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Jan Brokken: "Sibirische Sommer mit Dostojewski"
Auferstanden aus dem Schrecken

Er war der Mann, der Dostojewski zum Autor machte: der baltische Baron Alexander von Wrangel. Nun erzählt der niederländische Autor Jan Brokken von der außergewöhnlichen Freundschaft zwischen von Wrangel und Dostojewski. Sie nahm in Sibirien, wohin Dostojewski verbannt wurde, ihren Anfang.

Von Katharina Teutsch | 28.10.2018
    Buchcover: Jan Brokken: „Sibirische Sommer mit Dostojewski. Roman einer Freundschaft“
    Der niederländische Journalist und Romancier Jan Brokken mit einer spannungsgeladenen Dokufiktion (Buchcover: Kiepenheuer & Witsch Verlag, Foto: imago stock&people/ LeonardoxCendamo/Leemage)
    "Als ich ihn zum ersten Mal sah, stand er in einem weißen Totenhemd vor dem Exekutionskommando. Er: ein Mann von annähernd 30 Jahren, der sich auf den Tod vorbereitete und das silberne Kreuz küsste, das ihm der Priester hinhielt. Ich, ein neugieriger Jüngling, der sich aus sicherer Entfernung ansah, was Unrecht war."
    Wir schreiben das Jahr 1849. In Sankt Petersburg grassiert die Cholera. Die Menschen sterben wie die Fliegen, weswegen das Kaiserliche Lyzeum des "neugierigen Jünglings" bereits vor Ende des Schuljahrs geschlossen wird. Alexander von Wangel, Spross eines deutsch-baltischen Adelsgeschlechts, dümpelt im Haus seines Onkels herum. Die Stadt erscheint ihm weitaus spannender als die Ferien auf dem Familiengut etwa eine Kutschfahrtstunde entfernt von Petersburg. Seinen Onkel kann er ohnehin gut leiden. Er versteht etwas vom Jungsein.
    "Am Morgen des 22. Dezember war ich gegen acht Uhr aufgestanden. Für meinen Vater wäre diese Zeit ein Beweis für meinen laschen Charakter gewesen, doch mein Onkel fand sie völlig normal – schließlich hatte ich Ferien. Wenn er mich zu etwas ermunterte, dann dazu meine Jugend zu genießen. ‚Alexander Jegorowitsch‘, sagte er immer wieder, ‚koste es aus. Freiheit ist wie ein Ballon, ehe du dich versiehst, sticht jemand ein Loch hinein.‘"
    Unter utopischen Sozialisten
    Als er die Vorhänge in seinem Zimmer aufzieht, sieht von Wrangel eine Reihe von Kutschschlitten vorbeiziehen. Dazu Gendarmen hoch zu Ross mit blankem Säbel. Die Stimmung ist angespannt, denn eine Exekution soll in Kürze durchgeführt werden auf dem Exerziergelände gleich nebenan. Es soll sich um die vermeintlichen Verschwörer aus dem Zirkel um den utopischen Sozialisten Petraschewski handeln – eine Gruppe von dreißig jungen Männern wurde festgenommen, die in terroristischer Absicht und im Andenken an den gescheiterten Dekabristenaufstand von 1825 gegen den Zaren intrigiert haben sollen. Auch Alexander von Wangels Lyzeum ist unter Observation der Obrigkeit. Nicht zuletzt Petraschweski war Absolvent der für ihren liberalen Geist bekannten Eliteschule, deren berühmtester Schüler Puschkin gewesen ist.
    Etwas ungläubig erfährt der Held dieser Geschichte von der Verhaftung eines Künstlers, der die Jugend längst in seinen Bann gezogen hatte. Zum Tode durch die Kugel verurteilt wird Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Er ist es, der zusammen mit den fünfzehn anderen Regimekritikern am 20. Dezember 1848 zum Exerziergelände gebracht wird. Er ist es, der zuerst die Erschießung seiner Kameraden mitansehen soll, der in ein weißes Totentuch gewandet wird und der wenig später seine letzten Worte spricht.
    Zar Nikolaus hatte im Vorfeld die Begnadigung der Verurteilten abgelehnt. Revolutionäre Umtriebe sollen mit aller Entschlossenheit verfolgt werden. Zu dem Zeitpunkt, an dem Alexander von Wrangel seine Gardine zurückzieht, hat Dostojewski nur noch wenige Stunden zu leben. Der niederländische Journalist und Romancier Jan Brokken schildert den historischen Moment in einer spannungsgeladenen Dokufiktion, deren Titel den späteren Fokus des Buchs verrät: "Sibirische Sommer mit Dostojewski". Wie den meisten nämlich bekannt sein dürfte, ist es nicht zur Exekution des großen Russen gekommen. Gleichwohl wurde der Autor zum Opfer einer psychischen Folterung, die sein Schreiben maßgeblich geformt hat und deren unmittelbarer Augenzeuge der zwölf Jahre jüngere Alexander von Wrangel wurde.
    "Plötzlich entstand Verwirrung. Die drei Männer, die als Erste sterben sollten, wurden losgebunden und bekamen einen Mantel zugeworfen. Ein paar Postkutschen rollten auf das Gelände, gefolgt von den kleinen Kutschschlitten, die ich auf dem Liteiny Prospekt gesehen hatte. Ein Befehl ertönte und noch einer. Täuschte ich mich oder wurde erneut ein Urteil verlesen? Nein, uns wurde plötzlich klar, dass der Zar sich im letzten Moment tatsächlich eines anderen besonnen hatte und dass hier der von ihm unterzeichnete Gnadenerlass verlesen wurde. Ich holte tief Luft. Mir war, als wäre ich selbst dem Tode entronnen."
    In die Verbannung
    Das Urteil trifft den Schriftsteller dennoch mit aller Härte. Er wird zu vier Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Zusammen mit Schwerverbrechern muss er in die Verbannung. Eine schwere Kette zwischen den Füßen, der Kälte des sibirischen Winters ausgesetzt und den irr machenden Stechmücken im Sommer.
    Nur wenige Jahre nach Dostojewskis Verschickung bricht auch der 20-jährige Adelsspross von Wrangel nach Sibirien auf. Allerdings freiwillig. Die Absolventen des Kaiserlichen Lyzeums sollten für ein Amt in einem Ministerium ausgebildet werden. Von Wrangel beginnt seine diplomatische Laufbahn im Justizministerium.
    "Zu meiner Zeit stand der traditionelle Lyzeumskorpsgeist noch in voller Blüte. Ehemalige Schüler auf hohen Posten stellten Kameraden nach deren Studium ein und verweigerten ihnen nie eine Bestallung in ihrem Ressort. So hielten wir alle die Fahne des Kaiserlichen Lyzeums hoch. Kameradschaft und Solidarität waren in Ehrenhändeln selten nötig – aus der Literatur gewinnt man manchmal einen anderen Eindruck, aber Duelle waren nicht an der Tagesordnung. Korruption dagegen blühte und gedieh bestens, wurde von uns allerdings verachtet. Von Karrierismus, der heutzutage wie eine ansteckende Krankheit unter der Jugend floriert, hatten wir keine Ahnung. Selbstverständlich hatte die Protektion durch hochgestellte Personen und diverse Gönner ihre Vorteile, doch unter uns war kaum einer, der sich darauf verließ. Wir waren vielmehr Idealisten, fantasierten vom Nutzen für das Vaterland, von Selbstaufopferung. An die Jagd nach Rängen, Orden, Auszeichnungen – heute en vogue bei der Jugend – dachte damals keiner."
    Sibirien erweist sich als Ort für Idealisten. Die Gegend sollte kartiert werden, Expeditionen im Geiste Alexander von Humboldts standen an. Das Recht, die Kultur, die Zivilisation ganz allgemein sollten in Sibirien Einzug halten. Man wollte, wie es damals hieß, "die Region voranbringen". 1854 verlässt Alexander von Wrangel Sankt Petersburg und bricht auf in die Fremde. Zu einem Abenteuer, das ihm neben zahlreichen persönlichen Herausforderungen vor allem einen lebenswichtigen Freund beschert. Fjodor Michailowitsch Dostojewski, den Zwangsarbeiter zweiter Kategorie, den Aristokraten unter den sibirischen Verschleppten. Von Wrangel ist im kargen Sibirien ebenso ein Exilant wie er.
    "Ich entschied mich für einen Posten im ausgestorbensten und entlegensten Grenzgebiet Südwestsibiriens, nahe der Grenze des Ilijski-Gouvernements, des damaligen Chinas und Gebiet der ehemaligen Khanate Kokkand und Taschkent. Der Bezirk Semipalatinsk, bestehend aus den südwestlichen Teilen des Bezirks Altai und den südöstlichen der kirgisischen Steppen, war zu diesem Zeitpunkt gerade erst eingerichtet worden. Das Exekutivamt eines Bezirksstaatsanwalts trug die Bezeichnung ‚Prokuror für Staats- und Strafangelegenheiten‘, und das war ich."
    Briefe und Memoiren
    Jan Brokken stützt sich bei seinen Schilderungen auf die erhaltene Korrespondenz sowie die Erinnerungen des Alexander von Wrangel, aber auch auf Dostojewskis Biografen. Die enge Freundschaft der beiden Männer unter den strengen Bedingungen einer sibirischen Exilsituation ist bislang noch nie in dieser Form bearbeitet worden. Neben vielem Bekannten wie der schon von Stefan Zweig in den Sternstunden der Menschheit geschilderten Scheinexekution gibt es also einiges in diesem "Roman einer Freundschaft" zu entdecken und zu lernen. Nicht nur über Dostojewski und Wrangel, sondern auch über die russische Gesellschaft ihrer Zeit. Über das politische, diplomatische und gesellschaftliche Leben. Nicht zuletzt auch über den Alltag in Sibirien, der uns in der Literatur vor allem unter dem Stigma menschenunwürdiger körperlicher Zwangsarbeit ein Begriff ist. Abgesehen vom Mond, lässt der Autor seinen Wrangel sinnieren, schien nichts weiter entfernt zu liegen als Semipalatinsk.
    "Ich sehe alles wieder vor mir... die Straße dorthin: endlos gerade nach Südosten, entlang dem Fluss Irtysch, durch endlose kahle Steppen. Auf den ersten Blick nirgends ein Wald, auf den ersten Blick nirgends ein Hügel; eine vollkommen trübselige, eintönige Natur. Hier und da Kirgisenjurten, die sich schwarz gegen den Himmel abzeichneten. Aus der entgegengesetzten Richtung schreiten hoheitsvoll Kamele in Reihen dahin; dann und wann galoppiert ein Reiter vorbei..."
    Wrangel und Dostojewski lernen sich kurz nach der Ankunft des späteren Forschungsreisenden und Diplomaten kennen. Dostojewski, inzwischen aus dem Gefängnis entlassen, ahnt nichts Gutes, als er in das kleine Holzhaus beordert wird. Alexander von Wrangel erinnert sich folgendermaßen an die erste Begegnung mit Dostojewski:
    "Er trug einen grauen Soldatenrock mit rotem Stehkragen und roten Epauletten. Sein krankhaft bleiches und düsteres Gesicht war übersäht mit Sommersprossen. Die hellbraunen Haare waren kurz geschnitten. Das Bild von der Scheinhinrichtung noch vor Augen, erinnerte ich mich an ihn als klein von Gestalt, doch in Wirklichkeit war er überdurchschnittlich groß. Er musterte mich scharf aus intelligenten graublauen Augen. Es schien, als wolle er mir in die Seele schauen und fragte sich: Wer ist dieser Bursche?"
    Von Wrangel war ein sensibler junger Mann. Dostojewski sollte ihn als "weiblich empfänglich" und von "sanftem Charakter" beschreiben. Von Wrangel hatte früh die Mutter verloren und vom Vater militärischen Drill erfahren. Mit sieben wurde er in eine Kadettenanstalt für Minderjährige gesteckt. Seine Abneigung gegen alles Militärische, lässt uns Jan Brokken wissen, stammte aus dieser Zeit. Sein Herz gehörte stattdessen den Wissenschaften. Er sah sich als Biologe oder Geograf. Unermüdlich schickt er Alexander von Humboldt Briefe mit Naturbeschreibungen aus Sibirien. In Dostojewski findet er eine verwandte Seele. Einen intellektuellen Gesprächspartner und engen Freund, der bald schon bei ihm einzieht. Wie in einer solchen Männer-WG nicht anders zu erwarten, geht es bald nur noch am Rande um die großen Themen der Zeit: Politik, Religion, Nation. Neben ehrgeizigen Hegel-Übersetzungen geht auf ganz und gar universelle Weise vor allem um Frauen.
    Obwohl in Sibirien nicht unbedingt die rauschendsten Feste gefeiert werden, gelingt es den beiden Männern doch, sich heftig und lebenslänglich zu verlieben. Dostojewski lernte Maria Dmitrijewna Isajewa, die Frau eines saufenden Zollbeamten aus Semipalatinsk kennen und stilisiert sie über viele Jahre hinweg zur Ikone. Wie Jan Brokken diese, heute würde man wohl sagen "neurotische" Verbindung der beiden beschreibt, ist durchaus qualvoll. Denn nicht nur mutet er seinen Lesern ein schier unendliches Warten, Korrespondieren und Interpretieren zu. Auch kontrastiert er Dostojewskis Liebesmartyrium, das Jahre später in eine glücklose Ehe mündet, mit den Liebesstürmen seines jungen Freundes. Auch von Wrangel wählt eine Frau aus der sibirischen Gesellschaft. Auch seine Angebetete ist verheiratet. Und zwar mit einem General. Während er Katja mit "Sie" anredet, antwortet sie mit "du". Katja weiß anders als Maria von Anfang an, was sie will. Eine leidenschaftliche Affäre, in der sie die Oberhand behält, also ohne den Anna-Karenina-hafen Absturz. Eine Affäre, die in den Grenzen des damals Möglichen verweilt. Für den in Leidenschaft entbrannten Alexander von Wrangel eine Qual ebenso süß wie bitter und darin seinem Freund Dostojewski verwandt.
    Masochist oder Messias?
    "Der Unterschied war, dass meine Heldin fünfzehn Jahre jünger war als ich und dass sie nicht, wie Maria, einen kleinen Sohn hatte, sondern sechs Kinder. Was sie im Übrigen nicht daran hinderte, einen Liebhaber nach dem anderen mit Toiletten zu bezirzen, die sie sich aus Paris hatte kommen lassen."
    Dostojewski wird die langjährige Geliebte seines Freundes in der Erzählung Der ewige Gatte verewigen. Maria hingegen verhält sich anders als Katja enervierend wankelmütig. Zunächst folgt sie ihrem Mann in eine andere sibirische Stadt, pflegt von dort aus aber einen empfindsamen Briefwechsel mit Dostojewski. Doch als ihr Mann bald darauf stirbt, nimmt sie das Werben des Dichters keineswegs an, sondern lässt ihn weiter schmoren. Ein örtlicher Schulmeister habe um ihre Hand angehalten. Maria bittet Dostojewski um Rat. Und der verhält sich wie ein Masochist reinsten Wassers. "Für sie", kommentiert Wrangel die Lage, "konnte er wie der Messias sein". Dostojewski steht der heiligen Maria zumindest als Mentor, Umsorger und Lebensplaner treu zur Seite. Als er seine Maria nach langem hin und her dann doch noch heiratet, gelingt es dem durchaus manipulativen Menschenlenker sogar, den Lehrer als Trauzeugen zu gewinnen. Wie sich da Wrangel und Dostojewski gegenseitig vom schlechten Einfluss der jeweiligen Angebeteten warnen und dabei doch selbst vollkommen blind bleiben für die eigene Dynamik, gehört zu den intimsten Einblicken, die Jan Brokken seinen Lesern in das Innenleben seiner beiden Helden gewährt. Ansonsten, muss man bei allem Unterhaltungswert der Wrangelschen Romanerinnerungen sagen: So ganz kommt man dem Geheimnis dieser Männerfreundschaft nicht auf den Grund. Immer wieder wird Dostojewski als mal wirrer, mal larmoyanter Bittsteller ins Feld geführt. Und von Wrangel als langmütiger junger Gönner. Ein ums andere Mal holt er für Dostojewski die Kohlen aus dem Feuer, lässt sich anpumpen und belehren. Brokken lässt das einfach so stehen. Ein wenig mehr Einfühlung würde man sich von einem Autor wünschen, der zuletzt ein überaus feinsinniges Buch geschrieben hat. "Die Vergeltung. Rhoon 1944: Ein Dorf unter deutscher Besatzung " ist vor drei Jahren in Deutschland erschienen. Darin spürte der Autor einem Kriegsverbrechen in seinem niederländischen Heimatdorf nach, das nie gänzlich aufgeklärt wurde. Brokken hat für sein Buch Interviews mit annähernd 200 Zeitzeugen geführt, hat Prozessakten eingesehen und rekonstruierte so die Ereignisse aus dem Oktober 1944 minutiös – freilich ohne eine eindeutige Antwort auf komplexe Fragen zu erhalten. Dafür eine Vielzahl von Perspektiven, Fragmente einer Antwort, die sich nie ganz darstellen lässt, weil die Menschen widersprüchlich und ihre Motive manchmal tiefgründig sind. Dies gelingt in Sibirische Sommer mit Dostojewski nicht auf die gleiche Weise. Dennoch ist das Buch lesenswert. Der Blick auf Dostojewski ist frisch und unterhaltsam.
    Lebensthema: Gewalt
    Was hat dieses Buch außen den Eskapaden zweier Exilanten noch zu bieten? An Wrangels juristischen Fällen, namentlich am Fall einer geständigen Kindsmörderin, schult Dostojewski sein Wissen über eines seiner Lebensthemen: die Gewalt. Nachdem die angeklagte Mörderin den Tod durch die Knute für sich einfordert, doziert Dostojewski:
    "Wenn du ihr die Strafe nimmst, nimmst du ihr das Verbrechen. Sie bittet nicht um Vergebung, sie bittet um deine, um meine, um unser aller Unerbittlichkeit. Wer sie nicht strafen will, nimmt ihr Verbrechen nicht ernst."
    Umgekehrt zwingt von Wangel den älteren Freund zur Beschäftigung mit der Natur. Gemeinsam arbeiten sie im Kosakengarten, einer Datsche vor den Toren der Stadt. Später nimmt Jan Brokken seine Leser mit auf erste Forschungsreisen des Hobbynaturwissenschaftlers Wrangel. In die von Tartaren und entlaufenen Häftlingen besiedelte Wildnis des Altaigebirges zum Beispiel. Dort gesammelte Trophäen wie das Winterfell eines Tigers schenkte er später Alexander von Humboldt, der sich an seine eigene Sibirienexpedition von 1829 erinnert fühlte.
    Während der eine sich also für die Phänomene der Natur interessiert, richtet das Interesse des anderen sich auf die Natur der Seele.
    Alexander von Wrangel setzt sich über die sibirischen Jahre hinweg intensiv für seinen Freund Dostojewski ein. Seine Familie hat gute Kontakte zur Obrigkeit. Der neue Zar, Alexander II, so heißt es, sei ein Humanist. Tauwetter ist angesagt. Die unterdrückte Petersburger Intelligenzija schöpft Hoffnung auf Reformen. Tatsächlich wird Dostojewski, nachdem er zunächst zum Unteroffizier befördert wurde, im August 1856 begnadigt. Das Publikationsverbot bleibt zunächst bestehen. Im Dezember 1859, genau zehn Jahre nach seiner Scheinexekution, erhält Dostojewski seinen Adelstitel zurück und darf sich in Sankt Petersburg niederlassen.
    Zwei Jahre zuvor heiraten Dostojewski und Maria in Sibirien. Die Schilderung der dramatischen Ereignisse während der Hochzeitsnacht gehört zum Erschütternsten dieses Buchs. Nach jahrelangem Darben erleidet Dostojewski einen epileptischen Anfall im Bett. Maria, die von Dostojewskis Krankheit nichts wusste, ist tief verstört.
    "Der Anfall trieb einen Keil zwischen sie. Ihr Zusammensein sollte nicht die erträumte Einheit einläuten, sondern den Rückfall in die Einsamkeit."
    Ein unwürdiges Ende
    1861 heiratet Alexander von Wrangel Anna von Schaffhausen-Schönberg-Eck von Schaufuß. Eine Ehe, die Leidenschaft und Ernüchterung kennt genau wie die von Dostojewski. Als von Wrangel in Geldschwierigkeiten gerät, die Behandlung seiner todkranken Tochter nicht mehr bezahlen kann und Dostojewski um die Rückzahlung seiner über Jahre angehäuften Schulden bittet, ist die Freundschaft vorbei. Von Wrangels Tochter stirbt. Dostojewski wird in Wiesbaden alles verspielen, was er besitzt. Er wird sich nie wieder bei Wrangel melden. Als sie sich Jahre später zufällig bei einem gesellschaftlichen Anlass wiedersehen erinnert sich Freiherr von Wrangel:
    "Wir gaben einander die Hand, erkundigten uns nach der Gesundheit des anderen, warteten die Antwort nicht ab, gaben einander nochmals die Hand, verbeugten uns leicht und gingen wie Fremde auseinander."
    Es ist ein nüchternes Ende und es spricht für den Dokumentaristen Jan Brokken, dass er dieser Freundschaft nichts unstatthaft Erdachtes hinzufügt. Dass er sie also nicht dort psychologisiert, wo die Quellen schweigen. Im Nachwort heißt es, die Briefe Wrangels seinen durchweg diplomatischer Natur gewesen, da bei Dostojewski immer mit Zensur zu rechnen war. Jan Brokken hat das Kunststück vollbracht, ein diskretes Buch über die indiskretesten Dinge zu schreiben. Wer mehr über Dostojewskis Romane, seine literarische Entwicklung, seine weltanschaulichen Themen erfahren möchte, wird diesem Buch nicht viel abgewinnen. Wer ein wenig bekanntes Kapitel aus seinem Leben authentisch eingebettet in das Denken und Fühlen seiner Zeit nachvollziehen möchte, wird seine Freude daran haben.
    Jan Brokken: "Sibirische Sommer mit Dostojewski. Roman einer Freundschaft"
    aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen
    Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2018. 432 Seiten, 22 Euro.