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Jahr 2016
"Die Krisen legen sich wie Lackschichten über den Horizont"

Brexit-Referendum, Wiederholung der Österreich-Wahl, Flüchtlingskrise - jede einzelne Krise sei lösbar, "aber es sind halt so viele" - und man habe die vorigen noch nicht bewältigt, sagte der "Spiegel"-Autor Nils Minkmar im DLF. Er sei "wütend, dass die Leute nicht aufwachen und auch die Politprofis das Ruder aus der Hand geben".

Nils Minkmar im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 02.07.2016
    Der Historiker, Journalist und Publizist Nils Minkmar bei einer Lesung am 19.01.2015 in Köln.
    Der Historiker, Journalist und Publizist Nils Minkmar bei einer Lesung in Köln. (imago stock&people)
    Es gebe viele Felder, auf denen nichts passiert, sagte Nils Minkmar, zum Beispiel das Festsitzen von Wikileaks-Gründer Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London, oder die NSA-Enthüllungen von Edward Snowden. Dies hänge damit zusammen, "dass wir noch nicht die politische Antwort darauf haben". Die politischen Kräfte seien noch aufgestellt wie früher, die Situation sei aber eine völlig neue. "Wir hetzen kopflos von einem Theater zum nächsten", so Minkmar. Es gebe keinen richtigen Hoffnungsträger in der Politik, weder in Großbritannien, Frankreich oder Deutschland.
    Minkmar sagte, es existierten zwei gesellschaflich-politische Pole. Diejenigen wie Donald Trump in den USA, die geschlossene Grenzen wollen und diejenigen, die offene Grenzen wollen. Als Beispiel nannte er die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin und von Teilen der Union, denen er sich näher fühle als manchem Linken.
    Wenn er eine Sache zurückdrehen könnte, so Minkmar, sei es die Wahlbeteiligung beim Brexit-Referendum in Großbritannien. Dass so wenige Junge ihre Stimme abgegeben haben, sei ein fataler Fehler gewesen. Man müsse ihnen mitteilen, dass es auf sie ankommt. Junge Menschen hätten häufig den Eindruck, dass sie nichts ändern können. "Nichts könnte falscher sein", sagte Minkmar.

    Das Interview in voller Länge:
    Ann-Kathrin Büüsker: "Wir wiederholen gleich ganz 2016" – das schrieb der "Spiegel"-Autor Nils Minkmar gestern bei Twitter, kurz nachdem bekannt geworden war, dass die österreichische Bundespräsidentenwahl wiederholt werden muss. Und ganz ehrlich, ich finde diese Idee ja durchaus in irgendeiner Weise charmant.
    Wir würden David Bowie und Bud Spencer wiederkriegen, würden viele rechtsradikal motivierte Straftaten rückgängig machen, viele Flüchtlinge wären nicht im Mittelmeer ertrunken, die EU wäre vielleicht kein Scherbenhaufen – diese Liste ließe sich sicher noch eine ganze Weile fortsetzen.
    Das Leben ist aber nun mal kein Videospiel. Zum letzten Zwischenspeicherstand zurückkehren, das geht nicht. Wir müssen da jetzt irgendwie durch und 2016 akzeptieren und zu Ende bringen. Aber wie? Vielleicht hat Nils Minkmar eine Antwort darauf. Guten Morgen, Herr Minkmar!
    Nils Minkmar: Hallo, guten Morgen!
    Büüsker: Herr Minkmar, wir können 2016 jetzt ja leider wirklich nicht resetten, aber wenn Sie sich eine Sache wünschen dürften, die Sie ungeschehen machen dürften, welche wäre das?
    Minkmar: Dann wäre das die Wahlbeteiligung der jungen Briten, die so gering war bei dem Brexit-Referendum. Da haben ja nur, glaube ich, ein Drittel der jungen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben, und das war natürlich ein fataler Fehler.
    "Das sind so geschlossene Systeme, da komme ich gar nicht rein"
    Büüsker: Und wie könnte das passieren, dass die jungen Leute auch wieder mehr wählen? Haben Sie da eine konkrete Idee?
    Minkmar: Man müsste Ihnen einfach auch schon mal mitteilen, dass es auf sie ankommt. Oft reicht ja schon die direkte Ansprache. Viele haben ja den Eindruck, na ja, gut, das sind alles so geschlossene Systeme, da komme ich gar nicht rein, die machen alles unter sich aus, und so. Aber nichts könnte falscher sein.
    Büüsker: Andersherum gefragt: Wenn Sie ein Drehbuch für den Rest des Jahres schreiben könnten, also sich was wünschen könnten für den weiteren Verlauf des Jahres 2016, wie würde Ihr Drehbuch aussehen?
    Minkmar: Es wird jetzt viel ankommen, glaube ich, erst mal auf die Österreich-Wahl. Ich habe vorher – es sind jetzt alle noch beschäftigt damit, dieses posttraumatische Erlebnis da so ein bisschen zu verarbeiten und sich zurechtzufinden in dieser völlig neuen Realität, die wir haben.
    Wir haben ja den Umstand, dass die prospektive Premierministerin in Großbritannien, Theresa May, schon das Schicksal der dort lebenden EU-Bürger sozusagen als Trumpfkarte in der Hand hält, um da bessere Bedingungen zu schaffen für ihren Brexit – das ist alles so gruselig, dass wir jetzt auf den Herbst warten und auf diese Wahl in Österreich, von der für Europa natürlich auch wieder sehr viel abhängt.
    Büüsker: Ich will Ihnen ganz ehrlich sagen, als ich heute Morgen hier ins Funkhaus gekommen bin und die Eilmeldung gelesen habe über den erneuten Terroranschlag, diesmal in Bangladesch, das war im Prinzip wieder so ein zusätzliches Reiskorn, das so langsam die Sache auch mal zum Überlaufen bringen könnte.
    Weil gefühlt bekommen wir ja permanent wirklich schlechte Nachrichten in den ganzen letzten Jahren. Ukrainekrise, Erstarken von Daesh (Islamischer Staat, Anm. d. Red.), die Finanzkrise, zunehmender Terror – bei mir persönlich löst das irgendwann auch so eine Art Overkill aus und das Gefühl, dass es irgendwie alles immer nur noch schlimmer wird. Ist das eine insgesamt zu negativ fixierte Sicht?
    "Bei der Lösung der Eurokrise haben viele das Gefühl, das war unfair"
    Minkmar: Nein. Wir haben es mit so einem Phänomen zu tun, wo sich die Krisen wie so Lackschichten über den Horizont legen. Das heißt, jede einzelne Sache ist ja irgendwie lösbar und man kann sich da vorstellen, wie man das angeht. Aber es sind halt so viele, und wir haben halt die vorigen auch alle noch nicht bewältigt. Sozusagen bei der Lösung der Eurokrise haben ja viele das Gefühl, das war unfair.
    Wir haben private Schulden vergemeinschaftlicht, und jetzt sind die öffentlichen Haushalte pleite. Wir haben immer noch dieses Problem der Datenkraken, wir haben immer noch Assange, der in seinem Zimmer da sitzt in der Botschaft in London. Wir haben diese Snowden-Sache. Wir haben so viele Felder, auf denen einfach auch nichts passiert.
    Und ich glaube, das hängt damit zusammen, dass wir einfach noch nicht die politische Antwort darauf haben auch in dem Sinne, dass die politischen Kräfte falsch noch aufgestellt sind. Wir sind noch so aufgestellt wie früher. Wir haben aber eine völlig neue Situation. Wenn Sie sich angucken, auch bei dem Brexit ist ja auch ein Desaster, ist ja auch dieses komplette Kollabieren von Labour. Sie haben zum ersten Mal jetzt ja gar keinen Schattenpremierminister, der da mal eine Alternative anbieten könnte.
    Sie haben es auch in Deutschland nicht oder in Frankreich. Das heißt, Sie haben so eine rumwuselnde Großkoalition, die auch komplett überfordert ist, und Sie haben keine richtigen Hoffnungsträger, und die Bürger wissen gar nicht, wie kann das weitergehen, wer könnte mal reagieren. Und ich glaube, das trägt auch dazu bei, dass man sich so hilflos und gefrustet fühlt.
    "Einen neuen Begriff von Liberalismus"
    Büüsker: Okay, Stichwort, wir müssen die politischen Kräfte irgendwie anders aufstellen. Aber wie müssten die aufgestellt werden, um sozusagen für die neue Zeit fit zu sein?
    Minkmar: Ich glaube, Sie brauchen tatsächlich einen neuen Begriff von Liberalismus, der sagt, wir sind einfach eine offene Gesellschaft, wir wollen offene Grenzen und die anderen Kräfte wollen eben geschlossene. Man sieht es bei Trump und man sieht es in vielen anderen Ländern, die wollen halt die Grenzen dichtmachen. Das sind ein bisschen die Alternativen, das sind die Pole. Man ist ja heute viel näher mit manchen Kräften der CDU, die da auch gerade in der Flüchtlingsfrage die Kanzlerin unterstützt haben und so – dazu fühle ich mich jetzt viel näher als zu manchen von der Linken, historisch gesehen. Das heißt, wir haben da völlig neue Pole eigentlich.
    Büüsker: Aber wie realistisch ist das denn, dass sozusagen was neues Liberales entsteht, wenn sich alle irgendwie bedroht fühlen? Die Liberalen fühlen sich durch Populisten bedroht, Asylgegner fühlen sich durch Migranten bedroht. Pegida fühlt sich durch Muslime bedroht, Transatlantiker fühlen sich durch Russland bedroht. Alle fühlen sich irgendwie bedroht. Wie findet man da den Zugang zu einer freiheitlichen Denkweise?
    Minkmar: Man muss sich besinnen. Man muss sich besinnen, dafür haben wir jetzt im Sommer Zeit, das ist auch ganz wichtig, und dann sehen, dass eben die, die sich von Flüchtlingen bedroht und von offenen Grenzen bedroht fühlen, in der Minderheit sind. Das ist einfach so. Demokratie ist ein Mehrheitsprinzip, und noch sind die in der Minderheit.
    Das muss man auch ganz klar sehen, und dann muss man auch schauen, wer von denen, die die unterstützen, vielleicht auch ganz andere Probleme hat, wer da irgendwie die Notbremse ziehen wollte, weil die Globalisierung, weil das alles zu schnell geht, wen wir sozusagen nicht mehr berücksichtigen, nicht mehr mitnehmen, wer sich nicht mehr zugehörig fühlt, und was kann man dagegen machen. Es ist möglich. Ich bin kein Pessimist.
    Büüsker: Meinem Gefühl nach ist das aber eine sehr elitäre Diskussion. Was hat der Milchbauer davon, der irgendwie mit seinem Betrieb nicht mehr klarkommt, weil die Milchpreise so niedrig sind?
    "Kanzlerin kümmert sich um Böhmermann-Sketche"
    Minkmar: Das stimmt, die EU-Landwirtschaft ist ja eigentlich nur ein kleiner Sektor, es wird ihr ja unheimlich viel geholfen. Es ist aber auch so, dass sich die Leute hier wieder besinnen auf regional und biologisch und gut hergestellte Produkte, dass sie auch bereit sind, mehr zu zahlen. Da gibt es Möglichkeiten, aber man muss sich der Sachen natürlich annehmen. Aber wir hetzen so kopflos von einem Theater zum Nächsten. Da kümmert sich die Kanzlerin noch um Böhmermann-Sketche. So kommen wir nicht weiter.
    Büüsker: Jetzt haben Sie – Stichwort regional – da denke ich gerade nach, ist vielleicht eine Möglichkeit, sich auf der einen Seite stärker auf regionale Dinge zu konzentrieren, auf der anderen Seite aber auch an Europa zu denken und irgendwie einen Mittelweg zu finden, der an diesem Nationenbegriff vielleicht ein bisschen vorbeigeht? Also auf der einen Seite regional, auf der anderen Seite durchaus globalisiert – wie findet das zusammen?
    Minkmar: Das sehe ich genauso wie Sie. Sehr wichtig noch: die großen Städte. Im Moment haben die Bürgermeister und Bürgermeisterinnen der großen Städte in Europa eigentlich eine tolle Rolle. In Frankreich ist die Bürgermeisterin von Paris, in Großbritannien der Bürgermeister von London, das sind wirklich tolle Figuren, mit denen sich die Menschen auch solidarisieren.
    Das heißt, die großen Städte, die Regionen und so, da entwickeln die Leute eine Heimat aus Zugehörigkeitsgefühl. Europa ist eigentlich bei vielen ja auch noch positiv besetzt, nicht nur. Und der Nationalstaat könnte es schwer haben. Das Problem dazwischen sind ganz einfach wir, die Medien, die einfach noch wahnsinnig nationalstaatlich orientiert sind.
    Büüsker: Mit welchem Gefühl blicken Sie jetzt so insgesamt auf den weiteren Verlauf des Jahres 2016?
    Minkmar: Na ja, ein bisschen irritiert und auch schon fast ein bisschen wütend. Das ist eigentlich ein ganz produktives Gefühl. Aber ich bin auch wütend, dass alles so geschieht, die Leute nicht aufwachen, und auch die Politprofis so komplett das Ruder aus der Hand geben. Und ich glaube, da muss man mal was machen.
    Büüsker: Und Wut kann ja auch was Gutes sein.
    Minkmar: Ich glaube auch, ja.
    Büüsker: Sagt Nils Minkmar. Vielen Dank, Herr Minkmar, für das Gespräch heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
    Minkmar: Ich danke Ihnen!
    Büüsker: Tschüs!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.