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Japanische Zurückhaltung in der Liebe

Für den Autor Tanizaki Jun'ichiro, der 1965 verstarb, ist Sinnlichkeit zurückhaltend. Die deutsche Erstübersetzung seines Buches "Liebe und Sinnlichkeit" gibt Einblick in subtile erotische Nuancierungen zwischen Mann und Frau in Japan.

Von Astrid Nettling | 23.08.2011
    "Es muss wohl Tokugawa Ieyasu gewesen sein, der gesagt hat: Die Ehefrau soll nicht zu lange im Bett des Gatten liegen bleiben. Nach dem Beischlaf sollte sie sich möglichst rasch auf ihr eigenes Lager zurückziehen. Auch mir hat sich dieser Gedanke immer wieder aufgedrängt. Man könnte wohl unterschiedliche Gründe dafür nennen, aber tatsächlich ermüden japanische Männer bei dieser Betätigung vergleichsweise rasch. Jedenfalls sind wir in Bezug auf das Liebesleben eine relativ unbedarfte, einer überbordenden Sinnlichkeit nicht gewachsene Spezies."

    Man mag überrascht aufhorchen – tatsächlich erwartet den Leser in Tanizakis Essay kein opulentes "Reich der Sinne". Dafür sei schon allein das Klima in Japan viel zu feucht und stickig – "Zu solchen Zeiten hat man auf nichts mehr Lust, und schon der Gedanke an Sex ödet einen an". Aber ebenso herrsche in Sachen Liebe ausgesprochene Zurückhaltung. "Wir sind ein Volk, das den direkten Ausdruck von Liebe gering schätzt", was sich in der konfuzianisch geprägten Kultur Japans schon an seiner Literatur ablesen lasse. Erst der Westen habe die Menschen des Ostens, so Tanizaki, darüber belehrt, dass es "hochstehende Literatur auch in Verbindung mit Liebe geben" könne. Wie überhaupt eine der wichtigsten Einwirkungen der westlichen Literatur in der "Befreiung der Liebe" und mehr noch in der "Befreiung der Sexualität" liege. So weit, so gut. Was aber hat es dann auf japanisch mit "Liebe und Sinnlichkeit" auf sich? Wer Tanizakis auch hierzulande bekannten Essay "Lob des Schattens" kennt, weiß um die Bedeutung, die der Autor der geheimnisvoll verschatteten Atmosphäre beimisst, wie sie etwa in den traditionellen Räumen vorherrscht und den Dingen eine besondere Anmutung und Aura verleiht. Für Tanizaki ist das Reich des Sinnlichen von ähnlicher Art – verhalten und jenseits der seit der Moderne auch in Japan mit viel Licht ausgeleuchteten nackten Tatsachen angesiedelt. Kein Ausdruck sexueller Prüderie, deren verschämtes Schwarz die Dunkelheit hier im Westen jahrhundertelang zu tragen hatte, ist in Japan das Dunkel von jeher mit jener besonderen Aura aufgeladen, in der sich auch die erotische Sinnlichkeit in Empfänglichkeitsgraden entfaltet hat, die weniger das Auge als andere Sinne und Sensibilitäten ansprechen. Deren klassische Ausformung findet Tanizaki in der höfischen Kultur der Heian-Zeit des 8. bis 12. Jahrhunderts, in ihrer Dichtung und vor allem in dem literarischen Klassiker Japans, der "Geschichte vom Prinzen Genji". Einer Zeit, in der die Frauen, "wortwörtlich Schönheiten der innersten Räume" und "Wesen von mysteriöser, verborgener Anmut", hinter Vorhängen und Stellwänden den Blicken der Welt entzogen in der Dunkelheit der Nacht ihre Liebhaber empfingen – "blass wie der Mondschein, leise wie das Zirpen von Insekten, empfindlich wie die Tautropfen auf den Gräsern".

    "Die Männer jener Epoche hörten im Dunkel die flüsternde Stimme, sie nahmen den Duft der Kleider wahr, sie berührten die Haare, erspürten mit den Händen die Reize der zarten Haut, und wenn der Morgen anbrach, waren sie schon irgendwohin entschwunden."

    Tempi passati – denn so wie das Licht die Dinge aus dem sie umgebenden Dunkel löst und sie einzeln für sich herausstellt, so hat auch in Japan der moderne Individualisierungsprozess Mann und Frau aus den sie umgebenden Traditionen herausgelöst. Denn welcher "Mann der Gegenwart", fragt sich der Autor, "der auf seine Individualität pocht, würde auf diese Weise nicht etwa nur die Ausschweifung einer Nacht genießen, sondern eine echte Liebesbeziehung pflegen"? Und welche Frau mit Selbstbewusstsein würde sich mit einem Schattendasein begnügen? Vergangene Zeiten gewiss – was jedoch nicht bedeuten muss, die eigene kulturelle Herkunft gänzlich aus dem Sinn zu verlieren. Zumal in einer Zeit, da es Intellektuellen wie Tanizaki schmerzhaft bewusst wurde, dass die Moderne, der sich Japan Ende des 19. Jahrhunderts weit geöffnet hatte, vor allem westliche Moderne hieß und ihrer Übernahme in die eigene Kultur und Lebenswelt viel Künstliches und Fremdes anhaften musste. "Man denke nur", so Tanizaki, "an die griechische Kultur der nackten Körperschönheit und an die bis heute in europäischen und amerikanischen Städten aufgestellten Statuen von Göttinnen aus der Mythologie." Aphrodite und Venus aber passen nun einmal nicht in die kulturelle Landschaft Japans. So bleibt der Autor bei seinem Lob des Schattens auch in Sachen "Liebe und Sinnlichkeit". Dabei, dass jene weit zurückliegenden und längst so fremd wie befremdlich anmutenden Verkehrsformen zwischen Mann und Frau jedenfalls ein Reich des Sinnlichen kultiviert hatten, dessen Einfluss sich in der Kulturgeschichte Japans bis hin zur Moderne verfolgen lässt und dessen hochentwickelter Sinn für das Verhaltene, Angedeutete mit ihrer subtilen erotischen Nuancierung "mehr bezauberte als offene, direkt ausgedrückte Leidenschaftlichkeit". Ein Sinn, der möglicherweise auch dem westlichen Leser durch die Lektüre des von Tanizaki mit leichter Hand geschriebenen Essays aufgehen könnte.

    "Natürlich steht es im Ermessen jedes Einzelnen zu entscheiden, was für ihn besser sei. Was mich aber im Geheimen umtreibt, ist die Sorge, ob denn nicht in einer Zeit des Exhibitionismus nach amerikanischer Manier, da der nackte weibliche Körper überhaupt nichts Besonderes mehr an sich hat, die Anziehungskraft allmählich verblassen und verloren gehen könnte. Eine noch so schöne Frau hat, wenn sie einmal völlig nackt dasteht, nichts mehr, was sie enthüllen könnte. Und wenn einmal alle gegenüber der Nacktheit abgestumpft sind, wird wohl auch das 'gewisse Etwas' auf niemanden mehr irgendeinen Reiz ausüben."

    Tanizaki Jun'ichiro: "Liebe und Sinnlichkeit." Aus dem Japanischen übersetzt und kommentiert von Eduard Klopfenstein, Manesse Verlag, 88 Seiten, 14,95 Euro