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Janáceks "Jenufa"
Brüssel ist nicht Brünn

Auch wenn kein besonderes Jubiläum um den tschechischen Komponisten Leo Janácek (1854-1928) anliegt, sind seine Opern derzeit wieder sehr präsent: Seine "Jenufa" kommt gleich an mehrere renommierte Häuser. Den Auftakt machten nun Ludovic Morlot und Alvis Hermanis in Brüssel.

Von Christoph Schmitz | 22.01.2014
    Die Schauspieler Nicky Spence (Steva), Sally Matthews (Jenufa), Carole Wilson (Starenka).
    Die Schauspieler Nicky Spence (Steva), Sally Matthews (Jenufa), Carole Wilson (Starenka). (Karl und Monika Forster)
    Die Geschichte ist so aktuell wie alt. Ein junges Paar liebt sich. Sie ist die Schönste am Ort und hat nur Augen für ihn. Er ist ein attraktiver und begehrter Typ, aber auch ein Hallodri. Er säuft gern und rennt jedem Rock hinterher. Zu der immer gleichen Geschichte gehört auch, daß sie von ihm schwanger wird und heiraten möchte, was heute nicht mehr unbedingt zwingend wäre. Damals aber schon, als Janacek um 1900 ein mährisches Theaterstück über Dorfliebe und –katastrophe vertonte. Und so wie damals sieht es auf der Bühne in Brüssel auch erst einmal aus oder genauer: wie auf einem Dorffest. Denn alle tragen prächtige Trachten voller gehäkelter Rüschen und bäuerlicher Stickereien, blumengeschmückte Hüte und Hauben, die Titelheldin Jenufa und die Stiefmutter, die angesehene Küsterin und moralische Autorität, dann Jenufas Freund Steva, der Vater des Kindes, das sie unterm Herzen trägt. Und nicht zu vergessen Stevas Rivale, Laca. Vor Eifersucht und Wut zückt Laca sein Messer und zerstört mit einem Schnitt Jenufas hübsches Gesicht. Denn er hat mitbekommen, daß Steva die junge Frau nur wegen ihrer Schönheit liebt.
    Das alles wird aber nicht realistisch gespielt, sondern höchst stilisiert. Jenufa, die Männer und Frauen agieren in streng choreographierten, zeichenhaften Posen und abstrahierten Tanzmotiven und treiben damit der Folklore alle Seligkeit aus. Ornamental wirkt die Geschichte so und allegorisch. Dazu trägt auch die Bühnendekoration bei. Auf eine riesige Fläche oberhalb der Sänger werden jugendstilartige Muster projiziert und romantische Ansichten ländlichen Lebens. Ein Blütenkranz dreht sich wie das Mühlrad, dessen Klappern auch ein zentrales musikalisches Motiv bei Janacek ist. Die Dornen erinnern an den Dornenkranz aus der biblischen Leidensgeschichte, das unerbittliche Schicksal nimmt seinen Lauf. Ein ausgeklügeltes, anspielungsreiches, konzentriertes und zugleich sinnliches Regiekonzept zeigen Alvis Hermanis und sein Team. Sally Matthews als Jenufa und auch alle anderen Sänger tragen die Idee bis in die kleinste Bewegung mit.
    Mit ihrem dunkel eingetönten, frequenzreichen Sopran verleiht Sally Matthew der Jenufa seelische Tiefe. Das moralische Ringen der Küsterin und Stiefmutter, die zur Kindsmörderin wird, singt Jeanne-Michèle Charbonnet mit erschütternder Intensität. Nicky Spence charakterisiert den Strahlemann und Feigling Steva treffend mit seinem strahlenden Tenor. Dem weicheren Laca gibt Charles Workman das passende musikalische Profil. Erstaunlich, wie gut die vor allem aus dem Angelsächsischen stammenden Solisten dem slawischen Individualstil Janaceks auf die Spur kommen. Der in London ausgebildete französische Dirigent Ludovic Morlot hat besonders die expressiven Klänge der Komposition herausgearbeitet, ihre Wucht und Unerbittlichkeit, die folkloristischen Töne und Farben dagegen weniger. In der Brust des Orchesters schlägt kein mährisches Herz, wie sollte es auch. Brüssel ist nicht Brünn, wo die „Jenufa“ 1904 uraufgeführt wurde.
    Aber Alvis Hermanis Inszenierung ist auch nicht nur stilisierte Slawen-Folklore, sondern im zweiten Aufzug triste Gegenwart. Jenufa, ihr heimlich geborener Sohn und die Stiefmutter hausen in einer verschimmelten Bude. Der Fernseher läuft, die Flamme des Gasherds spendet etwas Wärme, hinter den vereisten Fenstern fällt Schnee. Während Jenufa im Fieber deliriert, ertränkt die Küsterin den Säugling im See und läßt ihn unterm Eis verschwinden. Denn Steva hat sich mit einer anderen verlobt. Und von Laca glaubt sie, daß er Jenufa nur heiratet, wenn es das Kind nicht mehr gibt. Psychologisch höchst subtile Personenregie bietet Hermanis hier. Im dritten und letzten Akt dann wieder das stilisierte Trachtentheater, wenn bei der Hochzeit der Mord auffliegt. Als wollte der Regisseur den Modernisten im Publikum sagen, schaut mal, was im Alten alles drinsteckt, und den Traditionalisten, schaut mal, wie modern ein Kostüm-Janacek sein kann. Eine schlaue Strategie, geboren möglicherweise aus einem äußeren Zwang. Denn diese Inszenierung ist eine Koproduktion mit zwei Bühnenkulturen, die von eigenwilligen Regiezugriffen nicht viel halten. Zuerst wandert „Jenufa“ nach Bologna ans Stadttheater, dann nach Moskau ans Bolschoi. So will Hermanis Ausstattungs- und Regietheater versöhnen, den Westen mit Süd und Ost und umgekehrt. Viel Glück!