrieg ausgelöst hätte, das war uns eigentlich allen klar. Wir haben nicht damit gerechnet und wir hätten natürlich gerne gesehen, dass Konrad Adenauer mal schneller nach Berlin kommt oder so etwas und das dem Empörenden sozusagen Ausdruck verleiht, aber wir wussten natürlich immer, dass der Westen den Mauerbau nur hätte verhindern können mit dem Risiko eines Krieges.

    Burchardt: Da gab es keinen Hoffnungsschimmer, der vom Westen zu Ihnen rübergekommen ist? Hat man sich da ein wenig im Stich gelassen gefühlt?

    Schröder: Ja. Im Stich gelassen gefühlt hat man sich, aber das hat man sich eben seit 1945 eigentlich schon von dem Moment an, wo die Grenzübergänge, der Verkehr hin und her, in dem Moment, wo die Demarkationslinie hart wurde. Und es ist ja schon in den ersten fünfziger Jahren nicht mehr möglich gewesen, über die Grüne Grenze zu kommen. Das ist ja tatsächlich deswegen mein Bild vom Mauseloch.

    Die Westgrenze der DDR, die war seit, ich glaube, 1951 oder 1952 im Grunde schon nicht mehr überwindbar. Während man früher ja über die Grüne Grenze ging mit einigermaßen Glück, und wenn sie einen erwischt haben, die Russen damals noch, dann haben sie einem weggenommen, was man mit sich führte, aber meistens auch sogar noch laufen lassen. So war das anfangs. Die Grenze war schon zu und nur der besondere Status von Berlin erlaubte eben, hier mit der S-Bahn ruckzuck nach dem Westen Berlins zu fahren und sich dann ausfliegen zu lassen. So war das.

    Insofern war tatsächlich nun auch noch das Letzte zugemacht. Und das Eingemauertsein, die Schwierigkeiten, die immer stärker zunehmenden Schwierigkeiten überhaupt, zu Verwandtenbesuchen nach dem Westen fahren zu können - anfangs konnte man wenigstens Aufenthaltsgenehmigung und Reisegenehmigungen bekommen zum Verwandtenbesuch -, das wurde alles in einem sukzessiven Prozess zugeschnürt. Und es gab dann im Grunde vor dem Mauerbau, in dem Jahr vor dem Mauerbau gab es schon so gut wie keine Genehmigungen mehr zu Verwandtenbesuchen nach dem Westen.

    Burchardt: Was ist denn überhaupt noch zu Ihnen rübergedrungen, Herr Schröder, auch an Informationen? 1962 hatten wir die Kuba-Krise. Zumindest in Westdeutschland stellte man sich durchaus auf die Gefahr ein, dass der Kalte Krieg ein heißer Krieg werden könnte. Haben Sie das in der DDR auch so empfunden?

    Schröder: Ja, ganz genauso. Die Informationsmöglichkeiten waren eben hier in Berlin vor allen Dingen exzellent, weil man sämtliche UKW-Sender hier hören konnte. Und da man in Ostberlin die UKW-Sender nicht stören konnte, ohne sie gleichzeitig für Westberliner Empfänger zu stören, mussten sie darauf verzichten.

    Aber auch der "Deutschlandfunk" ist eigentlich überall in der DDR immer gehört worden. Und ich kann mich nicht erinnern, dass auch der "Deutschlandfunk" gestört worden sei. Die Störsender waren vor allen Dingen auf der Kurzwelle tätig, und offenbar haben sie sich dann vorrangig konzentriert auf "RIAS" und auf "Radio Liberty" und "Die Stimme Amerikas", also Sender, die auch in Fremdsprachen, nicht nur deutsch sprachen. Und ich nehme an, dass man dabei die sowjetische Bevölkerung beziehungsweise eben die sowjetischen Soldaten im Auge hatte.

    Das Fernsehen ist überhaupt nie gestört worden. Das wurde damals allerdings auch erst so langsam üblich. Ich schätze mal so 1956, vielleicht die ersten Fernseher in der DDR, vielleicht war es auch 1954, das weiß ich nicht so genau. Und beim Fernsehen war dann auch so. Das vereinigte deutsche Volk war am Fernseher vereinigt.

    Burchardt: Gab es Angst bei Ihnen 1962 während der Kuba-Krise?

    Schröder: Ja. Ja, da hat man das nur so begrenzt wahrgenommen, dass sich da etwas abgespielt hat. Aber ich erinnere mich eben an Gespräche, so drei, vier Jahre später, mit meinem Vater, mit Bekannten, wo der Ablauf eben sehr detailliert auch bekannt war. Und dass man da an einem Atomkrieg vorbeigeschrammt ist, das war der eine Punkt und der andere für uns interessante Punkt war eben der, der auch dazu geführt hat, dass ich den Doppelbeschluss richtig gefunden habe.

    Wenn man den Russen gegenüber entschieden auftritt, dann sagen sie, obwohl sie vorher mit allem Möglichen gedroht haben, ja, so war es ja nicht gemeint. Und diese Einsicht, dass man Güte und Drohen verbinden muss, wenn man respektiert werden will, das fand ich, hat Helmut Schmidt ganz richtig gesehen und hat ihnen deshalb ein solches Paket hingelegt.

    Burchardt: Hat da der Theologe Schröder auch gesprochen? Zuckerbrot und Peitsche?

    Schröder: Nein, Zuckerbrot und Peitsche, nein, nein, da wüsste ich jetzt nicht, warum ich als Theologe gerade etwa für Zuckerbrot und Peitsche mich aussprechen sollte, sondern es ist so ähnlich wie bei geschäftlichen Verhandlungen. Wenn Sie da nämlich nur Bittsteller sind, da werden Sie nie einen zufrieden stellenden Abschluss haben. Sie müssen irgendetwas haben, mit dem Sie dem anderen einen Nachteil verschaffen können, sonst will der Ihnen keinen Vorteil einräumen.


    Ost- und westdeutsche Protestpotenziale

    Schröder: "Was bei uns eben zunächst nicht so angekommen ist: Der Abschied vom Untertanengeist."

    Burchardt: Wir sollten dann tatsächlich bei diesem Stichwort kurz verweilen. Sie sind Theologe, inzwischen habilitiert. Sie lehren an der Humboldt-Universität. Ist das für Sie damals, Sie sprachen ja davon, dass Sie nun am Beginn Ihrer Berufsausbildung standen in diesem Alter, in den Anfängen der sechziger Jahre, war das für Sie von vornherein klar, ich gehe in die Theologie? Und Sie sind ja auch jetzt Mitglied des Ethikrates.

    Schröder: Gewesen.

    Burchardt: Vor diesem Hintergrund die Fragen eben: Wie früh haben Sie eigentlich sich schon ethische Fragen interessiert?

    Schröder: Wissen Sie, solche Berufswünsche, die fangen ja irgendwie mal an. Die Motivationen dafür, die können sich auch ändern. Ich hatte tatsächlich mit 14 Jahren tatsächlich den Wunsch, Pfarrer zu werden. Meine beiden Patenonkel sind Pfarrer. Das hat wahrscheinlich eine Rolle gespielt. Man orientiert sich da ja an Vorbildern irgendwie oder es ist der Beruf des Vaters, der einen fasziniert oder so etwas.

    Ich bin mit Studienziel Theologie von der Oberschule abgelehnt worden. Das hat man ja nun, glaube ich, sogar schriftlich noch den Antrag. Ja, aber man muss natürlich sagen, dass im Laufe der Pubertät solche Berufswünsche natürlich dann auch sich noch mal anders darstellen. Und ob ich nun, ich bin ja diesen Weg gegangen, ob ich nun, wenn ich die Entscheidung erstmals mit 18 Jahren zu treffen gehabt hätte, wie das normalerweise bei einem Abiturienten der Fall ist, ob ich dann auch wieder so entschieden hätte bei allen Möglichkeiten offen.

    Wissen Sie, das ist ja eine Erinnerungserforschung, bei der ich gar nicht so sicher bin. Ich habe diesen Weg bis zur vollständigen Berufsausbildung weiter beschritten und bin damit eigentlich im Ganzen auch zufrieden. Obwohl ich sagen muss, dass ich eine sehr starke Affinität zu naturwissenschaftlichen Sachen habe und insofern die Welt des Apothekers eigentlich für mich auch immer eine gewisse Faszination behalten hat.

    Burchardt: Zum Thema. Wir sprachen eben über die Studentenbewegung. Irgendwo findet sich bei Ihnen in Veröffentlichungen der Satz, dass die 68er-Bewegung im Westen atheistisch konditioniert gewesen ist und die Grenze teilweise auch zu faschistoiden Formen sehr fließend gewesen sei. Wir haben es dann ja auch mit dem Terrorismus zu tun bekommen. Ist diese These auch heute noch nach Ihrer Meinung aufrechtzuerhalten?

    Schröder: Atheistisch, weiß ich nicht, ob ich das geschrieben habe. Ich meine, was ich gesagt habe, war: Man hat die Religionskritik in der Marxschen Form und in der Freudschen Form aufgesogen, ziemlich unkritisch. Das ist der eine Punkt. Faschistoide Züge, das würde ich so nicht sagen, aber es gibt leider gewisse Gemeinsamkeiten trotzdem. Das eine ist eben die Verachtung des institutionellen Rahmens der Demokratie und die Behauptung, dass das in Wahrheit alles nur Vorhang sei und dahinter das nackte Kapital seine Herrschaft habe.

    Das muss man sich immer klar machen, dass die Kommunisten und die Nazis an einem Punkt gemeinsam argumentiert haben, nämlich antikapitalistisch. Und ein markantes Element, das sie mit der älteren Generation verbindet ist, die unübertreffliche Humorlosigkeit. Und wenn Sie jemandem aus den 68ern das vorhalten, dann kommen sie alle immer mit einer Ausnahme, nämlich wieder, ich glaube, es war der Teufel beim Prozess: Angeklagter, erheben Sie sich! Und da leiert er sich hoch und sagt: Wenn es der Wahrheitsfindung dient. Das ist natürlich wirklich ein schöner Knüller. Wenn sie aber alle nur den…

    Burchardt: Auch Humor, oder nicht?

    Schröder: Na, natürlich! Wenn sie alle nur einen Fall zu erzählen haben, dann hat es wohl nicht viel Humor gegeben.

    Burchardt: Was ist den von ’68, ich meine jetzt nicht Prag, sondern die Studentenrevolte, was ist da rübergeschwappt in die DDR?

    Schröder: Ich muss mal sagen, was bei uns eben zunächst nicht so angekommen ist, das, was man als Fernwirkung sicher würdigen muss, die starke Aktivierung von basisdemokratischem Willen, ich meine damit Bürgerbewegung, dass die Leute sich für ihre Angelegenheiten interessieren. Der Abschied vom Untertanengeist. Die Überzeugung, dass, wenn mal was nicht gefällt, man doch auch was machen sollte dagegen. Das, finde ich, ist ja wirklich ein positives Moment.

    Es gibt vielleicht auch in diesem weitesten Feld, würde ich vielleicht auch zählen die Sensibilität gegen Gewalt, gerade in der Familie und bei der Erziehung ist gestiegen. Das sind zwei positive Momente. Mich hat damals erstaunt, dass die Leute Karl Marx studieren und studieren und studieren und erwarten, dass sie dort Erkenntnisse für die Politik finden. Und andere haben die Maobibel geschwungen und offenbar genauso wenig wie die Hitlerbegeisterten gewusst, wie viel Blut an dessen Händen ist.

    Das sind Formen von Verblendung gewesen, wo wir nun vom Osten aus sagen: Unsere Studenten müssen alle Marx lesen und wird ihnen beigebracht, dass sie dann die Welt verstanden hätten, und ihr macht es freiwillig. Das hat einen schon gewundert, muss ich sagen.

    Burchardt: Wenn man einige der Stichworte aufnimmt, die Sie eben gebracht haben - Theologie, die Theologischen oder die Theologen waren ja Wegbereiter der Wende in der DDR, dann Aufruf durch die 68er, dass man doch Widerstand leisten muss, dass man auch vielleicht sich nicht alles gefallen lassen muss -, kann man so sagen, dass diese ethische Komposition gleichzeitig mit dem Begriff Protest auch zu den Leipziger Demonstrationen geführt hat 1989?

    Schröder: Man kann von dem, was die Kirche betrifft: Erst mal ist es ja so gewesen, dass der alte klassische Vorwurf, den man auch heute noch so oft hört, die Kirche sei immer mit der Macht verbandelt gewesen, gilt ja für Jahrhunderte, bloß nicht für die DDR. Und ich würde es als ganz schön finden, wenn man das mal gelegentlich wahrnehmen würde, dass all diese Vorwürfe gegen die Kirche, die mit Bündnis von Thron und Altar und Rechtfertigung bestehender Verhältnisse, es ist einfach falsch auf die DDR angewendet. Und das wäre ja auch mal eine Nettigkeit der Wahrnehmung, wenn man mal da feststellen müsste. Wenn es auch meistens so war, so war es dort jedenfalls nicht so. Das ist der erste Punkt.

    Der zweite Punkt ist, dass eben die DDR, in dem Fall gibt es auch eine Ähnlichkeit zum Nationalsozialismus, eine offizielle Weltanschauung hatte. Im Nationalsozialismus hieß sie nationalistische Weltanschauung und war ansonsten außer dem Rassengedanken offenbar nicht so übermäßig inhaltsreich, aber in der DDR wurde die eben von A bis Z geschult. Von der ersten Klasse an zwar nicht, aber von der vierten Klasse an mindestens schon. Und da war eben die Kirche nicht nur in ihren Ausbildungsstätten, sondern zum Beispiel auch in der Studentengemeinde ein Ort, an dem alternatives Denken eine Heimat fand, und wo man auch über Denker reden konnte, die in der offiziellen Ideologie nicht vorkommen durften oder nicht berücksichtigt wurden. Und dann ist es so etwas wie Freiheit des Denkens. Nun gerade in der Kirche, für viele ist das ja heutzutage ein Widerspruch in sich selbst.

    Ja, mir soll es ja auch egal sein, wenn die uns generell für reaktionäre Trottel halten. Es stimmte aber nicht. Es stimmte in der DDR nicht. Und dann ist der dritte Punkt der gewesen, dass die oppositionellen Gruppen, von denen ich vorhin schon sprach, die gar nicht auf die großen Themen der Ökonomie, Systemvergleich und so etwas sich einließen, das war ja auch für sie gefährlich geworden, weil die Ketzerliste war da schon perfekt, sondern mit diesen überraschenden Themen kamen, die fanden einen Schutz unter dem Dach der Kirche. Und dieses bisschen Gegenöffentlichkeit hat natürlich nur, weil es dann auch Journalisten aus dem Westen in der DDR gab, das muss man sich auch klarmachen.

    China zeigt uns, dass Zivilcourage völlig für die Katz ist, wenn man nicht eine unterstützende Öffentlichkeit hat. Und Gandhis gewaltfreier Widerstand wäre wirkungslos gewesen, wenn er nicht die englische Presse auf seiner Seite gehabt hätte. Und so funktionierte das hier auch. Die Opposition hatte Chancen, nicht nur, weil die Kirche ein Dach bot, sondern weil das Dach der Kirche nun außerdem durch die westliche Öffentlichkeit gewissermaßen geschützt wurde. Sonst hätte das nicht funktioniert.

    Burchardt: Es findest sich bei Ihnen ja auch die Formulierung: Die einzige erfolgreiche und zudem noch unblutige Revolution in Deutschland. Wenn Sie heute zurückblicken, gemessen an dem, was man damals erhofft hat, kann man zufrieden sein anno 2008?

    Schröder: Ich bin zufrieden. Das sage ich, obwohl ich den Eindruck habe, dass das in Deutschland strafbar ist, zufrieden zu sein.

    Burchardt: Warum?

    Schröder: Warum? Wenn Sie zufrieden sind, sind Sie nicht kritisch. Und wenn Sie nicht kritisch sind, sind Sie nicht aufgeklärt. Es ist aber trotzdem so, dass ich, und ich kann das auch weiter von meinem familiären Kreis, Bekanntenkreis sagen, wir finden nach wie vor, dass sich seit 1989/90 ungemein vieles zum Besseren verändert hat. Da bin ich aber nicht typisch für den Ostdeutschen.

    Der typische Ostdeutsche, die sind zwar, wenn man sie fragt, ob sie mit ihren persönlichen Lebensverhältnissen seit der Wende zufrieden sind, dann sagen 75, oder 74 Prozent sagen: ja oder überwiegend ja. Wenn man sie fragt, wie die Lage in den neuen Bundesländern sei, dann sagen über drei Viertel, sie sei furchtbar. Dann frage ich mich ja immer, ob sie sich über ihre persönliche Lage irren oder über die Lage im Land. Das Erste ist schwierig, wissen Sie. Wenn es jemandem schlecht geht und er merkt es nicht, das ist eigentlich unwahrscheinlich.

    Deswegen muss ich doch annehmen, dass die Art und Weise, wie wir in der Öffentlichkeit die Situation in den neuen Ländern widerspiegeln, dazu führt, dass die Leute zu 75 Prozent sagen, mir geht es ganz gut, aber leider bin ich die Ausnahme. Drei Viertel ist die Ausnahme.

    Burchardt: Aber das Gefälle zwischen West und Ost ist ja nach wie vor unübersehbar. Sie kritisieren teilweise ja auch, dass es ein bisschen langsam vorangeht. Und es ist ja wahrscheinlich noch eine Generation?

    Schröder: Das ist richtig. Bei dem Gefälle muss man ja unterscheiden, meinen wir jetzt Auffassungen…

    Burchardt: Sozial und ökonomisch.
    Schröder: Sozial und ökonomisch. Ja, man könnte natürlich auch den Gesichtspunkt einbeziehen, wie urteilen denn die Leute denn politisch? Da würde ich sagen, dass alle, die studieren, eine Auffassung gewinnen, bei der es zwischen Ost und West keine Unterschiede mehr gibt.

    Es ist nicht so, dass es eine Ostmentalität gäbe. Die DDR-Nostalgie ist nicht erblich. Anders mag das sein auf Dörfern, wo Jugendliche noch nie aus dem Dorf rausgekommen sind. Da können Sie natürlich DDR-nostalgische Auffassungen ihrer Eltern übernehmen oder transformieren oder so etwas. Das geht aber sonst, wenn wir sagen, die Generation, die studiert, und sie studieren ja dann sehr oft im Westen oder auch im Ausland oder jedenfalls teilweise, das ist ein Selbstläufer. Die nächste Generation denkt in der Hinsicht nicht mehr Ost und West verschieden.

    Burchardt: Es ist aber unübersehbar, dass es sozusagen ein Braindrain, wie man so schön sagt neudeutsch, ein Schwinden der Intelligenz aus dem Osten gibt, zumindest sagen das Statistiken. Ist das nicht tatsächlich, dass irgendwann die Formel kommt, der Osten wird eine Pampa?

    Schröder: Ich sehe das so: Es gilt ja nicht für Zentren. Sie könne ja nicht sagen, dass Dresden oder Leipzig oder Jena geistig veröden, ganz im Gegenteil. Jena zum Beispiel soll auch extra hervorgehoben werden: Das ist tatsächlich ein Leuchtturm oder ein Anziehungspunkt. Und wir haben, wenn Sie die Wanderungszahlen sehen, die sind ja defizitär für den Osten. Aber: Sie müssen sehen, dass die Hin- und Herwanderung, Westdeutsche nach Osten und Ostdeutsche nach Westen, ist dreimal so hoch wie das Defizit.

    Es sind, ich glaube, zwischen 2000 und 2003 waren die Zahlen, eben 700.000 von West nach Ost gegangen und 850.000 von Ost nach West. Das ist nicht so wie ein leerlaufendes Gefäß, sondern da gibt es schon Austausch. Das leerlaufende Gefäß, wenn man das Bild gebrauchen kann, ist das flache Land. Das ist aber ein Prozess, der zwar hier sehr schnell abgelaufen ist, der aber in Schleswig-Holstein oder in anderen ländlichen Gebieten, auch im Westen gelaufen ist. Der läuft überall.

    Das Wohlstandsrezept seit dem Mittelalter ist nämlich, immer weniger arbeiten für die Ernährung und immer mehr für anderes. Und die Landflucht aus den verschiedensten Gründen, seit dem Mittelalter kennen wir das, und jeder technologische Schub erhöht das. Das wird sich nicht ändern. Aber das heißt nicht, dass die Städte verblöden.


    Sind wir ein Volk?

    Schröder: "Was es an deutscher Einheit gibt, mental und so weiter, ist so stabil, dass keiner an Trennung denkt."


    Burchardt: Eine der einprägsamen Formeln, auch gerade für Westdeutsche aus der Wendezeit, aus den Protesten war zunächst "Wir sind das Volk", dann "Wir sind ein Volk". Sind wir wirklich ein Volk? Oder wann sind wir ein Volk?

    Schröder: Ja. Wir sind ein Volk.

    Burchardt: Sie haben aber auch mal gesagt, die DDR ist ein Staat ohne Nation.

    Schröder: Ja. Damit hängt das ja auch zusammen. Die DDR hatte sich zwar alle Anzeichen eines souveränen Staates angeeignet und großen Wert darauf gelegt, dass sie selbstständig sei, bloß das Nationalgefühl, das war nicht da. Das war das Problem.

    Im Westen, das sind Formulierungen von Herrn Winkler, im Westen ist es so gewesen, dass der Staat, auch durch die Formulierung der Verfassung, wach hielt, dass das was Provisorisches sei. Aber die Westdeutschen waren sich großenteils schon selbst genug und sagten, bei uns in Deutschland ist das so und so. Wenn sie zu Besuch kamen bei uns, ja, wo seid ihr jetzt eigentlich? Bei euch in Deutschland? Was soll denn das bei euch in der Bundesrepublik? Wenn wir von Deutschland reden, dann gehören wir da eigentlich auch irgendwie dazu. Oder sind wir Sibirien oder Pampa oder was? So.

    Wir sind, was den nationalen Zusammenhalt gehört, ein unproblematischer Staat in Europa. Es gibt keinen separatistischen Tendenzen. Die muss ich ja nicht aufzählen, wo es die überall gibt. Bei Nachbarn. Und die Tschechen und Slowaken, kaum waren sie frei, haben sie auf Wiedersehen gesagt. Und insofern muss man ja schlicht und ergreifend sagen, was es an deutscher Einheit gibt, mental und so weiter, ist so stabil, dass keiner an Trennung denkt. Ich hab jedenfalls kein Flugblatt je gesehen oder die Forderung. Keine Partei fordert das. Es gibt keine separatistische DDR-Partei.

    Burchardt: Aber irgendwo gibt es noch die Mauer in den Köpfen?

    Schröder: Ja, das ist so richtig. Aber dann muss ich mal daran erinnern, wie lange, und ohne dass der Zusammenhalt gefährdet war, es die Mauer in den Köpfen zwischen Preußen und Bayern gab. Es ist nun jetzt zwar ziemlich runter. Aber Sie kennen doch wahrscheinlich auch diese Geschichte, dass jemand an die "Münchener Zeitung" schreibt, heißt es eigentlich Orpheus oder Orphe-us. Und die Antwort lautet, man sagt doch auch nicht Saupre-uß. Der Saupreuß, das ist eben ein gängiger Terminus gewesen. Und damit hat man auch leben können. Das ist sogar, wie ich finde, schärfer.

    Wissen Sie, Sie müssen gucken, die Demarkationslinie ist ja anders gelaufen als die typischen Unterschiede, die es in Deutschland gibt, nämlich Ost-West-geteilt. Und die typischen Unterschiede sind eigentlich in Deutschland Nord-Süd. Und so können Sie die Erfahrung machen, dass die Mecklenburger und die Hamburger und die Niedersachsen haben den gleichen gemeinsamen Rundfunk gemacht, weil die über das Plattdeutsche sowieso verbunden sind. Und die Thüringer und Hessen, die fallen sich auch in die Arme, weil es ja viele verwandtschaftliche und klassische alte Beziehungen gibt. Ost- und Westberlin ja auch.

    Dadurch ist die Sache so erleichtert, dass der Ost-West-Unterschied nicht identisch ist mit landsmannschaftlichen. Und Sie haben in dem Osten auch ein Nord-Süd-Gefälle. Und die Sachsen, denen erscheint der südliche Raum Deutschlands vertrauter als Mecklenburg, da sprechen sie eine andere Sprache. Und außerdem sind sie dort nicht beliebt.

    Burchardt: Gibt es denn jetzt ein gesamtdeutsches Nationalbewusstsein Ihrer Meinung nach?

    Schröder: Die Sache mit dem Nationalbewusstsein, die hat einen bekannten Punkt.

    Burchardt: Sie haben ja auch mal vor einem Vierten Reich gewarnt.

    Schröder: Nee, ich nicht.

    Burchardt: Beziehungsweise gesagt, Gott sei Dank, ist es nicht so weit gekommen.

    Schröder: Na, ich habe das seltsam gefunden, dass diese Angst so massiv 1989/90 wieder kam. Nein, es gibt ein gesamtdeutsches Zusammengehörigkeitsgefühl. Nationalbewusstsein kann man das von mir aus auch nennen. Es ist im Osten stärker als im Westen. Und es gibt im Westen eben immer noch Stimmen, die sagen, wir sind doch eigentlich eine postnationale Gesellschaft, ein postnationaler Staat und solches Zeug. Ich hab das auch jetzt von einem nicht ganz unbedeutenden Historiker wieder vorgetragen bekommen. Ich halte das erstens für Blödsinn. Beweis Marco. Marco ist, wir wissen das, inhaftiert.

    Burchardt: Das ist der Junge, der in der Türkei war.

    Schröder: Der Junge ist in der Türkei inhaftiert. Da empören sich nicht die Neuseeländer, sondern wir nehmen Anteil an diesem Schicksal, weil das einer von uns ist. Es mag noch anderswo in der Welt jemand in unpassender Weise lange in Untersuchungshaft sein. Über den Fall nehmen wir nicht so viel Anteil. Und da das so ist, gibt es offenbar ein emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl. Und da muss ich Ihnen sagen, wenn ich mal als Geisel in Afrika oder wo entführt werde, da setze ich natürlich auch auf meine lieben Deutschen und den deutschen Staat und erwarte nicht, dass, was weiß ich, in Sri Lanka diejenigen wohnen, die mir helfen werden.

    Das muss man doch auch mal so sehen. Aber es gibt eben bei westdeutschen Leuten immer noch, ehrlich gesagt, die Ausrede: Die Ausrede, unsere deutsche Geschichte, die ist beschmutzt und wir möchten sie am liebsten loswerden. Wie könnten wir das machen? Wir sind postnational. Ich sage, das ist auch eine neue Art von Überlegenheitswahn. Ihr seid den anderen Völkern, denen die Nation was bedeutet, schon eine Menschheitsepoche wieder hinaus. Ihr merkt gar nicht, wie ihr mit der Entsorgung der deutschen Geschichtsqualen schon wieder was Besonderes sein wollt. Das finde ich nicht gut. Wir sollten klar sagen, deutsche Geschichte ist belastet, aber die letzten zehn Jahre des 20. Jahrhunderts waren "eins-a"!