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Jahresreport
Angriffe auf Künstler nehmen weltweit zu

Entführungen, Mordanschläge, Auftrittsverbote - der Freemuse-Report verzeichnet 2016 über 1.000 Attacken auf Künstler in 78 Ländern. Damit hat sich die Zahl der registrierten Fälle verdoppelt. Die internationale Nichtregierungsorganisation setzt sich für das Recht auf freie Meinungsäußerung für Musiker und Musikerinnen in aller Welt ein.

Von Jochen Stöckmann | 12.02.2017
    Trauernde Angehörige und Freunde des Sufi-Sänger Amjad Sabri. Er wurde im Juni 2016 in Karachi/Pakistan von einem Unbekannten ermordet.
    Trauernde Angehörige und Freunde des Sufi-Sänger Amjad Sabri. Er wurde im Juni 2016 in Karachi/Pakistan von einem Unbekannten ermordet. Freemuse berichtet in ihrem Report über den Fall. (picture alliance / dpa / Shahzaib Akber)
    Mit Musik, mit dem Kampf um Meinungsfreiheit für Musiker hat die Nichtregierungsorganisation Freemuse 1998 angefangen. Und Musik steht heute noch an erster Stelle in der traurigen Statistik über weltweite Angriffe und Zensurversuche gegenüber allen Arten von Kunst:
    "Sie hat Breitenwirkung, Diktaturen fürchten Musik mit ihrer starken Botschaft. Selbst wenn sie nicht direkt politisch ist, kann Musik die Stimmung der Gesellschaft ändern. Und Rap etwa kommt von der Straße, von denen, die am Rande leben - und durch Musik ihre Stimme erheben."
    Diktaturen fürchten Musik mit ihrer starken Botschaft
    Magnus Ag, Freemuse-Programmdirektor, betreut weltweit Rapper, Performancekünstler oder renommierte Maler. Ob high oder low art – was Kunst ist, darüber will freemuse nicht urteilen. Aber wenn Künstler attackiert, ihre Arbeiten zensiert werden, dann untersuchen Ag und seine Kollegen jeden Einzelfall, recherchieren die politischen Hintergründe.
    Etwa die Entführung und Folterung von Silvanos Mudzvova, der in Zimbabwe mit einer Kunstaktion das korrupte Regime des Diktators Mugabe kritisiert hatte:
    "Wir haben keine Zweifel: das war der Geheimdienst, keine Straßenkriminalität. Es war 2016 der verabscheuungswürdigste Versuch, einen Künstler zum Schweigen zu bringen. Aus politischen Gründen, aber im Zusammenhang mit seiner Kunst."

    Mudzvova wurde mit Hilfe einer Partnerorganisation außer Landes gebracht, in Sicherheit, vorläufig. Oft hilft auch "stille Diplomatie", die Zusammenarbeit mit Politikern hinter den Kulissen. Oder die Kooperation mit amnesty international wie im Fall der Brüder Rajabian. Sie wurden im Iran in eines der schlimmsten Gefängnisse geworfen, weil ihre Musik als Propaganda gegen den Staat und die islamische Religion gilt.
    Report soll Druck auf Regierungen erhöhen
    Ihre Geschichte ist en detail nachzulesen. Jeder Einzelfall zählt, der Jahresreport ist mehr als nur eine Statistik:

    "Das ist der öffentlichkeitswirksame Schlüssel um politisch Druck auszuüben gegenüber Regierungen: Sie stehen schlecht da vor den Vereinten Nationen, können wir helfen?"

    Auch dieser Optimismus, fast schon eine Art Galgenhumor hilft manchmal weiter. Vor allem, wenn Magnus Ag über Entwicklungen berichtet, die sich hinter den Zahlen abspielen, die Dunkelziffern bleiben: Die zunehmende Selbstzensur etwa, vor allem nach den sogenannten Shitstorms in den sozialen Medien – Todesdrohungen inklusive.
    Sorge um Musiker in Ägypten und Nigeria
    Oder besorgniserregende Nachrichten aus Ägypten, wo Musiker von ihren Gewerkschaften ausgeschlossen werden, was faktisch einem Auftrittsverbot gleichkommt. Ähnliches passiert auch in Nigeria:
    "Gewerkschaften, die doch Künstler schützen sollten, beschneiden deren Freiheiten. In einem Video hat Rahama Sadau hat ihren Partner umarmt, die Schauspielerin wurde wegen "unmoralischem Verhalten" ausgeschlossen. Der männliche Kollege durfte bleiben. Diese Voreingenommenheit gegen Frauen als Künstler wächst."

    Daneben zeichnet sich für Magnus Ag eine weitere Tendenz ab: "Ich bin beunruhigt angesichts der Zunahme des Rechtspopulismus und dessen engstirnigen Vorstellungen über die einzig richtige Art zu leben. Künstler dagegen zeigen oft Alternativen. Und damit sind sie in Gefahr, werden bedroht von jenen, die keine andere Weltsicht mehr zulassen."
    Freemuse-Report ist eine Art Grundrechtebarometer
    Diese Entwicklung ist mit Zahlen nicht zu erfassen, noch nicht. Deutlich sichtbar in der Statistik ist dagegen, dass die Türkei bei den Inhaftierungen von Künstlern mit elf Fällen gleich hinter Iran und China rangiert. Aber auch hier tritt die politische Bedeutung erst bei näherer Betrachtung zutage:
    "Die Türkei 2016, da gab es einen Umschwung. Schon seit Jahren wurden Künstler unterdrückt, aber seit dem Putsch werden sie gezielt und massiv angegriffen. Wenn wir in zehn Jahren zurückschauen – dann war das vermutlich ein Wendepunkt."

    Diese Zäsuren, diese Umschläge einer nach 1989 plötzlich oder wohl nur scheinbar so freiheitlichen Weltordnung in autoritäre Regimes lassen sich ablesen am Jahresreport von freemuse. Es ist eine Art Demokratie- und Grundrechte-Barometer – und warnt vor ausgedehnten Tiefdruckgebieten, ja: vor Unwettern.