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Jacques Offenbach, 'La vie parisienne'

Jacques Offenbach, 'Orphée aux enfers' picture: dot.gif label: EMI CLASSICS Labelcode: 6646 Bestellnr.: CD 7243 5 56 727 2

Frank Kämpfer | 21.02.1999
    Am Mikrofon Frank Kämpfer.

    Ich stelle Ihnen heute zwei neue Aufnahmen vor, die es in sich haben. Zweifellos dokumentieren sie Sternstunden musikalischen Theaters. Mit Oper im konventionellen Sinn allerdings haben sie wenig zu tun. * Musikbeispiel: Offenbach, La vie parisienne Der Major ist in Wahrheit ein Schuster, der Admiral wird als Kellner erkannt. Die Comtesse ist nur eine Grisette, und selbst der genervte Baron de Gondremarck bleibt nicht er selbst, wenn ihm die nächtliche Großstadt schnellen Reiz suggeriert. Maskerade, Illusion, Jagd nach dem Vergnügen bestimmen Sujet und Dramaturgie in Jacques Offenbachs fünfaktigem "La Vie Parisienne". Die Metropole Paris, ein Moloch der Industrie und des Kapitals, scheint darin wie verdoppelt zu sein: ein Ort eines kaum mehr finanzierbaren Alltags und zugleich als ein Erlebnispunkt exotischer Sinnlichkeit. Ersteres gilt den Bewohnern der Vorstadt, zweiteres dem Touristen, der hier wenn zwar nicht König, so doch Adel sein darf. Und Offenbach und seine Librettisten konfrontieren in ihrer opera bouffe beide derart, daß die Gegenwelt des einen für den anderen stets die Quelle ungestillter Sehnsüchte bleibt. * Musikbeispiel: Offenbach, La Vie Parisienne In Christoph Marthalers vielerwähnter Inszenierung aus dem vergangenen Jahr erschien das offenbach’sche Paris ein wenig wie das wiedervereinigte Berlin: mit seinen Abgründen und Absurditäten, mit seinen sozialen Härten und seinem voyeuristischen Zerstreuungsbedarf. Hier nun liegt eine Aufzeichnung einer der ersten Berliner Aufführungen vor, - mit selbiger übrigens begann das ambitionierte bayerische Uraufführungslabel col legno die neue Reihe col legno /Edition. Nicht allein theaterarchivarisch gesehen ist der Live-Mitschnitt ein hochkarätiges Dokument. Gewiß belegt er präzis, wie ambitioniert hier gearbeitet wird, was Spiel-Lust an Sprengkräften freilegen kann, wie das Publikum auf manche Anspielung reagiert. Reduziert auf das rein akustische Element, gibt das Material vor allem jedoch Einblick in die musikalisch-theatralische Mikrostruktur. Gastdirigent Sylvain Cambreling hat die Partitur ausgedünnt und komprimiert: der Orchestersatz ist neu arrangiert für die 19 Solisten von ‘Wien modern’. Das speziell auf Neue Musik spezialisierte Ensemble agiert virtuos, sehr präzis, mit Wärme und Charme. In straffen Tempi und dramaturgisch geschärft, erklingt theatralische Kammermusik, die voller Botschaften ist. Das Ensemble der Volksbühne/Ost aus Berlin ergänzt - mit hochkarätiger Semiprofessionalität. Singende Schauspieler legen - in deutsch-französischer Mischfassung - jenen Zwischenton frei, der den Reiz des offenbachschen Theaters aus macht: das stete Changieren zwischen Satire und gefährlichem Ernst, Musette und opéra. Hier noch ein weiterer Ausschnitt, aus dem vorletzten Akt: Unversehens wechseln Situation und theatralische Form, Amüsierzwang erweist sich als Maske geordneter Unerfülltheit, mancher Pointe entspringen Drastik und Widerstandsgeist. * Musikbeispiel: Offenbach, La Vie Parisienne Gleichfalls ein Dokument lebendigen Theaters zu sein beansprucht auch eine bei EMI CLASSICS erschienene französische Offenbach-Produktion: Marc Minkowskis Version des "Orphée aux enfers", die 1997 in Genf, Lyon und Grenoble zu erleben war. Gespielt wurde hier die frühe herbere 1858er Fassung des Stücks, angereichert um einige Musik-Nummern aus der luxeriöseren wiener Bearbeitung.

    Minkowski, der Spezialist für Barockmusik, und die ambitionierte Opera National de Lyon samt dem Kammerensemble Grenoble entschlossen sich dabei gemeinsam zu einem Experiment: Offenbachs Klassiker nämlich der Verödung zu entreißen und Unterhaltung anzureichern mit Provokation und Esprit. Das Resultat, wiewohl es den ästhetischen Rahmen von Oper nicht sprengt, überrascht. Anders als Marthaler/ Cambrelings Pariser Leben wird dieser Orpheus zwar nie gesellschaftspolitisch, doch wird immerhin musikalisch revoltiert: Geschärfte Gestik, forcierte Tempi, trockene Dialoge und knallige Couplets lassen aufhorchen. So ambitioniert, wurde das Stück seit Rene Leibowitz wohl noch nie wieder gespielt. Namhafte Solisten garantieren auch stimmlich Opulenz. Etwa Natalie Dessay als Euridice oder Ewa Podles als Öffentliche Meinung. Weitere hören Sie im folgenden Szenenausschnitt im Olymp kurz vor dem ersten Finale: Virginie Pochin als Minerva, Jennifer Smith als Diana, Patricia Petibon als Cupido, Veronique Gens als Venus und als Pluto Jean-Paul Fouchécourt. * Musikbeispiel: Offenbach, Orphée aux Enfers Jacques Offenbachs opéra bouffes in ambitionierter Gestalt. In unserer Sendung ‘Die neue Platte’ hörten Sie Ausschnitte aus "La Vie Parisienne" von Christoph Marthaler und Sylvain Cambreling, veröffentlicht beim Label col legno; sowie, erschienen bei EMI CLASSICS, aus Marc Minkowskis "Orphèe aux enfer" an der Opera National de Lyon.

    Redakteur am Mikrofon war Frank Kämpfer, kommen Sie gut durch den Tag.