Freitag, 29. März 2024

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Jan Wenzel (Hrsg.): "Das Jahr 1990 freilegen"
Zeitgeschichte als Experimentierfeld

"1990" klingt heute merkwürdigerweise nicht so mythisch wie "1989", dabei war 1990 das Jahr der grundlegenden Entscheidungen in der deutschen Politik. Wilde Aufbruchsstimmung und bereits einsetzende Ernüchterung wechselten sich ab. Ein Buch mit vielen Dokumenten gibt diesem Jahr ein Gesicht.

Von Helmut Böttiger | 20.05.2020
Buchcover: Jan Wenzel (Hrsg.): „Das Jahr 1990 freilegen“
1990 - das Jahr der atemberaubenden Veränderungen (Buchcover: Spector Books)
Im Jahr 1990 gab es letzte Gelegenheiten, die DDR noch im Originalzustand zu sehen. Die Fotografien, die damals entstanden, sind mittlerweile zu wertvollen zeitgeschichtlichen Dokumenten geworden. Jan Wenzel hat mit seinem Herausgeberteam für einen umfangreichen Band mit verschiedensten Dokumenten aus diesem Jahr auch viele Fotoarchive durchsucht, und einige der Fotos gehören zu den aufschlussreichen Fundstücken dieses Buches.
Eine aufgerissene Straße in Leipzig zum Beispiel – sie wirkt, als ob sie schon länger so aussehen und sich auch so schnell nicht wieder ändern würde; das hat also etwas unwillkürlich Symbolisches inmitten aller möglichen tagesaktuellen Turbulenzen. Oder vor einem Haus die riesige Kohlenhalde, die an längst nicht mehr gegenwärtige realistische Romane denken lässt. Diese Fotos stehen nicht in Kontrast zu den schriftlichen Dokumenten, die die halsbrecherischen politischen Veränderungen darstellen, sie scheinen sie vielmehr in facettenreicher Weise zu erhellen.
"Grammatik der Revolution"
"Das Jahr 1990 freilegen", so der programmatische Titel des Buches, besteht aus vielen unterschiedlichen Teilen. Die Zeitgeschichte wird hier zum Experimentierfeld. Neben den Fotos werden unzählige Tagebuchnotizen, Zeitungsauschnitte, Interviews und andere Schnipsel collagiert, und zwar in chronologischer Abfolge. Genau das, der Verlauf auf der Zeitleiste vom 1. Januar bis zum 31. Dezember, birgt einen enormen Erkenntnisgewinn. Die gesellschaftliche Atmosphäre in Deutschland wechselte in diesem historisch eminent aufgeladenen Jahr kontinuierlich.
Der Band beginnt mit der Silvesterjubelfeier 1989/90 am Brandenburger Tor und endet mit einem fahlen Schwarzweißfoto. Es zeigt übriggebliebene Mauerreste in düsterer Nacht. Damit ist die Veränderung dieses Jahres eindringlich vor Augen geführt. Die eingestreuten, insgesamt 32 Geschichten von Alexander Kluge bilden dazu den für Kluge typischen Assoziationshintergrund. Sie greifen anekdotisch paradigmatische Szenen auf, von einem intellektuellen Gespräch über die "Grammatik der Revolution" im linken Bier- und Theaterlokal "Prater" am Prenzlauer Berg bis zur marxistischen Hoffnungslosigkeit im Volkseigenen Betrieb "Elbe-Werft Werdau", manchmal geht es auch in surreal anmutende Regionen:
"Die weitläufige Liegenschaft in der Schorfheide ist derzeit, einen Tag vor Silvester 1989, im Vollbesitz des Pförtnerpaares Brigitte und Alfred G. Einst dienten das Gebäude und der angeschlossene Garten der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Die Dienstherren und Oberen sind seither verschwunden. Telefonkontakte zur vorgesetzten Behörde sind nicht herstellbar. So haben die Concierge und ihr Lebensgefährte sich in der Bibliothek und im Herrenzimmer (so noch benannt von den nationalsozialistischen Bebauern dieses Geländes) ihr Domizil eingerichtet. Für den Neujahrstag ist Verwandtschaft eingeladen."
Neun Prozent für die CDU
Bis in den März hinein war das Jahr 1990 sehr stark geprägt von Hoffnungen und Zukunftsoptimismus. Interessant ist eine Meinungsumfrage in der DDR vom 11. Januar: danach würden 39 Prozent SPD wählen und 9 Prozent CDU. Bei den ersten und letzten freien Volkskammerwahlen in der DDR am 18. März lautete das Wahlergebnis aber dann: 48,1 Prozent CDU, SPD 21,9 Prozent, und die Parteien der Bürgerrechtsbewegung, die den Fall der Mauer wenige Monate zuvor unter großem Risiko erkämpft hatte, erreichten nicht einmal 5 Prozent. In kürzester Zeit hatte sich die Stimmung grundlegend geändert. Im Vordergrund des Buches liegen zwar die Ereignisse in Ostdeutschland, aber es gibt auch Seitenblicke. Wie der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow zum ersten Mal mit einem Nokia-Handy konfrontiert wird, ist eine äußerst vielsagende Arabeske.
Die Protokolle der Sitzungen des "Zentralen Rundes Tisches der DDR" zeigen, wie sich der anfängliche Elan der Bürgerrechtler in den Mühlen der Parteibildungen verfing. Im historischen Abstand wirken die Porträts damaliger Protagonisten und die Interviews mit ihnen umso stärker. Eine lange Passage widmet sich der schillernden Figur Ibrahim Böhme, die man mittlerweile fast vollständig vergessen hat: er war der Hoffnungsträger der neu entstandenen, nicht aus den bereits vorhandenen Blockparteien hervorgegangenen Sozialdemokratie und deren Spitzenkandidat bei den Volkskammerwahlen im März. Wie die Staatssicherheit der DDR noch lange nach dem Ende dieses Staatswesens das Geschehen beeinflusste, zeigt sich an diesem konkreten Beispiel in einer fast schon tragischen Konstellation. Böhmes Biografin Christiane Baumann sagt über ihn:
"Er lebte die Legenden, die er hatte – das war verwoben, das war nicht mehr trennbar. Und meiner Meinung nach spätestens seit dieser ominösen Haft, die von ihm selbst inszeniert worden war, da war nicht mehr trennbar, was ist reales Leben und was ist nur Legende, das war verwachsen miteinander wie ein Maßanzug."
Dem stehen Wahlkampfbilder der CDU gegenüber. Abgebildet werden Pro-Helmut-Kohl-Spruchbänder wie "Helmut, nimm uns an die Hand, zeig uns den Weg ins Wirtschaftswunderland". Sie erklären, was sich in atemberaubendem Tempo so abrupt verändert hat und lassen auch Rückschlüsse darauf zu, warum es im Osten heute so brodelt. Denn zwischen solch einer direkt und schnörkellos ausgesprochenen Hoffnung aufs Wirtschaftswunderland und den aktuellen Pegida-Aufmärschen gibt es einen direkten Zusammenhang.
Die volkseigene Samantha Fox
Desillusionierungen machten sich damals bereits im Sommer bemerkbar, als die D-Mark eingeführt wurde und die Realität der Marktwirtschaft begann. Aus dezidiert privater Perspektive schildern das einige Schriftsteller: eingestreut sind Aufzeichnungen von Martin Gross, von Annett Gröschner oder von Thomas Rosenlöcher. Es gibt viele sprechende Bilder: der Arbeiter in einer tristen, mit diversen Schwarz- und Grautönen heruntergekommenen Werkstatt, der zwischen verschmierten Werkzeugen und Flaschen ein Pin-Up-Foto des damaligen westlichen Sex-Symbols Samantha Fox hängen hat – es wirkt trotz seiner Farbigkeit trostloser denn je. Oder wie die "Deutsche Bank" gerade eine provisorische Zweigstelle in einem Container eröffnet hat, der wie eine typische DDR-Baracke aussieht. Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR, schreibt in seiner Autobiografie:
"Die hohe Besteuerung führte dazu, dass eine erhebliche Schattenwirtschaft entstanden war und dass viele Handwerker gegen bar und ohne Rechnung arbeiteten. Die so erlangten Beträge wurden, um sie nicht besteuern zu müssen, nicht auf Konten eingezahlt. Mancher Handwerker hatte nun im Zusammenhang mit der Währungsunion große Sorge, wie er seine großen Bargeldbeträge loswerden könnte."
Dieses Buch eignet sich hervorragend als Geschichtsquelle. Der Leipziger Verlag "spector books" ist auf ästhetisch avancierte Kunst-Text-Bände spezialisiert und für entsprechende Entdeckungen bekannt. Das vorliegende Werk wird von der graphischen Gestaltung fast dominiert: es gibt unterschiedliche Schriftgrade und ein wechselndes Layout ohne Seitenränder. Wenn der Herausgeber Jan Wenzel allerdings programmatische Überlegungen anstellt, kann man das durchaus auch als zwiespältig empfinden. Er schreibt: "Warum noch neue Bücher schreiben? Ist es nicht lohnender, sich auf den Reichtum des bereits Produzierten einzulassen?"
Diese Sätze sind sicher im Rausch der Entdeckungen und einer raffinierten Konzeptkunst entstanden. Man spürt das Vergnügen, das die Macher dieses kaleidoskopartigen Werks dabei gehabt haben. Das Changieren zwischen ästhetischen Suchbewegungen und suggestiven Theoriebildungen hat natürlich etwas Verführerisches. Doch so sehr vieles an diesem Buch überzeugt: allzu vorschnell sollte man das Konzept eines landläufigen "Autors" nicht ad acta legen. So bunt und widersprüchlich die hier zusammengetragenen einzelnen Erscheinungsformen zunächst auch wirken mögen.
Jan Wenzel (Hrsg.): "Das Jahr 1990 freilegen"
Remontage der Zeit
Mit 32 Geschichten von Alexander Kluge
Spector Books, Leipzig. 529 Seiten, 36 Euro.