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Jahrestag des Germanwings-Absturzes
"Wer zu allem entschlossen ist, schaltet auch eine Stewardess im Cockpit aus"

Der Luftfahrtexperte Elmar Giemulla geht davon aus, dass sich ein bewusst herbeigeführter Flugzeugabsturz wie beim Germanwingsflug vor einem Jahr wiederholen könnte. "So was wird nie ganz ausgeschlossen werden können", sagte er im DLF. Die Schlupflöcher seien zu groß. Die Regelung, dass sich zwei Personen im Cockpit aufhalten müssen, sehe er kritisch.

Elmar Giemulla im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 24.03.2016
    Elmar Maria Giemulla, Jurist und Experte für Luftverkehrsrecht am 07.03.2016 in Hamburg bei einer Buchvorstellung.
    Elmar Maria Giemulla, Jurist und Experte für Luftverkehrsrecht am 07.03.2016 in Hamburg bei einer Buchvorstellung. (picture alliance / dpa / Lukas Schulze)
    Es gebe sehr viele kurz Flüge. Wenn die Piloten dann einen Turnaround machten, also nach dem Hinflug sehr schnell den Rückflug wieder antreten, könnten sie erst zur Toilette gehen, wenn das Flugzeug die Reisehöhe erreicht hätte. Er könne sich nicht vorstellen, dass da wirklich eine Stewardess ins Cockpit gehe, um den Piloten zu ersetzen, sagte der Luftfahrtexperte. Wenn jemand da zu allem entschlossen sei, würde er auch die Stewardess ausschalten, ergänzte Elmar Giemulla.
    Die Zwei-Personen-im-Cockpit-Regelung halte er für kritsch, weil sie das Grundvertrauen zerstöre. Passagiere würden bei einem Flug ihr Leben komplett in den Händen von zwei Personen vorne im Cockpit legen. Wenn aber sogar der Arbeitgeber, die Lufthansa, sage, "den beiden vertraue ich auch nicht", dann werde dieses Vertrauen ausgehebelt.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Dirk-Oliver Heckmann: Heute vor genau einem Jahr nahm die Katastrophe ihren Lauf. Der Pilot der Germanwings-Maschine, die auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf war, verließ das Steuer, um auf die Toilette zu gehen. Copilot Andreas Lubitz verschloss daraufhin das Cockpit und ließ die Passagiermaschine zum Absturz bringen, so die Ermittler. Auf das verzweifelte Klopfen und rufen reagierte er nicht. Alle Insassen starben, darunter 16 Schüler und zwei Lehrerinnen eines Gymnasiums im nordrhein-westfälischen Haltern. Heute kommen Angehörige an dem Ort zusammen, an dem das Flugzeug auf dem Boden zerschellte: im französischen Le Vernet. Es wird ein schwerer Gang für alle Beteiligten.
    Was hat sich seitdem eigentlich geändert bei der Flugsicherheit und wie ist der Stand der Entschädigung der Angehörigen, die für ihr Leben gezeichnet sind?
    - Darüber können wir jetzt sprechen mit Professor Elmar Giemulla. Er ist Experte für Luftverkehrsrecht an der TU Berlin, gehört zu den gefragtesten Sachverständigen auf dem Gebiet, ist Präsident des Bundesverbands für Luftsicherheit und vertritt einen großen Teil der Angehörigen auch als Anwalt. Guten Morgen, Herr Giemulla.
    Elmar Giemulla: Guten Morgen.
    Heckmann: Gehen wir zunächst mal auf die Frage der Sicherheit ein. Was hat sich seit dem schrecklichen Germanwings-Ereignis auf dem Gebiet der Flugsicherheit getan? Ist jetzt ausgeschlossen, dass sich ein ähnlicher Fall wiederholt?
    Giemulla: So was wird nie ganz ausgeschlossen werden können, weil die Schlupflöcher doch so sind, dass man sie nur dann verstopfen könnte, wenn man die ganze Luftfahrt praktisch stranguliert. Es hat sich allerdings ein bisschen natürlich was getan, zumindest Überlegungen. Der Verkehrsminister hat ja unmittelbar nach der Katastrophe eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die allerdings mehr industriegetrieben ist. Die Hinterbliebenen haben dort keine Stimme, sind dort nicht präsent, werden nicht eingebunden. Das wäre wichtig gewesen, weil sie ja die ersten Betroffenen und die am heftigsten Betroffenen sind. Diese Arbeitsgruppe hat verschiedene Dinge ausgearbeitet, die wohl auch umgesetzt werden sollen in der Weise, dass sie auf europäischer Ebene diskutiert werden sollen beziehungsweise auch schon diskutiert werden. Dazu gehört natürlich das berühmte Vier-Augen-Prinzip. Dazu gehört die Frage, kann die Cockpit-Tür so verschlusssicher gehalten werden, dass selbst der Kapitän nicht mehr reinkommt, und andere Fragen.
    Heckmann: Die meisten Fluggesellschaften haben ja diese Regel eingeführt, dass jetzt immer zwei Personen im Cockpit sich aufzuhalten haben, damit nicht nur eine Person sich dort im Cockpit aufhält und dann die Tür verrammelt, wie offenbar geschehen. Denken Sie denn, dass das in der Praxis eingehalten werden wird?
    Giemulla: Ich kann es nur hoffen, je nachdem wie weit und wie intensiv die Weisungen des Arbeitgebers natürlich sind, wieweit das auch sozial überwacht wird von den Kollegen selbstverständlich. Ich kann es mir deswegen doch nicht so richtig vorstellen, weil wir ja von vielen sehr kurzen Flügen reden. Auch der Flug, um den es hier ging, war ja ein relativ kurzer Flug. Die Organisation von Flügen ist mittlerweile so eng gestrickt, muss man sehen, dass die Piloten, wenn sie eine Zwischenlandung machen, einen sogenannten Turnaround machen, sich wieder auf den Rückflug vorbereiten. Mit anderen Worten, dass sie nicht mal dann die Zeit haben, zur Toilette zu gehen. Das heißt, die Chance, zur Toilette zu gehen zum ersten Mal nach der Landung, ist, wenn sie wieder auf dem Rückflug die Reiseflughöhe erreicht haben. Und das ist genau der Zeitpunkt, wo dann auch die Kabinenbesatzung mit dem Bordservice anfängt. Das heißt, wenn ausgerechnet in der Zeit, wo die Kabinenbesatzung hoch beschäftigt ist, die Piloten nacheinander zur Toilette gehen, dann den Service unterbrechen müssen: Die ganzen operativen Angelegenheiten geraten dann in Schwierigkeiten und durcheinander. Deswegen kann ich mir nicht so richtig vorstellen, dass in einem Notbedürfnis sozusagen eine Stewardess ins Cockpit geht und den Kapitän ersetzt.
    Heckmann: Die Flugvereinigung Cockpit - das ist ja die Vereinigung, in der die Piloten organisiert sind -, die sagt auch, diese Zwei-Personen-Regel, die sollte besser wieder abgeschafft werden. Kann eine zweite Person, vielleicht eine Flugbegleiterin, wie Sie es gerade sagten, überhaupt wirklich eingreifen, wenn ein psychisch Kranker oder ein Mensch mit bösen Absichten zu allem entschlossen ist?
    Giemulla: Wenn er zu allem entschlossen ist, mit Sicherheit nicht, denn wenn er zu allem entschlossen ist, würde er auch die Stewardess ausschalten. Im Zweifel ist er physisch stärker als sie, oder hat sich natürlich vorbereitet, ist irgendwie bewaffnet. Darum ginge es wahrscheinlich nicht in erster Linie, ein zu allem entschlossener Pilot, sondern jemand, der sozusagen auf der Kippe ist, soll ich mich entscheiden ja oder nein. Und da mag natürlich die Präsenz einer anderen Person ihn davon abhalten. Trotzdem halte ich diese Vier-Augen-Regelung für kritisch. Und zwar deswegen, weil sie das Grundprinzip der Luftfahrt - und das ist das Vertrauen - stört beziehungsweise aus den Angeln hebt. Wir müssen ja sehen: Wenn wir uns ins Flugzeug begeben als normale Passagiere, dann die Leute sehen, die uns dort begrüßen, das sind genau die Leute, die beiden Leute im Cockpit, denen wir unser Leben anvertrauen. Das heißt, die Situation im Flugzeug ist eine sehr außergewöhnliche Situation, die ja mit sonstigen Lebenssituationen gar nicht zu vergleichen ist. In dieser Situation vertrauen wir unser Leben für die nächsten ein, zwei, drei Stunden komplett zwei Personen dort vorne an. Wir sind völlig wehrlos, wie ja auch dieser Fall dramatisch belegt hat, wenn die eben nicht funktionieren, weil wir nichts dagegen tun können. Wir können nicht eingreifen, wir können uns nicht wehren. Eine Notwehrhandlung, die ansonsten uns eventuell schützen könnte in einer anderen Situation, ist nicht möglich. Wir können nicht mal weglaufen. Das heißt, wir sind diesen beiden Menschen komplett ausgeliefert. Und das funktioniert nur deswegen, weil wir diesen beiden Menschen blind vertrauen. Wenn das Vertrauensprinzip jetzt aufgelöst wird dadurch, dass selbst der Arbeitgeber, die Lufthansa, uns als Passagieren belegt, den beiden da vorne traue ich selber nicht ganz, deswegen muss einer ersetzt werden, wenn er rausgeht, dann könnte das Ganze sehr sensible Räderwerk der Luftfahrt anfangen zu erodieren.
    Heckmann: Herr Giemulla, laut Staatsanwaltschaft litt Andreas Lubitz, der Co-Pilot, unter schweren Depressionen. Er informierte sich demnach im Internet auch über Suizidmöglichkeiten. Vor dem Absturz soll er zahlreiche Ärzte aufgesucht haben. Keiner von ihnen soll die Behörden oder die Lufthansa informiert haben. Muss das Arztgeheimnis in Deutschland gelockert werden?
    Giemulla: Es muss zumindest in diesen sensiblen Berufen gelockert werden, allerdings nicht für den Preis, dass dann keiner mehr zum Arzt geht. Denn man muss ja sehen, dass Menschen, die sich anvertrauen, auch darauf vertrauen müssen, dass derjenige, dem sie sich anvertrauen, nicht gleich irgendwo hingeht und das Ganze an die große Glocke hängt. Und dass dann die Folge ist, dass ich meinen Beruf los bin. Dann geht keiner mehr zum Arzt. Und dann wäre es sehr wahrscheinlich, dass viele Leute, die sich in kritischen Situationen befinden, vielleicht nicht so extrem wie dieser Co-Pilot hier, dass viele Piloten sich dann einem Arzt erst gar nicht mehr anvertrauen. Und dass dann sie auch keine Heilungschance haben und eine viel größere Gefährdung in der Menge zumindest darstellen, als wenn es umgekehrt wäre. Man muss - und so hat es ja auch der Untersuchungsbericht vorgeschlagen - sich hier Lösungen überlegen, die dem Piloten oder generell einem psychisch Kranken den Schritt erleichtern in der Weise, dass ihnen dann ein anderer Job angeboten wird im Unternehmen, der gleich bezahlt wird. Sodass sie, wenn sie sich einem Arzt anvertrauen, damit rechnen müssen, dass er diese Informationen weitergibt, dass sie nicht in ein soziales Loch hineinfallen. Dass sie sicher sein können, dass sie weiterhin aufgefangen sind. Das ist ganz wichtig und das muss man überlegen.
    Heckmann: Wir haben jetzt noch ein Minütchen Zeit, Herr Giemulla. Sie vertreten ja eine große Gruppe von Angehörigen der Germanwings-Opfer und hatten angekündigt, in den USA Klagen einzureichen. Finden Sie, dass Lufthansa beziehungsweise Germanwings zu günstig davongekommen sind bisher?
    Giemulla: Sie haben sich, was die finanziellen Ausgleiche anlangt, ganz korrekt verhalten nach deutschem Recht, was hier anwendbar ist. Wir sagen allerdings, dass die Folgen der Katastrophe ja nicht darin bestehen, dass Beerdigungskosten übernommen werden, sondern die eigentlichen Folgen der Katastrophe bestehen in völlig anderen Dingen, nämlich dass die Familien zerstört worden sind, dass nicht nur physisch das Leben der Kinder beispielsweise zerstört worden ist, sondern auch im übertragenen Sinne die Familien und das Leben der Angehörigen. Hierfür sieht das deutsche Recht nichts vor, keine einzige Entschädigung. Das soll geändert werden, aber das nutzt uns noch nichts. Lufthansa hat 10.000 Euro angeboten und sich dann noch als großzügig empfunden und das auch so nach außen kommuniziert. Das halten wir nicht für eine angemessene Reaktion auf eine Katastrophe dieser Dimension. Man kann sich in solchen Situationen nicht nur nach den Buchstaben des Rechts richten; man muss einfach zeigen, dass man begreift was hier geschehen ist. Da glauben wir, dass wir in Amerika besseres Gehör finden.
    Heckmann: Professor Elmar Giemulla war das live hier im Deutschlandfunk, Experte für Luftverkehrsrecht an der TU Berlin. Er vertritt außerdem einen großen Teil der Angehörigen der Germanwings-Katastrophe als Anwalt. Herr Giemulla, danke Ihnen für Ihre Zeit.
    Giemulla: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.