Freitag, 19. April 2024

Archiv


Jahrbuch der Lyrik 98/99

Das Jahrbuch der Lyrik bringt jedesmal Überraschungen, und da ist es ganz gut, daß seine Form beständig bleibt: der Herausgeber Christoph Buchwald mit einem Gast, dieses Mal Marcel Beyer, das Taschenbuch-Format, die Einteilung in sieben Kapitel, deren letztes stets einen "Blick zum Nachbarn" riskiert - der gilt diesmal der Schweiz -, und an den Schluß gehört natürlich die Klage, daß das Jahrbuch besser wahrgenommen werden müßte. Im nächsten Jahr erscheint es zum zwanzigsten Mal; doch viel besser als das vorliegende kann es nicht werden.

Alexander von Bormann | 02.10.1998
    Etwa 75 Autoren kommen hier zu Wort, und das in einem Kontext, der jedem zur Ehre gereicht. Die gestandenen, bekannten Dichter sind ganz eindeutig in der Überzahl, Buchwald benennt sie (mit der Großzügigkeit des Gastgebers) mit einem Anteil von 90 Prozent. Offensichtlich haben die jungen Leute (wer sind sie?) zu wenig oder zu Schlechtes eingesandt, oder stimmt was mit den Kriterien nicht, oder sind es wieder einmal "schlechte Zeiten für Lyrik". Daß einem das Singen vergehen kann, wäre nur zu verständlich. Aber es muß ja nicht nur gesungen werden.

    Auffällig ist, wie gerade die sogenannten alten Herren einen munteren Ton anschlagen. Rühmkorf, der nächstes Jahr 70 wird, läßt sich davon nicht beirren:

    "Auf weht der Flugzeugtreppenwind, die Rollfeldlerche trällert für uns, die Hauch vom Hauche sind: runter den Hut, rein in den Spind, und dann wird lospropellert!

    Hut und Propeller, das klingt zwar ein wenig nach den 30er Jahren. Aber vielleicht verweist die kleine Ungleichzeitigkeit, die schließlich dem Reim geschuldet ist (Rühmkorf hat alles für einen ungewöhnlichen Reim über), vielleicht verweist das Propellern ja auch ganz postmodern auf den City Hopper, also darauf, daß es nicht immer um die großen Fernen und Weiten gehen muß. Noch viel mehr beschränkt sich Richard Pietraß, der nicht unironisch das Loblied der Zap-Reise singt: "Per Knopfdruck fahr ich um den Fernsehsee." Also Zeitgenossenschaft die Fülle. Ludwig Harig bietet selbst ein Sonett auf Derrick an, und manche Gedichte sind kaum verständlich, wenn man die letzten Entwicklungen im Fußball nicht kennt.

    Viel Alltagston also; es gibt Friseure und ein "schwitzendes Beschwitzen", aber auch Meisen im Ginster. Schüchtern ist das Experiment geworden, hervortreten vor allem die Alt-Meister: Rühmkorf, Haufs, Jürgen Becker etwa. Und schön, daß die alte/neue DDR so munter präsent ist: Kito Lorenc und Barbara Köhler, Peter Gosse, Wilhelm Bartsch, Volker Braun, Bert Papenfuß und andere, alle unverkennbar im Ton und nichts weniger als angepaßt.

    Neue, überraschende Ansätze finden wir nur sehr selten, und das kann ja vielleicht auch nicht anders sein: Lyrik lebt nicht von Moden, sondern von uralten Zauberkünsten. Johannes Kühn weiß etwas davon, die Mayröcker, auch Thomas Kling - längst nicht alle. Aber das meiste ist gekonnt und bedeutsam, auch bedeutend und gut, man hat jedenfalls viel zu bestaunen und nachzulesen.

    Der Blick zum Nachbarn gilt diesmal der Schweiz und trifft auffällig viel Bemühung um originelle Töne an. Spannend finde ich eigentlich nur die Prosagedichte von Birgit Kempker, die kleingedruckt den unteren Rand der Abteilung füllen. Sie lebt in Basel, hat zwei Bücher gemacht (eines bei Urs Engeler, mit CD, das andere bei Droschl) und bietet hier "Einige traktierte Vokabeln" aus einem Zyklus, der "Übungen im Ertrinken" heißt. Ihre Texte sind hochpoetische "Ausritte aus den Feldern der Bedeutung". Eines der Motti von Kempker lautet: "Das Wissen schließen. Das Nichtwissen öffnen." Das gelingt ihren Texten - und vielleicht einem Dutzend anderer. Wir wollten halt, daß es noch mehr wären, aber das wäre vermutlich vermessen. Wichtig und höchst anregend für alle Lyrikleser ist das Jahrbuch wieder auf jeden Fall.