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Japanischer Workaholic zwischen großformatigen Buchdeckeln

Hokusai Katsushika gilt als bedeutendster Meister des japanischen Farbholzschnitts. Er soll etwa 30.000 Zeichnungen geschaffen haben. Im 19. Jahrhundert wurden seine Werke in Europa bekannt und beeinflussten Künstler wie van Gogh. Jetzt ist eine schön anzuschauende Monografie erschienen.

Von Martina Wehlte | 13.07.2011
    Da sitzt er - 1842 - im Schneidersitz, leicht nach vorne gebeugt am Boden, blickt freundlich und mit lebhafter Miene zur Seite auf ein imaginäres Gegenüber, während sein rechter Arm auf etwas außerhalb des Blattes weist. Der Körper folgt dieser Streckung mit einer inneren Dynamik, die vom Wurf des weiten Gewandes aufgegriffen wird. Allein die Falten im Gesicht, der spärliche Haarkranz und die knochigen Hände mit ihren gekrümmten Fingern verraten den Greis. Einen heiteren, vitalen Greis, dessen japanische Schriftzeichen luftig wie Ranken über der Figur am Ende eines Briefbogens herabschweben. 83 Jahre alt war Hachiemon, als er seine Zeilen an einen Freund mit diesem Selbstbildnis abschloss. In der Expressivität der Tuschzeichnung und in der traumhaften Sicherheit des Strichs spiegeln sich die Erfahrung eines begnadeten Künstlers und die ungebrochene Lebenszugewandtheit eines Menschen, der gleichermaßen vom Erfolg verwöhnt wie vom Schicksal geprüft war. - Fünf Jahre später gab er sein bewährtes Rezept für ein gesundes Alter preis: Eine Mischung aus dem Fruchtfleisch geschälter Longanfrüchte, weißem Zucker und Alkohol bester Qualität, die sechzig Tage ruhen muss.

    Danach ist der Inhalt bereit. Trinke jeden Morgen und Abend zwei kleine Becher dieser Mischung. Dank dieses lebensverlängernden Mittels konnte ich mein 88. Lebensjahr ohne Gebrechen erreichen. Manji, der alte, ins Malen vernarrte Mann.

    Hinter den beiden Namen Hachiemon und Manji - und es ließen sich noch Dutzende hinzufügen - verbirgt sich ein- und dieselbe polyvalente Persönlichkeit: Hokusai Katsushika, eine japanische Legende, dessen Farbholzschnitt "Große Woge" (von 1823/29) aus der Folge "36 Ansichten des Berges Fuji" weltberühmt ist. Die bildbeherrschende, schäumende Welle im Vordergrund, die sich vor einem kleinen Boot aufgetürmt hat, mit ihren Gischtkrallen schon nach ihm greift und gleich brechen wird, gibt die Sicht auf den fernen schneebedeckten Fuji frei. Allein die Reproduktion auf dem Prachtband Hokusai von Matthi Forrer ist ein Blickfang in jeder Schaufensterauslage. Und was das Cover verspricht, halten die ganz- und doppelseitigen Bilder auf mattem Papier zwischen den großformatigen Buchdeckeln. Wer noch kein Verehrer des japanischen Farbholzschnittes ist, der wird es unweigerlich beim Durchblättern dieses Bandes.

    Matthi Forrer, ein Experte für asiatische Kunst, der unter anderem eine Monografie über Hiroshige verfasst hat und an der Universität Leiden lehrt, führt in sechs Kapiteln durch das faszinierende Lebenswerk Hokusais. Ein besonderes Verdienst des Autors ist es, dass er seine Materie in einen kunst- und kulturgeschichtlichen Kontext stellt, der vom Leser kein spezielles Vorwissen erfordert, um die Entwicklungslinien und Brüche sowie die besondere Leistung Hokusais im Spektrum seiner Zeit zu erkennen. Hokusai war ein schöpferischer Titan, ein Originalgenie und Workaholic, wie das reichhaltige Oeuvre bezeugt, das er bei seinem Tod 1849 hinterließ. Schon in seinem Jugendwerk war er ein Meister des Farbholzschnittes, der die ukiyoe-Tradition in einem expressiven Stil vertrat. Besondere Bedeutung erlangte er als Mittler zwischen asiatischer und europäischer Kunst. Er übernahm in die Darstellungsweise seines Mediums westliche Elemente, etwa die Zentralperspektive mit ungewöhnlichem Fluchtpunkt, und prägte sie dadurch neu. Die Rezeption seiner Werke inspirierte wiederum europäische Künstler in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.

    Hokusai wurde 1760 in Edo geboren und wuchs in einem Vorort auf, der im heutigen Tokyo etwa im Bereich des Edo-Tokyo-Museums und des Sumo-Stadions lag. Dort lebten hochrangige Fürsten, die das kulturelle Zentrum Japans entstehen ließen mit Kabukitheatern und Werkstätten, in denen Porträtgrafiken von populären Schauspielern angefertigt wurden. Diese anspruchsvolle, kaufkräftige Klientel, die daimyo, förderte Ende des siebzehnten Jahrhunderts die Anfänge der Torii-Tradition, einer frühen Form dynamischer Schauspielerbilder, wie sie auch Hokusai später ausführte. Weitere Themen entstammen den ukiyoe, "Bildern der fließend-vergänglichen Welt", in denen neben Theaterfiguren insbesondere schöne Frauen dargestellt wurden, häufig Prostituierte aus den in Edo florierenden Vergnügungsvierteln. Daneben gab es die kibyoshi, Illustrationen zu einer Romangattung mit einfach gestrickter Handlung, wie sie auch Hokusai zeit seines Lebens schuf. Seine Tätigkeit als Holzschneider, gab er 1777/78 auf, um sich ganz der Zeichnung und in seinen späten Lebensjahren auch verstärkt der Malerei zu widmen.

    In Europa wurden seit den 1740er-Jahren von Frankreich aus die sogenannten "Guckkastenbilder" populär, die durch spezielle Apparaturen betrachtet dreidimensional erschienen. Diese Mode schwappte auch nach Japan, wo seit den sechziger Jahren zentralperspektivisch gezeichnete "Schwebebilder", vorwiegend Stadtansichten, in Umlauf kamen. Hokusai gab diesem Genre wesentliche neue Impulse, wie eine Innenansicht des Kiri-Theaters zeigt, in der die Zuschauerränge vom rechten und linken Bildrand zur Bühne in der hinteren Bildmitte führen und eine große Tiefe erzeugen. Für die japanische Bildtradition geradezu kühn ist ein Perspektivbild von der Ryogoku-Brücke mit Feuerwerk, bei dem der Fluchtpunkt in der linken oberen Bildhälfte liegt. Das Blatt aus dem British Museum stammt aus den späten 1780er Jahren. Neben luxuriösen Privatdrucken, beispielsweise aufwendigen vielfarbigen Kalenderblättern,erschienen seit 1795 Illustrationen zu kyoka-Sammlungen, Bänden mit scherzhaften Gedichten. In hoher Auflage erschienen die Hokusai manga, die das zeitgenössische Japan schildern: Menschen bei der Arbeit oder bei Geselligkeiten, buddhistische Gottheiten, Sagengestalten, Flora und Fauna. In mehreren Lehrwerken für Zeichner führte Hokusai vor, wie sich aus Kreisen, Ovalen und Rechtecken komplizierte Figuren entwickeln lassen.

    An Vielseitigkeit ist sein Oeuvre kaum zu überbieten. Fantastische Drachen treiben ihr Unwesen und muskulöse Dämonen mit grobschlächtigen, geradezu karikierten Gesichtern. Es gibt erotische Bilder mit eng umschlungenen Paaren, ekstatischen Frauen, begehrlichen, kraftvollen Männern, die nichts an Deutlichkeit fehlen lassen und geradezu Hymnen an Phallus und Vulva sind. Daneben wunderbare Tier- und Pflanzenbilder, duftig-zart, mit dünnem schwarzem Strich umrissen und flächig angelegt: zum Beispiel zarte Päonien mit einem Schmetterling bei starkem Wind oder ein Hibiskus in voller Blüte, daneben ein Sperling in mattem Braun auf hellblau schimmerndem Grund. Elegante Frauen stehen auf Brücken oder einem Balkon: Oval die blassen Gesichter, die von hochgestecktem Haar umkränzt werden, schlank die Körper, von dünnen Gewändern umspielt, die der Wind leicht bewegt, graziös die Haltung ihrer Hände. In der Reihe Hundert Geistererzählungen schweben Köpfe ohne Körper albtraumhaft durch den Raum. An einigen Blättern ist der Gesamtansicht in Matthi Forrers Band eine Detailaufnahme gegenüber gestellt, so dass man Hokusais Gestaltungsweise gut erkennen kann.

    Während seines wechselhaften Lebens dürfte Hokusais Oeuvre nicht selten unter einem produktiven Leidensdruck entstanden sein. So war er nach dem Tod seiner Frau 1828 im darauffolgenden Jahr gezwungen, Spielschulden seines Enkels zu begleichen und fiel in Armut. Aus dieser Not heraus, sich am eigenen Schopf emporziehend, schuf er zwischen 1830 und 1834 als Hokusai Iitsu alle diejenigen Werke, die ihn weltberühmt machten: 137 Zeichnungen für Drucke mit Ansichten des Fuji; mit Wasserfällen, die sich wie dickes Wurzelwerk über das Blatt schieben oder sich wie gerade Vorhangschnüre über die ganze Blatthöhe ergießen und von kleinen Menschlein ehrfürchtig bestaunt werden; Ansichten der Ryuku-Inseln und von weiten Brücken mit einer fernen, flachen Landschaft im Hintergrund; Bilder zu Dichtungen und Dichtern; Genreszenen mit Fischern; über das Blatt gewehte Reisende, die von einer Windböe überrascht werden; schließlich surreale Motive wie ein schwebender Fisch.

    Ich habe im Alter von dreiundsiebzig die wahre Form von Tieren, Insekten und Fischen und die Natur von Pflanzen und Bäumen erkannt und werde mit neunzig der Essenz der Kunst nahegekommen sein.

    Er hatte dieses Ziel längst erreicht, als er 1849 im Alter von 89 Jahren starb.

    Matthi Forrer: Hokusai, Prestel Verlag, 288 Seiten, 99 Euro