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Javier Cercas: "Der falsche Überlebende"
Das Böse mit Verständnis bekämpfen

Seine Geschichte sorgte in Spanien für einen Riesenskandal: Jahrzehntelang hatte sich Enric Marc als Widerstandskämpfer gegen den europäischen Faschismus inszeniert, erzählte in Hunderten von Vorträgen von seinen Erfahrungen im Konzentrationslager Flossenbürg - alles eine Lüge. Der Autor Javier Cercas hat sich des Stoffes angenommen.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 02.11.2017
    Cover von Javier Cercas "Der falsche Überlebende", im Hintergrund eine Aufnahme von einem Wachturm im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen aus dem Jahr 2017
    Ein Wachturm im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen: Hier waren während der Nazizeit mehr als 9000 Spanier interniert (S. Fischer / imago/Rudolf Gigler / Collage: Deutschlandradio)
    Enric Marco trat jahrzehntelang als Widerstandskämpfer gegen den europäischen Faschismus auf. Seine Biografie hatte Vorbildcharakter: Milizionär im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner, Flucht nach Frankreich, Deportation ins KZ Flossenbürg. Rückkehr nach Spanien und Kampf gegen die Franco-Diktatur. Danach eine Zeitlang Generalsekretär der anarchistischen Gewerkschaft CNT und Vorsitzender der "Amical de Mauthausen". In diesem Verein hatten sich die ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen zusammen getan, wo während der Nazizeit über 9000 Spanier interniert waren. 2001 wurde Enric Marco mit dem "Creu de Sant Jordi"geehrt, der höchsten Auszeichnung Kataloniens. Javier Cercas, Professor für Spanische Literatur an der Universität von Girona:
    "Enric Marco hielt hunderte Vorträge, redete vor Studenten und Schülern über seine Erfahrung im Konzentrationslager Flossenbürg, das in der Nähe von München liegt. Er gab zahllose Interviews, in denen er über diese Erfahrung sprach, den anti-franquistischen Widerstand und andere Dinge. (…) Als im Januar 2005 zum ersten Mal die Opfer des Holocausts im Spanischen Parlament geehrt wurden, sprach dieser Mann im Namen der Holocaustopfer. Alle Anwesenden waren tief berührt. Wenn er über seine Erfahrung im Konzentrationslager sprach, fingen alle an zu weinen. Beinah wäre er der erste Spanier gewesen, der im Konzentrationslager Mauthausen im Namen der internationalen Gemeinschaft geredet hätte in Anwesenheit des spanischen Premierministers, der anlässlich der Gedenkfeiern zur Befreiung des Konzentrationslagers zum ersten Mal nach Mauthausen gereist war, des österreichischen Premierministers. (…) Doch kurz zuvor hatte der Historiker Benito Bermejo enthüllt, dass Marcos Geschichte nicht stimmte und die Wahrheit offenbart: Enric Marco war nie in einem Konzentrationslager. Es war ein Riesenskandal. Mario Vargas Llosa nannte ihn den größten Hochstapler der Geschichte."
    Cercas: "Ich wollte verstehen. Warum macht ein Mann so etwas?"
    Der peruanische Nobelpreisträger hatte Javier Cercas daraufhin bei einem Abendessen in Madrid ermuntert, über Enric Marco zu schreiben. Doch der zögert lang, ehe er das Projekt angeht, sich umfassend dokumentiert und immer wieder mit Enric Marco zu Gesprächen trifft, die sein Sohn Raül aufzeichnet.
    "Ich wollte verstehen. Warum macht ein Mann so etwas? Warum glauben ihm alle? Und warum war ich von dieser Geschichte so beeindruckt ? (…) Verstehen heißt nicht rechtfertigen, sondern genau das Gegenteil. Verstehen heißt, sich das entsprechende Rüstzeug anzueignen, um nicht wieder die gleichen Fehler zu machen. Das ist meines Erachtens die Aufgabe der Literatur, des Romans. Das Böse kann man nur mit Verständnis bekämpfen."
    Wie schon in früheren Romanen beschreibt Javier Cercas die Entstehung des Romans, vor allem die schwierige Ermittlung der Fakten, bei der er sich wie ein rigoroser Staatsanwalt gebärdet, der Enric Marcos Lügengebäude zum Einsturz bringt. Javier Cercas:
    "Die erste Regel dieses Romans lautete: Bloß keine Fiktion, weil Marco schon eine wandelnde Fiktion, beziehungsweise. Lüge ist. Er hat sein Leben komplett erfunden, log nicht nur über seine KZ-Internierung. Daher hielt ich es für sinnlos, eine Fiktion über eine Fiktion zu schreiben. Ich musste in dem Roman einen regelrechten Kampf zwischen Fiktion und Realität führen, zwischen Enric Marcos Lügen und der Wahrheit, die sich dahinter verbarg."
    Der Faktencheck ist ernüchternd: Enric Marco war keineswegs der heroische Widerstandskämpfer, der er vorgab zu sein, sondern ein Mitläufer und Ja – Sager, ein begnadeter Redner und ein hervorragender Schauspieler, der sich nach dem Ende der Franco Diktatur die eingangs zitierte Biografie eines antifaschistischen Widerstandskämpfers zurechtgezimmert hatte. Dass Enric Marco es mit den Fakten nicht so genau nahm und äußerst geschickt Lüge und Wahrheit miteinander vermischte, führt Javier Cercas auf Enric Marcos Geltungsdrang und Liebesbedürfnis zurück. Wie Alonso Quijano in Cervantes weltberühmten Roman "Don Quijote", wie Ema Bovary in Flauberts gleichnamigem Roman hat er sich ein fiktives Leben erfunden.
    "Wir Linke hätten die Vergangenheit so annehmen müssen, wie sie war"
    "Marco ist wie Don Quijote, nein, wie Alonso Quijano, wie Don Quijote eigentlich hieß. Der führte bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr ein unbedeutendes Leben, träumte von heroischen Abenteuern, einem intensiven Leben. Mit fünfzig haut er auf den Tisch und beschließt, die Abenteuer zu leben, von denen er bislang nur geträumt hatte. Er erfindet sich neu als Don Quijote von der Mancha. Der kann ein Held sein, junge Frauen retten, seine Träume verwirklichen. Und genau das macht Enric Marco. Sein Leben war unbedeutend und traurig, er kam in einem Irrenhaus zur Welt, seine Mutter war verrückt (…) Doch als sich Spanien nach der Diktatur neu erfindet, erfindet er sich auch neu (…)wechselt die Stadt, die Frau und den Namen."
    Dass Enric Marco seine Lügen so lang unangefochten verbreiten konnte, führt Javier Cercas auf Spaniens unzureichende Vergangenheitsbewältigung zurück. Die spanische Rechte hat den Franquismus bis heute nicht klar und eindeutig verurteilt. Die Identifizierung der Bürgerkriegsopfer, die in Massengräbern oder in Straßengräben verscharrt wurden, stagniert. Der spanischen Linken wirft Javier Cercas vor:
    "Die Sache mit den Massengräbern hätten wir angehen müssen, als die Linke an der Macht war, mit Staatsgeldern. Doch stattdessen wurde das "Gesetz des historischen Gedenkens", die sogenannte. 'Ley de memoria histórica' geschaffen, das die Rechte, als sie an die Macht kam, wieder abschaffte. (…) Wir, die Enkel der Kriegsgeneration müssten dieses Problem angehen. (…) Doch wir haben nur eine 'Gedenkindustrie' geschaffen und die Vergangenheit missbraucht. (…) Marco ist das beste Beispiel. Wir Linke hätten die Vergangenheit so annehmen müssen, wie sie war, in ihrer ganzen Härte und Komplexität, mit der ganzen Verantwortung. Stattdessen haben wir uns eine Kitschversion der Vergangenheit zugelegt, eine schöne, süße Erzählung. Marco war der König der Medien. Die haben Enric Marco miterschaffen, weil sie ganz erpicht auf seine Erzählungen waren."
    Javier Cercas hat einen packenden, streckenweise etwas zu griffig formulierten Roman über Lüge, Wahrheit, Fiktion und Realität geschrieben, in dem die schillernde Figur des Enric Marco der Zerrspiegel einer Gesellschaft ist, die sich nur halbherzig mit ihrer belastenden Vergangenheit konfrontiert.
    Javier Cercas: "Der falsche Überlebende"
    Fischer Verlag, Frankfurt 2017, 496 Seiten, 24 Euro