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Jana Simon
"Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert"

Seit 2013 hat die Reporterin Jana Simon Alexander Gauland (AfD) begleitet, ebenso den einstigen EZB-Chef Jörg Asmussen oder eine Krankenschwester. In insgesamt sechs Einzelporträts beschreibt sie in ihrem Buch den gesellschaftlichen Wandel in Deutschland. Gekonnt verflicht sie Einzelschicksale mit Politik.

Von Melanie Longerich | 27.05.2019
AfD-Anhänger und andere Wähler bei einer Wahlkampfveranstaltung der AfD in Stralsund
Seit 2013 seien die gesellschaftliche Verschiebungen in Deutschland zu spüren gewesen, findet Jana Simon, die Enkelin der Schriftstellerin Christa Wolf (picture alliance / Stefan Sauer/dpa-Zentralbild/dpa)
Unter Druck. Das ist das, worunter sie alle stehen: Jana Simons Protagonisten in dem gleichnamigen Buch: Da sind die alleinerziehende Krankenschwester Bozena Block, die sich vor Altersarmut fürchtet, die junge Influencerin Lisa Banholzer, die alles richtig machen will, um keine Follower zu verlieren, der einstige EZB-Direktor und heutige Lobbyist bei der amerikanischen Investmentbank Lazard, Jörg Asmussen, der Staatsschützer Thomas Matczak und die Familie Reichenbach aus Stuttgart, die mit der Erhaltung ihres Mittelklassestatus‘ und den Auswirkungen des Dieselskandals kämpft. Und der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland – der Hauptprotagonist in Jana Simons Buch:
"Immer wieder zweifelte ich daran, ob ich ihm mit meiner Beschreibung zu viel Raum, eine zu große Plattform biete. Andererseits reiben sich alle anderen Gesprächspartner in diesem Buch an ihm und der AfD [...]. Kaum jemand hat Deutschland in den vergangenen Jahren so verändert und in Atem gehalten wie er und seine Partei."
Von 2013 bis heute hat Jana Simon ihre Protagonisten begleitet. Das Anfangsjahr hat sie bewusst gewählt. Ab dann – so begründet es Simon in ihrem Vorwort - seien in Deutschland die gesellschaftliche Verschiebungen zu spüren gewesen. Da waren Eurokrise und Griechenlandrettung schon im Gang, der Krieg in Syrien bereits fortgeschritten und das rechtsextreme NSU-Terror-Trio entdeckt. 2013 dann gründete sich die AfD – und eine verunsicherte Nation wurde noch unsicherer.
"Der Abschied von Gewissheiten zeigt sich zuweilen in Kleinigkeiten, wie einer misslungenen Vertragskündigung. Manchmal wird die Furcht auch sehr konkret. Alle Gesprächspartner haben ihre wörtlichen Zitate autorisiert. Ein schwieriger Prozess. Bei Familie Reichenbach etwa musste ich die Namen und Details aus ihrem Leben ändern. Jörg Asmussen durfte ich trotz seiner Zusage später fast nicht mehr bei seiner Arbeit begleiten oder beobachten. [...] So gut wie angstfrei erschien nur Alexander Gauland, vielleicht, weil er nichts mehr zu verlieren hat."
Verflechtung von Lebenssituationen und Politik
Die Reporterin Jana Simon ist eine der großen ihrer Zunft. Das beweist die Enkelin der Schriftstellerin Christa Wolf schon lange: anfangs als Reporterin beim Berliner "Tagesspiegel", heute bei der Wochenzeitung "Die Zeit". Sie hört wirklich zu, beobachtet genau, will ihr unbekannte Milieus verstehen. Schon im Reportageband "Alltägliche Abgründe" beschrieb sie 2004 das Leben von Außenseitern mit großem Respekt – in ihrem neuen Buch ist sie politischer geworden - verflechtet die Lebenssituationen mit den Themen Gesundheit, Rente, Bildung, aber auch Migration, Geldpolitik, Globalisierung oder Rechts- und Linksextremismus. Besonders mit letzteren ist der Staatsschützer Thomas Matczak aus Jena konfrontiert – und fühlt sich zunehmend zwischen den politischen Strömungen im Land aufgerieben.
"Hinzu kommt, dass sich auf Matczaks Dienststelle zwei Kommissariate, also etwa 15 Kollegen, einen einzigen Rechner teilen, der Internetzugang hat. Der ist fast immer besetzt. Matczak und seine Kollegen benutzen noch alte Nokia-Tastenmodelle als Diensthandys, die ebenfalls nicht internetfähig sind. Auf Demonstrationen und Kundgebungen lässt Matczak sein Diensthandy gleich im Büro und recherchiert mit seinem privaten Smartphone kritische Symbole oder Liedtexte nach, bei denen er unsicher ist."
Und zwischendurch immer wieder Gauland. Er hat auch Matczaks Weg gekreuzt, und die Rechtspopulisten, die die Spaltung im Land vorantreiben, beeinflussen die Arbeit des Staatsschützers. Wer Alexander Gauland ist, ist eine der Fragen, die sich durch das Buch ziehen. 2013 gilt er Etlichen noch als Intellektueller, der von seinen – auch linken Weggefährten – als kluger Zeitgenosse geschätzt wird. Doch im Laufe der Zeit werden sich immer mehr von ihm lossagen. Die Radikalisierung ist offensichtlich. Etwa bei einer Veranstaltung der AfD-Landtagsfraktion von Rheinland Pfalz 2018 auf Schloss Hambach:
"Nun läuft Alexander Gauland zum Pult. [...] Er vertritt wieder seine These, Merkel wolle den Nationalstaat auflösen. 'Nationalstaaten seien Konstrukte, steht in den Intelligenzblättern. Was ist dann erst die EU?' Heiterkeit im Saal. Das ist wieder einer der Augenblicke, in denen man sich fragt, was in Gauland vorgeht, wenn er 'Intelligenzblätter' sagt. Auch er liest sie, er hat für sie geschrieben, er ist ihr Zielpublikum. Ist das Selbstverleugnung oder Taktik, um in diesem Umfeld zu gefallen? Oder beides? [...] Diese Verwandlung des Dr. Gauland innerhalb weniger Augenblicke irritiert stets aufs Neue: Von einem Mann, der im persönlichen Gespräch nach wie vor auch selbstkritisch differenzieren kann, in den Mann, der öffentlich hetzt und provoziert."
Bedrückende Langzeitbeobachtung
Bei der alleinerziehenden Krankenschwester Bozena Block kommen seine Provokationen an. Die Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland kamen, empfindet die Münchnerin als bedrohliche Konkurrenz. Dabei weiß sie, wie es ist fremd zu sein: Mit 19 siedelte Bozena Block aus Polen über, ein Jahr vor der Wende war das. Die gelernte Krankenschwester war nie ohne Arbeit.
"Viele Jahre später wird Block in München eine Wohnung suchen, und die Vermieter werden sie ablehnen. Alle wissen, dass sie als Krankenschwester wenig verdient. ‚Jetzt hat der Beruf einen anderen Stellenwert‘, sagt Block. Nun hat er die Kraft, sie gemeinsam mit ihren Söhnen fast obdachlos zu machen."
Ernüchtert beschreibt Block ihren Arbeitsalltag. Auch als stellvertretende Pflegedienstleiterin verdient sie immer noch so viel wie vor 20 Jahren - hat Angst in die Altersarmut abzurutschen.
Bozena Blocks Kampf gegen ihren Druck bleibt im Kopf, auch wenn die letzte Seite längst gelesen ist – wie auch der der anderen Protagonisten. Jana Simon ist eine großartige – und bedrückende Langzeitbeobachtung zugleich gelungen, die auch wegen ihrer eindringlichen und einfachen Sprache bewegt.
Jana Simon: "Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert"
S. Fischer Verlag, 336 Seiten, 20 Euro.