Samstag, 20. April 2024

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Jahrestag des türkischen Putschversuches
"Schwierige Zeiten für Erdogan"

Ein Jahr nach dem Putschversuch befindet sich die Türkei zwar weiter im Ausnahmezustand, das Land sei aber immer noch eine parlamentarische Demokratie, sagte der Politologe Hüseyin Bagci im Dlf. Zuletzt habe der Protestmarsch von Ankara nach Istanbul gezeigt, dass sich oppositionelle Kräfte noch mobilisieren lassen.

Hüseyin Bagci im Gespräch mit Martin Zagatta | 15.07.2017
    Der Vorsitzende der türkischen Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, läuft in der Mitte einer Menschenmenge die letzten Meter des von ihm initierten Protestmarsches von Ankara nach Istanbul.
    Der Protestzug der Oppositionspartei CHP erreichte vergangene Woche Istanbul. Für Hüseyin Bagci war der "lange Marsch" ein Zeichen dafür, dass sich oppositionelle Kräfte in der Türkei noch sammeln können. (imago / Taner Yener)
    Martin Zagatta: Mit der Türkei beschäftigen wir uns heute Morgen, auf den Tag genau ein Jahr liegt der Putschversuch nun zurück, bei dem damals fast 250 Menschen getötet worden sind, mehr als 50.000 hat das Regime von Präsident Erdogan seither festnehmen lassen und weit mehr als 150.000 öffentliche Bedienstete wurden inzwischen entlassen oder suspendiert. Hüseyin Bagci ist Politikwissenschaftler an der Universität in Ankara, guten Morgen, Herr Bagci!
    Hüseyin Bagci: Guten Morgen!
    Zagatta: Herr Bagci, in der Türkei sind jetzt noch einmal mehr als 7.000 Staatsbedienstete entlassen worden, heißt es, im Vorfeld dieses Jahrestages, Verhaftungen, Entlassungen von Menschen, die man für politische Gegner hält, die Opposition nahezu mundtot gemacht, Journalisten im Gefängnis. Hat Präsident Erdogan im Wesentlichen schon erreicht, was er wollte?
    Bagci: Ich denke erst mal, der gescheiterte Putschversuch hat die ganze Psychologie der Türkei, politisch, gesellschaftlich, sozial und wirtschaftlich, verändert. Die Türkei befindet sich natürlich in einer sehr schwierigen Lage, indem man ein innenpolitisches Problem auch jetzt hat, was noch Jahre dauern wird, bis es überhaupt gelöst wird. Was sich seit einem Jahr entwickelt und passiert ist, dass wir in der Türkei einen Ausnahmezustand haben.
    Und der Ausnahmezustand ist natürlich kein demokratischer Zustand, in dem Präsident Erdogan versucht hat, die Fethullah-Gülen-Bewegung-Leute sowie mögliche andere politische Opponenten aus dem Fenster rauszuschmeißen, wenn man so will, von der Politik. Ob er das erreicht hat, was er wollte, ist eine offene Frage. Denn das Problem dauert ja noch an und es wird noch mindestens, würde ich sagen, noch ein Jahrzehnt dauern. Es ist eine soziale Wunde, ein soziales Problem, und das wird für die Türkei solche Schwierigkeiten bringen auf lange Sicht, dass wir vielleicht nicht mehr voraussehen können.
    "Mehr als 100.000 Leute suspendiert oder rausgeschmissen"
    Zagatta: Was befürchten Sie denn da jetzt noch?
    Bagci: Erst mal, die gesellschaftliche Spaltung läuft weiterhin. Die Rhetorik ist sehr stark und bedrohend. Und auch die Institutionen, juristischen Institutionen können nicht so effektiv funktionieren wie vorher. Und viel sagt man, dass mehr als 100.000 Leute sind entweder suspendiert oder rausgeschmissen und es gibt da sehr viele Tragödien, die wir auch kennen von Freunden, von Akademikern, von anderen Leuten. Aber was auch immer es ist, die Tatsache ist, dass die Türkei einen Putschversuch erlebt hat. Und das hat, wie gesagt, auch die politische Landschaft sehr stark verändert, auch viele Politiker, die zum Beispiel als Fethullah-Gülenisten gelten oder gelten sollten, wir sind immer noch auf dem Parkett, wenn Sie wollen, und das ist einer von den größten Kritikpunkten, dass diejenigen Leute, die darunter sind, beschuldigt werden, aber keine Politiker, die erlaubt haben, dass diese Bewegung sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat. Und der Präsident hat sich ja voriges Jahr entschuldigt vor Gott und vor dem Volk. Aber das ist natürlich nicht, dieses Problem zu lösen.
    "Ein großer Teil dieser Problematik liegt bei der Gülen-Bewegung"
    Zagatta: Ist das denn für Sie klar, dass die Gülen-Bewegung hinter diesem Putsch steckt?
    Bagci: Das kann ich natürlich nicht beweisen, das weiß ich nicht. Aber die Tatsache ist natürlich, dass die Fethullah-Gülen-Bewegung jetzt eine offene Konfrontation eingeht, wie wir in den letzten Tagen sehen, dass sie auch dahinter stehen. Zumindest kenne ich auch viele Leute von der Politik, von der Gesellschaft und von den Universitäten, die sich mit dieser Bewegung einfach eingelassen haben und die doch eine Gesellschaftsordnung schaffen wollten, was natürlich die demokratische Türkei nicht ist.
    Deswegen, ein großer Teil dieser Problematik liegt natürlich bei dieser Bewegung. Und die lehnen das auch nicht ab. Weil, beide Seiten haben ja seit Jahren daran gearbeitet, das ist kein ideologischer Kampf zwischen Linken und Rechten, wie wir es im klassischen Sinne immer gehabt haben, sondern das ist ein Putschversuch von einer islamisch orientierten, ideologischen Bewegung, die die Staatsmacht erringen wollte. Und Tayyip Erdogan war ja von Anfang an gegen den Staat, als er in der Opposition war, jetzt ist er Staat geworden und deswegen möchte er natürlich die Macht nicht teilen. Es ist eine Machtteilungsfrage.
    "Erdogan hat natürlich sehr viel Macht und er benutzt die"
    Zagatta: Herr Bagci, können Sie denn unter diesen Umständen, wenn man hört, viele Ihrer Kollegen sind entlassen worden, Pressefreiheit ist eingeschränkt, viele Menschen ins Gefängnis geworfen. Können Sie überhaupt noch frei reden? Das klingt im Moment so, wie Sie mit uns sprechen. Und gibt es noch eine nennenswerte Opposition in der Türkei?
    Bagci: Erst mal, ich rede natürlich ganz frei, klar, wie Sie sehen. Zweitens gibt es natürlich eine Opposition, die Türkei ist eine parlamentarische Demokratie weiterhin, als System. Natürlich mit einem politischen Zustand, dass wir in der Türkei Ausnahmezustand haben. Ausnahmezustand bedeutet in dem Sinne, dass der Präsident das Land per Dekret einfach regieren kann, und er hat natürlich sehr viel Macht und er benutzt die. Und voriges Jahr hat er ja öffentlich gesagt, dass es ein Geschenk Gottes sei, dieser Putschversuch. Und das hat natürlich auch genutzt, um die politische Opposition dementsprechend zu unterdrücken, wenn Sie wollen.
    Die Frage ist hier, wann dieser Ausnahmezustand aufgehoben wird. Er sagte auch vor ein paar Tagen, dass der Ausnahmezustand bis zum Ende des Jahres aufgehoben werden könnte. Aber wir wissen, dass Ende Juli der Ausnahmezustand weitere drei Monate verlängert wird, und in der Türkei gibt es eine Opposition natürlich, jetzt auch eine Gründung einer neuen Partei - wird der Fall sein im November, das ist eine politische Entwicklung - aber auch der lange Marsch vom Oppositionsführer Kilicdaroglu hat wieder gezeigt, dass in der Türkei die oppositionellen Kräfte doch sich sammeln können. Ich denke, Tayyip Erdogan, der Präsident, wird schwierige Zeiten vor sich haben als Präsident einerseits, aber auch als Parteivorsitzender auf der anderen Seite. Deswegen wird er noch mehr Arbeit haben, er wird noch stärkere Geschäfte bekommen, das wird für ihn eine große Belastung sein. Körperlich, intellektuell und natürlich politisch.
    Zagatta: Sagt Hüseyin Bagci, er ist Politikwissenschaftler an der Universität in Ankara, dort haben wir ihn auch erreicht. Herr Bagci, ich bedanke mich für dieses Gespräch heute Morgen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.