Samstag, 20. April 2024

Archiv


James Joyces "Ulysses" ist Hörbuch des Jahres

Im Juni sendeten der SWR und der Deutschlandfunk eine insgesamt 18-teilige Hörspiel-Koproduktion von Joyces "Ulysses". Ein sehr dankbarer Stoff für eine musikalische Bearbeitung, sagt Literaturkritiker Helmut Böttiger, der auch in der Jury für das "Hörbuch des Jahres" sitzt.

Das Gespräch führte Burkhard Müller-Ullrich | 21.11.2012
    Burkhard Müller-Ullrich: Vor 158 Tagen war Bloomsday, und unsere treuen Hörer werden sich erinnern: Ich habe Ihnen schon damals gesagt, der große Radiorummel mit James Joyce und seinem "Ulysses" hält noch an, zum Jahresende kommt noch was. Zum Beispiel heute die Meldung, dass diese Produktion des Südwestfunks und des Deutschlandfunks als Hörbuch des Jahres ausgezeichnet wurde.

    O-Ton "Ulysses":

    Müller-Ullrich: Soweit eine kleine Kostprobe – 40 Sekunden von fast 24 Stunden Spieldauer, das Ganze ist auf 23 CDs für 99,99 Euro erhältlich – die preisgekrönte deutsche Produktion von James Joyces' "Ulysses" in der Regie von Klaus Buhlert. Einer der Juroren dieses Preises, der im nächsten März vergeben wird, ist der Literaturkritiker Helmut Böttiger. Herr Böttiger, der "Ulysses" gilt ja als das meist-ungelesene Stück Weltliteratur. Kann denn eine Hörfassung daran was ändern?

    Helmut Böttiger: Das ist etwas, was normalerweise als ganz schwer verständlich, schwer lesbar gilt, und dazu gehört auch die musikalische Dimension, die in diesem Stück tatsächlich drin ist. Das ist eigentlich ein einziger Klangteppich. Joyce hat da mehrere Kapitel gemacht, die eigentlich verschiedene Tonlagen darstellen, und wenn man das als Hörspiel inszeniert, hat man die Möglichkeit, diese verschiedenen Tonlagen darzustellen, und das ist eigentlich ein sehr dankbarer Stoff für eine musikalische Bearbeitung. Der Regisseur Buhlert ist ja einer, der sich mit Klang sehr beschäftigt, mit Musik sehr beschäftigt. Er hat das James Joyce Song Book auch aus dem Nachlass ausgewertet und verwandt. Also diese musikalische Dimension ist schon etwas Hochinteressantes. Und wenn man gelernt hat, dass es bei Literatur auch auf den Sound ankommt, dann ist das eine ideale Transferleistung vom literarischen Text zu diesem Hörspiel.

    Müller-Ullrich: Es ist ja eine Kunstanstrengung, bei der der Akzent auf beidem liegt, Kunst und Anstrengung. Ist diese abgedrehte Dimension, die in dem Unternehmen von Buhlert steckt, nicht vielleicht auch eine Art, Aufmerksamkeit zu erregen? Ist denn zum Beispiel, wenn es sich um ein Musikstück handeln würde, man würde es doch nicht 12 oder 24 oder noch mehr Stunden hören können?

    Böttiger: Ja also, das sind eigentlich verschiedene Hörspiele, die man auch getrennt voneinander hören kann. Joyce hat selber 18 Kapitel eingeteilt, die er sogar mit Anklängen für sich selber an die Odyssee dann auch angemerkt hat. Das kann man unabhängig voneinander hören. Aber diese rauschhafte Dimension, das hat ja sogar eine gewisse Konjunktur in den letzten Jahren, so Sessions, so Hörbuchnächte, dass man sich tatsächlich stundenlang irgend so einem Sog hingibt. Es wurde ja auch gesendet tatsächlich. Am Bloomsday dieses Jahres wurde es vom SWR, auch vom Deutschlandfunk in vielen Teilen gesendet. Also das hat natürlich so einen Festivitätscharakter, wenn man sich da mal wirklich in so eine Situation hineinversenkt, sich davon tragen lässt. Im Alltag würde es so sein, dass man das getrennt voneinander auch als einzelne Hörstücke hören kann, in der Küche oder im Auto oder sonst wo. Also man muss nicht diese ungeheuere Dimension sich in einem reinziehen.

    Müller-Ullrich: Man sollte Juroren so was nicht fragen, aber war es ein leichter Entscheid, oder gab es auch Bedenken?

    Böttiger: Dass das radiofon, auf jeden Fall das Interessanteste ist, das drängte sich ziemlich schnell auf, und es gibt natürlich in so einer Jury verschiedene Fraktionen, auch verschiedene Vorlieben. Es gab natürlich auch andere Unternehmen, die da stark diskutiert wurden. Man kann zum Beispiel sagen, ein anderer Entwurf von Hörbuch ist eine Art Archiv, wie es diese auch riesige Dokumentation "Erzählerstimmen" ist, wo O-Ton-Dokumente von 183 Autoren, deutschen Erzählern, verfügbar gemacht werden. Das ist das Hörbuch als Archivcharakter. Es gibt noch eine andere Möglichkeit: Ein kleiner Hörbuchverlag hat die gesammelten Gespräche mit Schriftstellern des Publizisten Heinz Ludwig Arnold verlegt, und zwar die ungeschnittenen Tonbänder. Das sind manchmal Gespräche mit Autoren wie Peter Handke oder Friedrich Dürrenmatt, Günter Grass, Enzensberger, die dauern fünf oder sechs Stunden, mit allen Nebengeräuschen, mit allen Zwischenspielen, wie man in der Küche irgendwie Kaffee trinkt und wie draußen plötzlich ein Flugzeug drüberrast und man über Alltagsphänomene spricht. So ungeschnitten ist das auch etwas sehr authentisches und faszinierendes. Also es gibt verschiedene Möglichkeiten, natürlich das Hörbuch zu definieren, und auch in diesem Jahr in der Jury gab es da durchaus Diskussionen, wem man den Vorzug gibt.

    Müller-Ullrich: Helmut Böttiger war das von der Jury des Hörbuchs des Jahres, als welches die von Südwestrundrunk und Deutschlandfunk produzierte Vertonung des "Ulysses" ausgezeichnet wurde.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    Der Deutschlandfunk sendet alle 18 "Ulysses"-Teile zwischen dem 22. Dezember 2012 und dem 1. Januar 2013:
    "Ulysses" - das Hörereignis des Jahres 2012
    Bei den Aufnahmen zum Hörspiel "Ulysses": Dietmar Bär in der Hauptrolle des Leopold Bloom
    Bei den Aufnahmen zum Hörspiel "Ulysses": Dietmar Bär in der Hauptrolle des Leopold Bloom (SWR / Hörverlag / Conny Fischer)