Dienstag, 19. März 2024

Archiv

James Gordon Farrell: "Singapur im Würgegriff"
Abgesang auf ein koloniales Weltreich

Im dritten Teil seiner Empire-Trilogie erzählt James Gordon Farrell von einer Handelsdynastie in Singapur, dem legendären Brennpunkt britischer Kolonialherrschaft. Nun wurde dieser faszinierende Roman, der 1978 erstmals erschien, endlich für den deutschen Markt entdeckt.

Von Eberhard Falcke | 28.05.2017
    Cover von James Gordon Farrells "Singapur im Würgegriff" vor dem Hintergrund einer Kriegszene von 1942: Britische Soldaten in Singapur in japanischer Kriegsgefangenschaft
    Cover von James Gordon Farrells "Singapur im Würgegriff" vor dem Hintergrund einer Kriegszene von 1942: Britische Soldaten in Singapur in japanischer Kriegsgefangenschaft (dpa / UPPA)
    Auch der Kolonialismus besitzt seine mythologischen Landschaften. Zu den Plätzen, denen dieser Rang ganz gewiss zukommt, gehört Singapur, die Stadt an der Südspitze der malaiischen Halbinsel. Und da diese Stadt, wie andere imperiale Macht- und Handelszentren auch, in ihrer Umgebung eine ganz eigene Welt darstellte, kann ein Roman, der ihre Geschichte beschreibt, auch ohne weiteres mit dem Schöpfungsakt beginnen, durch den diese einst britische Enklave begründet wurde.
    "Die Stadt Singapur entstand nicht, wie Städte sonst meist, allmählich. Sie wurde schlicht und einfach erfunden, eines Morgens im frühen neunzehnten Jahrhundert, von einem Mann, der auf eine Landkarte blickte. 'Hier', sagte er sich, 'brauchen wir eine Stadt, auf halbem Wege zwischen Indien und China.' Der Name dieses Mannes war Sir Thomas Stamford Raffles. 'Uns geht es', schrieb er an einen Freund, 'nicht um Land, sondern um Handel: einen Dreh- und Angelpunkt, von dem aus wir auch politischen Einfluss ausüben können.'" (S. 11)
    Bild von den Glanzzeiten Singapurs
    Doch anders als es dieser Anfang verheißen könnte, erzählt James Gordon Farrell in seinem Roman nicht vom Aufstieg sondern vom Untergang des legendären Brennpunktes britischer Kolonialherrschaft. Darüber jedenfalls lässt bereits der deutsche Titel, zu dem noch einiges zu sagen sein wird, keinen Zweifel: "Singapur im Würgegriff". Doch obwohl die Zeichen des Untergangs bei Beginn der Romanhandlung schon am Horizont sichtbar werden, versteht es Farrell dennoch, zunächst ein Bild von den Glanzzeiten Singapurs heraufzubeschwören, als wären deren Tage noch lange nicht gezählt.
    So lernen wir Walter Blackett, einen der führenden Geschäftsmänner der Stadt im Vollgefühl seiner Macht kennen. Gegen Ende der 30er-Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sind die Blacketts im Begriff, sich von einer wohlhabenden Familie in eine Handelsdynastie zu verwandeln. Dahin gehen jedenfalls die ehrgeizigen Träume von Walter, dem Familienoberhaupt und Miteigentümer der Firma Blackett & Webb, die beim Handel mit Reis, Zinn und Kautschuk in der Region zu den ersten Adressen gehört. Walter strotzt vor Zuversicht und Selbstvertrauen, dass er die Bewegungen des Marktes beherrschen und alle Schwierigkeiten meistern kann.
    Anders als seine besorgte Gattin durchschaut er bald, dass die eigensinnige Tochter Joan bestimmt nicht auf einen Taugenichts oder Erbschleicher hereinfallen wird, weil es ihr schlechterdings nur gefällt, Männerköpfe zu verdrehen, wann immer sich ein geeignetes Opfer findet. Wer ihm tatsächlich einige Probleme bereitet, ist Walters Sohn Monty, dessen Fähigkeiten sich darauf beschränken als Sprössling aus reichem Hause zu renommieren. Der hat bestimmt nicht das Zeug, die Erfolgsgeschichte seines Vaters fortzusetzen, über die Walter vor Besuchern gerne beim Abschreiten der Bildergalerie in seiner prächtigen Kolonialvilla doziert.
    "So ist das, mein Junge - ist das etwa keine Leistung, auf die wir stolz sein können? Diesen unendlichen Weiten des Erdballs, den stickigen Sümpfen, dem entsetzlichen Dschungel hat eine Handvoll fest entschlossener Pioniere den Stempel des Fortschritts aufgedrückt und ist, das will ich nicht leugnen, reich dabei geworden. Aber vor allem haben sie Millionen von unglückseligen Asiaten Brot und Arbeit gegeben, Menschen, die nichts als Elend und Armut kannten ..." (S. 220)
    Walter Blackett ist in diesem Roman nur das erste von zahlreichen weiteren Beispielen für die große Kunst der Personenzeichnung des Schriftstellers James Gordon Farrell. Denn diesem gelingt hier eine brillante erzählerische Gratwanderung: Er erlaubt es seinem Kolonialgeschäftsmann sich selbst und den britischen Imperialismus so einnehmend zu feiern, dass man als Leser schon fast geneigt ist, dem Charme dieses Gentleman zu erliegen. Zugleich zeichnet Farrell jedoch im Verlauf der Handlung unübersehbar jene scharfkantigen, brutal pragmatischen Züge in Walter Blacketts Charakterporträt ein, die diesen zum perfekten Repräsentanten kolonialistischer Machtentfaltung und Ausbeuterei machen: Janusköpfig zeigt er einerseits die Miene weltläufiger Kultiviertheit, andererseits aber lässt er keinen Zweifel daran, dass ihm der Geschäftsgeist über alles geht. Diese Doppelnatur hat Farrell in ein humorvolles Bild gefasst: Wenn nämlich Walter Blackett in den Kampfmodus wechselt, dann sträuben sich die Haare auf seinem Rücken wie die Borsten eines Ebers und am Homo oeconomicus kommt das wilde Tier zum Vorschein.
    Die Empire-Trilogie von James Gordon Farrell
    Überhaupt war der zwiespältige Charakter des britischen Kolonialismus im Werk von James Gordon Farrell das zentrale Thema. Geboren wurde er 1935 als Sohn eines Engländers und einer Irin in Liverpool, später zog die Familie nach Dublin. Nachdem er sich in den 60er-Jahren in drei Romanen an völlig verschiedenen Themen mit eher mäßigem Erfolg erprobt hatte, erschien 1970 der erste Roman seines Hauptwerkes, der "Empire Trilogie". In einem Gespräch mit dem "Observer Magazine" bekannte Farrell später einmal:
    "Das wirklich Interessante, was zu meinen Lebzeiten geschehen ist, war der Niedergang des britischen Weltreichs."
    Diesen Niedergang beleuchtete er mit seiner Trilogie, die nun im Verlag Matthes & Seitz Berlin erstmals auf deutsch vorliegt, in drei verschiedenen historischen Momenten. In "Troubles", dem ersten Roman, spiegelt sich im Jahr 1919 die bevorstehende Teilung Irlands und die Abspaltung des Irischen Freistaats vom Vereinigten Königreich in den Krisen und Konflikten einer von Gegensätzen zerrissenen irischen Hotelbesitzerfamilie.
    Der zweite Roman hingegen, der 1973 erschien, vollzog einen großen Sprung in ganz andere Sphären. Hier geht es unter dem Titel "Die Belagerung von Krishnapur" um den indischen Aufstand von 1857, der sich in vielen Teilen des Landes gegen die Herrschaft der Britischen Ostindien-Kompanie richtete. Vor diesem Hintergrund zeigt Farrell mit satirischen Zuspitzungen, wie die Angehörigen der britischen Kolonialgesellschaft unter den Bedingungen der Belagerung mit ihren eigenen Illusionen und Widersprüchen konfrontiert werden. Was die drei Romane verbindet, ist nicht ein gemeinsamer Handlungsfaden, sondern der ebenso anteilnehmende wie kritisch analysierende Blick, mit dem der Erzähler das gesellschaftliche Leben der Kolonialherren unter die Lupe nimmt.
    Höhepunkt und Bedrohung
    Nun mit "Singapur im Würgegriff", der erstmals 1978 herauskam, ist die Romanhandlung dem endgültigen Untergang des britischen Kolonialreichs noch entscheidend näher gerückt. Walter Blackett allerdings, der große Handelsherr will davon vorerst nichts wissen. Schließlich steht das fünfzigjährige Jubiläum von Blackett & Webb bevor und die Feiern desselben sollen am Neujahrstag 1942 mit einem Festumzug unter dem Motto "Beständigkeit im Wohlstand" ihren grandiosen Abschluss finden. Als frühen Auftakt dazu laden die Blacketts im September 1940 zu einer luxuriösen Gartenparty auf ihrem weitläufigen Anwesen ein. Für den Erzähler James Gordon Farrell wird dieses Ereignis zum Anlass für eines seiner wunderbaren Kabinettstücke spannungsreicher Gesellschaftsschilderung. Zugleich jedoch benutzt er den bunten Auftrieb der kolonialen Hautevolee, um die ersten Vorzeichen kommenden Unheils sichtbar zu machen.
    Dass die biestige Tochter des Hauses ihrem Verehrer, dem amerikanischen Militärattaché Captain Ehrendorf, aus einer Laune heraus ein Glas Champagner ins Gesicht schüttet, ist noch das Wenigste. Peinlicher ist es den Spitzen der Geschäftswelt schon, dass man nun dröge Offiziere und Generäle einladen muss, nur weil ihre Bedeutung seit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Europa plötzlich spürbar gewachsen ist. Als aber Mr. Webb, der Gründer und Seniorpartner des Handelshauses Blackett & Webb, mitten im festlichen Trubel einen Schlaganfall erleidet und sich aufs Totenbett legt, kündigt sich nichts weniger an als das "Ende einer Epoche". Ganz zu schweigen von den zunehmenden Streiks unter den ausgebeuteten Plantagenarbeitern und dem expansiven Vordringen der Japaner als Militär- und Handelsmacht.
    "Aber auch ohne die Japaner hätte Walter den Eindruck gehabt, dass die Welt, die er kannte, zerfiel. Die Streiks des vergangenen Jahrzehnts hatten das Gesicht von Malaya vollkommen verändert. Und weiterhin gab es schwere Arbeitskämpfe. Im Dezember 1940 hatten zweieinhalbtausend Kautschukzapfer im Bezirk Bahau Rompin die Arbeit niedergelegt. Es war zu hässlichen Szenen gekommen, die Polizei hatte das Feuer eröffnet, drei Arbeiter waren ums Leben gekommen.
    Die alte Ordnung war tot, mausetot. Mit einem Seufzer stach Walter den Silberlöffel in den Pudding, der sich auf seinem Teller duckte, ein festes, gräuliches Gebilde aus Tapioka und Kokosnussmilch mit einem dünnen, dunklen Sirup darüber: Gula malacca! Wie dieser kühle Geschmack die Erinnerung an die alten Zeiten von Singapur aufleben ließ!" (S. 127)
    "The Singapore Grip"
    Die alten Zeiten jedoch sind endgültig vorbei, nicht gerade über Nacht, doch will es dem widerwillig den Tatsachen hinterherhinkenden Bewusstsein der Romanfiguren fast so erscheinen. Inzwischen steckt Singapur im Würgegriff, dem es nicht mehr entkommt. Darüber hinaus aber werden dem "Singapore Grip", der in der Originalfassung den Romantitel abgibt, im Roman noch etliche andere Bedeutungen zugeschrieben, darunter auch eine sehr rotlichtschillernde, wie Captain Ehrendorf herausfindet:
    "Dieser Ausdruck, der bezieht sich auf eine Fähigkeit, die gewisse Damen hier in Singapur sich angeeignet haben. Sie können gezielt ihre Vaginalmuskeln einsetzen, offenbar mit ausgesprochen angenehmem Resultat. Ich habe den Mädchen aus dem Poh Leung Kuk einen Dollar geboten, und da haben sie es mir verraten." (S. 704)
    Mit der Würgegriff-Metapher treibt Farrell ein ironisches, angesichts der dramatischen historischen Vorgänge auch durchaus frivoles Spiel. Wiederholt spekulieren verschiedene Romanfiguren darüber, was es mit diesem Würgegriff wohl auf sich haben mag: Ist es eine Art Fieber? Nein, wahrscheinlich ein spezieller Koffer aus Rattan! Eventuell handelt es sich aber auch um eine unternehmerische Strategie der straffen Geschäftsführung? Vielleicht überhaupt um das wirtschaftliche Auspressen der Kolonien? Oder sind es die ziemlich schamlosen Anstrengungen der Blacketts, den Sohn und Erben des verstorbenen Firmenpartners als Ehemann ihrer Tochter Joan in den Griff zu kriegen, damit Einfluss und Geld in der Familie bleiben? Am Ende jedoch wird sich zeigen, dass all diese kuriosen und burlesken Deutungsvarianten von einem großen bitteren Finale hinweggefegt werden. Dann nämlich, wenn die Japaner ihren Belagerungsring um die Stadt geschlossen und die Kronkolonie im Februar 1942 reif für die Kapitulation gebombt haben.
    Kritische Revision des britischen Kolonialismus
    James Gordon Farrell zieht ein großes, faszinierend vielgestaltiges Panorama über den Glanz und die Niederlage der britischen Herrschaft in Singapur auf. Sein Roman bietet ein höchst lebendiges Gesellschaftsbild, das durch trocken servierte satirische Akzente ebenso besticht wie durch prägnante Figurenzeichnung und vielfältige Szenen von den Höhen und Niederungen menschlichen Strebens. Daneben bleibt stets noch die andere grundlegende Intention präsent, auf die es ihm bei alledem mindestens ebenso sehr ankam: nämlich auf eine breit angelegte kritische Revision aller Verklärungen des britischen Kolonialismus. Als Matthew, der Sohn des verstorbenen Firmengründers von Blackett & Webb nach Singapur zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten, klärt ihn der junge Blackett sogleich darüber auf, was es beim Verkehr zwischen Rassen und Klassen unbedingt zu beachten gilt. Interkulturelle Intimitäten sind zwar beim Sex erlaubt, im bürgerlichen Leben aber ausgeschlossen.
    "In diesem Teil der Welt, Matthew, da ist es den Leuten gleich, mit wem man seinen Spaß hat, solange man es diskret tut, aber der Spaß hört auf, wenn einer die Klassen durcheinanderbringt." (S. 163)
    Matthew fungiert als eine der Schlüsselfiguren, wenn es um die Kolonialismuskritik geht. Obwohl er sich seine ersten Enttäuschungen über den Lauf der Welt als Angestellter des Völkerbundes in Genf eingehandelt hat, beschäftigt ihn nichts so sehr wie die Ideale der Gerechtigkeit. Daher lässt er sich nicht davon abhalten, entscheidende Fragen zu stellen, gleich ob Joan ihm gerade schöne Augen macht oder ihr Bruder ihm die nächtlichen Attraktionen der Freudenhäuser vorführt.
    "Die Reishändler haben Burma vollkommen zugrunde gerichtet! Die gesamte Kultur zerstört. Das Leben in den Dörfern - alles weg. Praktisch über Nacht kam ein Kampf alle gegen alle. Leute haben Land abgezäunt, das vorher Gemeinschaftsbesitz des Dorfes war - und von da ging es weiter. Sie haben aus den Burmesen heimatlose Saisonarbeiter gemacht, und mit den Dörfern verschwand alles, was am Leben mehr als bloßes Gerangel ums Geld gewesen war." (S. 242)
    Mag sein, dass in solchen Fällen aus den Romanfiguren auch der Autor selber spricht. Denn für Farrell war die Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte des Empire eine Aufgabe, die er mit kritischer Passion verfolgte. Als er 1973 den Booker Prize für seinen Roman "Die Belagerung von Krishnapur" entgegennahm, landete er einen mächtigen Seitenhieb gegen die ausbeuterischen Geschäftspraktiken der Preisstifterin, der Firma Booker-McConnell. Für die Niederschrift seines Romans hat er, wie die zugehörige Bibliographie zeigt, viel einschlägige Fachliteratur konsultiert. So finden sich zahlreiche Details zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Region ebenso wie zur Entwicklung des Reis- und Kautschukhandels, die den Roman sachlich fundieren, ohne den erzählerischen Duktus nennenswert zu beeinträchtigen.
    Churchill: "Das schlimmste Desaster der britischen Geschichte"
    Und als wäre das alles noch nicht genug an hochkarätigem Stoff wirft Farrell außerdem noch eindringliche Schlaglichter auf die Militär- und Kriegsgeschichte. Denn die Schlacht von Singapur, auf welche die Romanhandlung zuläuft, endete, wie Churchill beklagte, im "schlimmsten Desaster und der größten Kapitulation" der britischen Geschichte. Auch zu diesem Geschehen liefert Farrell eindringliche Szenen. Wobei die Schilderungen der Kriegshandlungen noch weit übertroffen werden durch die trotz aller Dramatik komischen Momentaufnahmen, mit denen der Erzähler die Überlegungen, Zweifel und Schreckensvorstellungen der britischen Militärführer in der Nacht vor dem japanischen Angriff festhält.
    "Wie mit der Axt gefällt lag Brooke-Popham auf seinem Bett. Manchmal murmelte er etwas oder nagte kurz am Schnurrbart. Hätte er doch nur früher gewusst, was die Japaner vorhatten! Die ganze letzte Woche über war der Himmel über dem südchinesischen Meer dicht bewölkt gewesen, doch dann hatte eine Hudson der R.A.F. eine Wolkenlücke über dem Meer entdeckt. Und durch diese Lücke hatten sie zuerst einen Konvoi mit drei japanischen Truppentransportern gesehen, dann einen weiteren mit zwanzig. Aber er und seine Leute fanden es schwer, das Ziel dieser Fahrt zu bestimmen." (S. 293f)
    Lange vermag niemand so recht daran zu glauben, mit welcher Entschlossenheit die Japaner Singapur in den Würgegriff nehmen werden. Umso beklemmender wirkt das allmähliche Heranrücken des Krieges, bis sich die Stadt unter den Angriffen japanischer Bomber jeden Tag mehr in einen von Not und Panik gezeichneten Kriegsschauplatz verwandelt. Da rücken nun mit Major Archer und dem Franzosen François Dupigny, den es aus Indochina hergeweht hat, wieder andere und nicht minder beeindruckende Figuren in den Mittelpunkt. Beide waren im Frieden skurrile Randfiguren, kleine Trabanten, die um den großen Handelsmann Walter Blackett kreisten. Jetzt aber organisieren sie die Brandbekämpfung und die Fürsorge für Flüchtlinge und zeigen einiges von jener Mitmenschlichkeit, die der Unternehmersohn Matthew so dringend herbeisehnt: der eine mit der steifen Freundlichkeit eines alten Hagestolzes, der andere mit dem lebensfrohen Zynismus eines Abenteurers.
    Allein für seine Kunst, eigenwillige Charaktere zu schaffen, möchte man dem Erzähler Farrell Kränze flechten. Und nicht wenige der Szenarien, in denen sie ihre Auftritte haben, sind unvergesslich. Gewiss, es gibt auch Strecken, bei denen schlichtweg solides Erzählhandwerk dominiert, ohne allerdings jemals zu langweilen. Immer wieder aber und im richtigen Rhythmus finden sich brillante erzählerische Höhepunkte ganz unterschiedlicher thematischer Genres: Gesellschaftsszenen, die mit hollywoodesken Srewball-Comedies mithalten können, Schilderungen von Kampfhandlungen, Liebesromanzen, tiefschürfende Welterklärungsdialoge oder Situationen, die im ikonischen Bild ein ganzes Drama verdichten. So zum Beispiel, wenn Walter Blackett im Dachgeschoss seines Kautschukspeichers über die brennende Stadt blickt und den eigenen Untergang erwartet. Manchen, die es wie die jungen Blacketts verstehen, sich durchzusetzen, gelingt es, sich aus dem endzeitlichen Chaos am Hafen auf das letzte Schiff mit dem Kurs auf neue Horizonte zu retten.
    "Wieder wurde der Suchscheinwerfer eingeschaltet und fuhr zittrig über die Menschenmenge am Kai. Einen Moment lang verweilte er bei einem Kran, der eben in einem Netz ein schweres Automobil an Bord hievte. Matthew starrte es ungläubig an: das war doch der Bentley, den Monty gefahren hatte! Wie war er damit an den Kai gekommen." (S. 696)
    Für andere schrumpft das Dasein nach der britischen Kapitulation auf einen elenden, von Stacheldraht umzäunten Flecken Erde zusammen.
    "In den Wochen, dann Monaten, dann Jahren, die nun folgten, zuerst in Changi, später im Zivillager an der Sime Road, merkte Matthew, wie klein seine Welt mit einem Mal geworden war. Er, der die großen Spekulationen gewohnt gewesen war, stellte nun fest, dass sein Verstand sich mit den kleinsten Dingen begnügen musste ... einem Glas Wasser, einem Bleistift, einer Handvoll Reis." (S. 804)
    Wiederentdeckung zur rechten Zeit
    Fragt sich nur, warum dieser thematisch so weit gespannte, großartig erzählte Roman nicht bereits bei seinem Erscheinen vor vierzig Jahren für den deutschen Markt entdeckt wurde. Dazu nur einige Vermutungen: Die Konkurrenz angelsächsischer Autoren von Weltrang war damals riesengroß; außerdem interessierte man sich mehr für Gegenwartsstoffe und innovative Schreibweisen. Hinzu kommt, dass James Gordon Farrell 1979, bevor sich sein Ruhm richtig ausbreiten konnte, ertrank, als er beim Angeln von einer Welle in die Keltische See vor Irland gezogen wurde.
    Andererseits kommt auch die verspätete Entdeckung auf ihre Art zur rechten Zeit. Denn sie passt ausgezeichnet zur gegenwärtigen Situation, in der historische Themen für die neueste Literatur so wichtig erscheinen wie kaum je zuvor. Und darüber hinaus bietet Farrells Roman für das florierende Interesse an postkolonialen Sichtweisen ein eminentes und frühes Beispiel. Ganz abgesehen davon, dass es kaum möglich ist, von diesem hochintelligent komponierten Abgesang auf eine Epoche nicht gefesselt zu sein.
    James Gordon Farrell: Singapur im Würgegriff
    Aus dem Englischen von Manfred Allié. Mit einem Nachwort von Derek Mahon
    Matthes & Seitz Berlin 2017. 830 Seiten, 30 Euro