Donnerstag, 28. März 2024

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Jacques Derrida: Politik der Freundschaft

In seinem jüngsten Buch "Politik der Freundschaft" durchstreift Jacques Derrida, der Protagonist des Dekonstruktivismus, die Theorien von Freund- und Feindschaft, um schließlich Voraussetzungen einer künftigen Theorie der Demokratie zu benennen. Demokratie gilt Derrida als der Ort, "wo jeder in gleicher Weise ganz anders zu sein" vermag. Das ist ein Postulat, das die Rede von der Menschenwürde und ihrer Unantastbarkeit beim Wort nimmt und auf jegliche Zurichtung des Individuums - egal ob sie christlich, marxistisch oder humanistisch motiviert ist, verzichtet. Für Prediger von Leitkulturen ist das natürlich eine Zumutung. Doch da diese, vor allem "an den Stammtischen verstanden werden" wollen, wie es der neue Generalsekretär der Christenunion so unbefangen formulierte und da ihnen die Parole wichtiger ist als deren Semantik oder gar theoretische Implikationen, werden sie die überaus anspruchsvollen Schriften von Derrida eh nicht zur Kenntnis nehmen. "Die Generation Moses Mendelsohns hatte es vielleicht leichter als wir", sagte der Theatermacher Ivan Nagel als er im Spätsommer mit dem Moses Mendelsohn Preis ausgezeichnet wurde. Und fuhr fort: " Diese Generation mußte sich mit dem aufgeklärten Despoten herumschlagen, wir uns mit volksverdummenden Demokraten." Das ist wohl wahr. Wobei gefragt werden muss, ob die Definition einer Leitkultur mit den Prinzipien demokratischer Ordnung kompatibel ist, ob die Forderung nicht ein zumindest unbefangenes Verhältnis zum Totalitarismus voraussetzt. Doch damit schlagen wir uns jetzt nicht herum, hören Sie den Beitrag von Marlis Gerhardt über Jacques Derridas "Politik der Freundschaft".

Marlis Gerhardt | 06.11.2000
    Freundschaft, ein klassisches Thema der europäischen Philosophie: Sie wurde von der Antike bis heute immer wieder beschrieben, beschworen, gefeiert oder als Illusion verabschiedet. Das Wort "Freundschaft", so schrieb ein Autor des 20. Jahrhunderts - Siegfried Kracauer -, gehört zu jenen "Wortgefäßen", in denen "die Erfahrung der Generationen, unerschöpfliches Leben, unzählige Geschehnisse sich verbergen. Jacques Derrida umreißt den Begriff so:

    Lieben, das versteht sich vor allem weiteren von selbst. Darüber herrscht Einverständnis, das muss man begriffen haben, das ist es, worauf man sich getrost verlassen und was mitzuhören man nicht umhin kann, sobald das Wort Freundschaft fällt. Freundschaft, nicht wahr, besteht darin zu lieben. Sie ist fraglos eine Weise des Liebens. Konsequenz, Implikation, sie ist ein Akt, bevor sie eine Situation ist. Der Akt dessen, der liebt, eher und früher als der Zustand dessen, der geliebt wird. Zuerst eine Handlung, erst dann eine Passion. Der Akt dieser Aktion, die Intention zu lieben, ist der Freundschaft wesentlicher als die Situation dessen, der sich lieben lässt oder Liebe einflößt. Und jedenfalls wesentlicher als die Situation dessen, der geliebt wird. Gewiss verrät das Geliebtwerden etwas über die Freundschaft, aber nur hinsichtlich des Geliebten. Es verrät nichts über die Freundschaft selbst.

    Das Denken und Schreiben über Freundschaft ist so alt wie das Denken und Schreiben über die Liebe. Kaum ein anderes Motiv, das sowohl Philosophen wie Poeten derart intensiv beschäftigt hat. Die Klage "Oh meine Freunde, es gibt keinen Freund" wird Aristoteles zugeschrieben, ein Satz, der seitdem immer wieder neu aufgegriffen und neu gedreht und gewendet wird. Montaigne z.B. hat sich ausführlich mit ihm auseinandergesetzt und im 19. Jahrhundert dann Friedrich Nietzsche, der dem Satz eine weitere paradoxe Wendung gibt. Er nämlich formuliert in bewusst provokanter Absicht: "'Freunde, es gibt keine Freunde', so rief der sterbende Weise, 'Feinde, es gibt keine Feinde', ruf ich, der lebende Thor."

    Auch Michel Foucault hat sich bereits vor Jahren dem Thema wieder neu zugewandt, und zwar im Blick auf die männliche Homosexualität. Allein die Freundschaft nämlich erlaubt für ihn egalitäre Beziehung, das sexuelle Begehren hingegen schließt jede Gleichheit aus.

    Und jetzt Jacques Derrida in seinem neuen Buch "Politik der Freundschaft", das in diesem Sommer in deutscher Übersetzung erschien. Derrida, der Philosoph der Dekonstruktion, der Denker der "Differenz". Wer auch nur ein wenig mit seiner Methode der Dekonstruktion von Texten vertraut ist, weiß, dass es ihm nicht darum geht, das "Wesen" oder die "platonische Idee" von Freundschaft zu definieren. Es geht ihm auch nicht um einen philosophiehistorischen Exkurs, sondern um die Exegese von Texten, die sich auf andere Texte über Freundschaft beziehen, sie fortschreibend, ergänzend, ihnen widersprechend. Jeder Text nämlich ist in der Lesart Derridas auf einen anderen bereits geschriebenen Text "aufgepfropft", so wie ein Ast einem Baum aufgepfropft wird. Derrida selbst spricht gerne von "Supplementen", denen kein Original, kein erster und ursprünglicher Text zugrunde liegt. Aus der Idee des einen Autors wird so eine Vielzahl von Autoren. Am Ende steht ein "Baum ohne Wurzeln", ein Netzwerk von Ästen, das heißt, ein System von Verweisungen und Ergänzungen.

    Es bleibt jedoch in dieser großen Reflexion über die Freundschaft nicht bei der unendlichen Fortschreibung von Zitaten von Zitaten. Derrida vielmehr geht einer anderen Spur nach, um den anscheinend so harmlosen Begriff Freundschaft in einen größeren politischen Kontext zu versetzen und ihn so mit neuen ungewohnten Bedeutungen aufzuladen. Diese Veränderung in Variationen spielt er denn auch virtuos durch. Die vorhandenen Texte über Freundschaft werden im Blick auf ihre Verführungen und ihre Falschmünzereien so genau befragt, dass der Begriff jedes Schillersche Pathos und jede Gemütlichkeit einbüßt.

    Die Freundschaft ist unheimlich. Welches griechische Wort ist geeignet, unheimlich, uncanny, zu übersetzen? Warum nicht atopos? Ortlos oder entortet? Ohne Familie und Vertrautheit, außer sich, expatriiert, außergewöhnlich, extravagant, absurd oder verrückt, absonderlich, un(zu)gehörig, befremdend, aber auch fremd? "Un(zu)gehörig" wiegt vielleicht am schwersten, wurde doch die Freundschaft so häufig durch die Angehörigkeit und Zugehörigkeit, eine oikeotes, eine convenience, definiert, die zur familiären Vertrautheit ebenso gehört wie zur Wesensverwandtschaft.

    Derrida riskiert, ausgehend von diesen Überlegungen, das Wagnis, den Begriff der Freundschaft mit dem ebenfalls historisch überfrachteten und belasteten Begriff der Brüderlichkeit zusammenzubringen - wohl wissend, wie brüchig, wie gefährdet die alte Dreieinigkeit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit längst geworden ist. Er, der wie kaum ein anderer über die Asymmetrie der Geschlechterrollen nachgedacht hat, weiß selbstverständlich auch, dass der Begriff Brüderlichkeit bisher jede Feminität ausschloss und die Figur der Schwester negierte. Trotz allen Wissens um diesen historischen Ballast versucht er eine Annäherung; eine Annäherung allerdings, die nicht Wiederbelebung oder Rettung des schlechten Vergangenen meint. Es geht ihm vielmehr um eine vorsichtige Utopie jenseits der alten Ausschließungen - ein Versuch, keine Behauptung, dass es in Zukunft so sein wird oder so sein könnte.

    Warum ist der Freund wie ein Bruder? Träumen wir von einer Freundschaft, die über die Nähe des gleichartigen und gleichgeschlechtlichen Doppels hinausginge. Von einer Freundschaft jenseits der natürlichsten wie der alles andere als natürlichen Verwandtschaft, die doch ihre Signatur von Anbeginn auf dem Namen wie auf dem doppelten Spiegel eines solchen Paars hinterlassen hat. Fragen wir uns, wie die Politik eines solchen "Jenseits des Brüderlichkeitsprinzips" aussehen könnte. Stünde ihr der Name "Politik" noch zu?

    Das Wort Politik ins Spiel zu bringen, heißt, die Vorstellung dessen, was Freundschaft ist oder sein kann, um ein wesentliches Moment zu erweitern. Für Derrida nämlich tritt der Begriff des Politischen selten ohne eine Rückbindung des Staates an die Familie auf, selten auch ohne den "Schematismus der Abstammung", wie er ihn nennt, das heißt, "den Stamm, die Gattung, das Geschlecht, das Blut, die Geburt, die Natur, die Nation". Mit anderen Worten: Das Politische löste sich für ihn bisher niemals von seiner Bindung an die familiäre Herkunft.

    Derrida versucht, diese historisch tradierte Form der Bindung an Stamm, Familie und Nation auf Probe aufzuheben: Freundschaft und Brüderlichkeit jedoch ohne Verbrüderung, sie stellt er denn auch in den Zusammenhang einer künftigen Demokratie, die auf derartige Bindungen des Blutes verzichten kann.

    Spätestens mit diesem Fernblick, diesem Versuch, eine neue Form der Demokratie zu denken, verlässt er die Ebene der reinen Dekonstruktion von Texten. Er wagt sich stattdessen auf ungeschütztes Terrain und riskiert das Prinzip Hoffnung einer möglichen demokratischen Verfasstheit, die ein Individuum meint, das sich als frei und allein versteht. Allerdings ist er skeptisch genug, um es bei einem Vielleicht zu belassen: Vielleicht wäre Freundschaft und Brüderlichkeit möglich, wenn eine Demokratie bereit wäre, sich aus dem Gefängnis der Bindungen an Blut, Geschlecht und Rasse, Nation und Familie zu lösen.

    Marlis Gerhardt über Jacques Derrida, Politik der Freundschaft. Der bei Suhrkamp in Frankfurt erschienene Band umfasst 491 Seiten und kostet 88,-DM.